Leitsatz (amtlich)
1. Hat das Sozialgericht in einem Verfahren auf Gewährung von Ruhegeld in unzulässiger Weise nur über die Rechtswirksamkeit beanstandeter Beiträge entschieden, dann ist der Kläger als Berufungsbeklagter berechtigt, den beim Sozialgericht noch anhängigen Rentenanspruch mit der Anschlußberufung in die Berufungsinstanz zu bringen.
2. Im sozialgerichtlichen Verfahren sind für die Zulässigkeit der Anschlußberufung kein schriftlicher Berufungsantrag und keine schriftliche Berufungsbegründung erforderlich.
3. In der Entrichtung von Beiträgen freiwillig Versicherter zu einem unrichtigen Versicherungszweig kann keine Bereiterklärung zur Nachentrichtung von Beiträgen zum richtigen Versicherungszweig erblickt werden.
Normenkette
SGG § 202; RVO § 1444 Fassung: 1937-12-21; ZPO § 521; RVO § 1445b Fassung: 1937-12-21; SGG § 143 Fassung: 1953-09-03, § 151 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 522a; SGG §§ 151, 202 Fassung: 1953-09-03, § 143
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. Oktober 1955 und das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 6. April 1955 werden aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Witwe des inzwischen verstorbenen Versicherten, des ursprünglichen Klägers, begehrt das Ruhegeld, das diesem ihrer Meinung nach für die Zeit vom 1. Juni 1952, dem Monat nach der Antragstellung, bis zum 31. August 1956, dem Todesmonat, zugestanden hat.
Der Versicherte wurde 1898 geboren. Für ihn sind von 1914 bis 1925 273 Wochenbeiträge zur Invalidenversicherung (JV.) und von November 1949 bis Dezember 1950 14 Monatsbeiträge zur Angestelltenversicherung (AV.) entrichtet worden. Er hat außerdem zu diesem Versicherungszweig freiwillig 6 Monatsbeiträge für 1949 geleistet. Im März 1951 wurde er berufsunfähig und invalide und beantragte im Mai 1952 die Gewährung des Ruhegelds. Die Landesversicherungsanstalt (LVA.) Rheinprovinz, die damals die Aufgaben der AV. für ihren Bezirk mit wahrnahm, lehnte den Antrag ab: Der Versicherte sei nicht berechtigt gewesen, für 1949 freiwillig Beiträge zur AV. zu entrichten. Es hätten weder die Voraussetzungen der Weiterversicherung noch der Selbstversicherung vorgelegen. Freiwillig zur AV. entrichtete Beiträge dürften auch nicht zur JV. umgebucht werden. Mit nur 2 statt 6 Beitragsmonaten für 1949 sei die Anwartschaft aus den früheren JV.-Beiträgen erloschen. Die anrechnungsfähigen 14 Pflichtbeiträge zur AV. erfüllten allein die Wartezeit nicht (Bescheid vom 23. Januar 1953).
Der Versicherte beantragte im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG.) Düsseldorf, den Ablehnungsbescheid aufzuheben und die Beklagte, die inzwischen an die Stelle der LVA. Rheinprovinz getreten war, zu verurteilen, ihm das Ruhegeld zu gewähren. Das SG. trennte von Amts wegen das Verfahren in ein Leistungs- und ein Feststellungsverfahren. Das Leistungsverfahren vertagte es auf unbestimmte Zeit; im Feststellungsverfahren entschied es, daß die umstrittenen 6 AV.-Beiträge rechtswirksam für 1949 entrichtet seien (Urteil vom 6.4.1955). Gegen dieses Urteil legte die Beklagte Berufung und der Versicherte durch Schriftsatz vom 5. Oktober 1955 - unselbständige - Anschlußberufung ein. Dieser Schriftsatz enthielt weder einen Antrag noch eine Begründung der Anschlußberufung. In der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen beantragte der Versicherte, ihm Ruhegeld vom 1. Juni 1952 an zuzusprechen. Das LSG. wies die Berufung der Beklagten zurück. Auf die Anschlußberufung hin verurteilte es die Beklagte entsprechend dem Antrag des Versicherten. Es führte zur Begründung aus: Die unselbständige Anschlußberufung sei auch im sozialgerichtlichen Verfahren zulässig. Die Vorinstanz hätte über den entscheidungsreifen Anspruch des Versicherten auf Gewährung von Ruhegeld befinden müssen. Sie hätte das Verfahren nicht in dieser Weise trennen und eine Voraussetzung des Rentenanspruchs verselbständigen dürfen. Dadurch sei der Versicherte beschwert. Sein Ruhegeldanspruch sei auch begründet. Der Versicherte sei zwar nicht in der AV., jedoch in der JV. berechtigt gewesen, sich freiwillig zu versichern (§ 1244 RVO a. F.). Er habe daher seine Beiträge nur zu einem unrichtigen Versicherungszweig entrichtet. Solche Beiträge dürften nicht beanstandet werden, wenn ihre Nachentrichtung zu dem richtigen Versicherungszweig unzulässig sei (§ 190 AVG a. F., § 1445 b RVO a. F.). Dies sei hier der Fall. Zur Zeit der Beanstandung der AV.-Beiträge im Jahre 1953 hätten keine Beiträge zur JV. mehr nachentrichtet werden dürfen (§ 190 AVG a. F., §§ 1442, 1443 RVO a. F.). § 1445 b RVO a. F. gelte nicht nur, wie die Beklagte annehme, für Pflichtbeiträge, sondern auch für fehlentrichtete Beiträge freiwillig Versicherter. Die zur AV. entrichteten 6 Monatsbeiträge für 1949 seien rechtswirksam. Damit sei die Versicherung geordnet (Urteil vom 26. Oktober 1955).
Das LSG. ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 14. Dezember 1955 zugestellte Urteil am 31. Dezember 1955 Revision ein und begründete sie - nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 14. März 1956 - am 9. März 1956. Sie beantragte, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Versicherte ist im August 1956 gestorben. Seine Witwe erhebt Anspruch auf das Ruhegeld bis zum Todesmonat hin. Sie ließ sich im Verfahren nicht vertreten. Die Beklagte beantragte, das Verfahren fortzusetzen.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Der Versicherte hat mit seiner Ehefrau zur Zeit seines Todes in häuslicher Gemeinschaft gelebt. Die Witwe ist deshalb Rechtsnachfolgerin im Rentenverfahren (§§ 41 AVG a. F., 1292 RVO a. F.).
Das LSG. hat mit Recht die unselbständige Anschlußberufung des Versicherten für zulässig erachtet. Das Sozialgerichtsgesetz (SGG) enthält zwar keine Vorschriften über den Anschluß an die Berufung des Gegners. Insoweit ist jedoch die Vorschrift der Zivilprozeßordnung (ZPO), nach der sich der Berufungsbeklagte der Berufung anschließen kann, selbst wenn die Berufungsfrist verstrichen ist, entsprechend anwendbar (§§ 202 SGG, 521 Abs. 1 ZPO; BSG. 2/229). Das SG. hat nur entschieden, daß die umstrittenen 6 AV.-Beiträge rechtswirksam für 1949 entrichtet seien. Trotzdem war der Versicherte berechtigt, den Anspruch auf Gewährung von Rente mit der Anschlußberufung vor das Berufungsgericht zu bringen. Die Anschlußberufung ist kein Rechtsmittel, sondern ein die Grenzen der neuen Verhandlung bestimmender Antrag des Berufungsbeklagten innerhalb der Berufung des Gegners (BSG. a. a. O.). Sie ist ihrer Rechtsnatur nach nicht auf Ansprüche beschränkt, über die bereits das Gericht 1. Instanz entschieden hat. Das SG. war zudem nicht befugt, aus dem Leistungsverfahren über die Gewährung einer Rente ein vom Versicherten nicht beantragtes Feststellungsverfahren über die Wirksamkeit umstrittener Beiträge abzutrennen, nur insoweit zu entscheiden und die Entscheidung über den Rentenanspruch auf unbestimmte Zeit zu vertagen (§ 123 SGG). Es hätte über die Wirksamkeit der 6 AV.-Beiträge - nur eine Voraussetzung für die Erfüllung der Wartezeit und damit für das Bestehen des Rentenanspruchs - im Leistungsverfahren mit entscheiden müssen.
In einem solchen Fall muß es dem Versicherten schon aus Gründen des Rechtsschutzes und der Prozeßwirtschaftlichkeit möglich sein, durch Anschlußberufung eine Entscheidung des vom Gegner angerufenen Berufungsgerichts über den geltend gemachten Anspruch herbeizuführen (vgl. RGZ. 171/131; BGH. in NJW. 1954 S. 640 - mit ablehnender Anmerkung von Lent - und Stein-Jonas, ZPO Komm., 18. Aufl. § 529 Anm. IV 2 d).
Demgegenüber sind Zweifel wegen der Rechtshängigkeit nicht begründet, weil es sich hier um zwei Instanzen desselben Rechtszugs handelt (vgl. BGH. und Stein-Jonas a. a. O.). Ob die Bedenken von Lent, eine Partei könne dem Gericht, bei dem der Prozeß noch teilweise anhängig sei, nicht durch Anschlußberufung die Entscheidungsbefugnis nehmen, richtig sind, kann hier dahingestellt bleiben. Im vorliegenden Fall hat das SG. mit der Feststellung, die 6 AV.-Beiträge seien rechtswirksam für 1949 entrichtet, zwar nicht formell, wohl aber materiell den gesamten Rechtsstreit entschieden, weil die Gewährung der Rente allein von der Wirksamkeit dieser Beiträge abhängt. Dem SG. ist daher durch die Anschlußberufung die Entscheidungsbefugnis, die hier nicht nur formal gesehen werden darf, nicht genommen worden (vgl. Lent a. a. O.). Der Versicherte hat die Anschlußberufung auch ordnungsgemäß eingelegt. Im sozialgerichtlichen Verfahren sind - im Gegensatz zum Zivilprozeß (§ 519 ZPO) - für die Berufung ein schriftlicher Antrag und eine schriftliche Begründung nicht zwingend vorgeschrieben (§ 151 Abs. 3 SGG). Dies muß auch für die unselbständige Anschlußberufung gelten, an deren Formerfordernisse keine strengeren Anforderungen gestellt werden dürfen als an die der Berufung selbst. Die Vorschrift der ZPO, daß die Anschlußberufung schriftlich zu begründen ist und der Begründungsschriftsatz den Antrag enthalten muß (§ 522 a ZPO), ist daher im sozialgerichtlichen Verfahren nicht entsprechend anwendbar; insoweit bestehen zwischen beiden Verfahrensarten grundsätzliche Unterschiede (§ 202 SGG; vgl. auch BSG. a. a. O.). Das LSG. hat deshalb auf die Anschlußberufung hin mit Recht den vom Versicherten gestellten Antrag auf Gewährung von Rente insgesamt beurteilt.
Dieser Antrag ist aber - im Gegensatz zur Auffassung des LSG. - in der Sache selbst unbegründet. Er ist vom Versicherungsträger nach dem früheren Anwartschaftsrecht abgelehnt worden. Dieses Anwartschaftsrecht ist zwar nach dem Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) vom 23. Februar 1957 für alle Versicherungsfälle, die nach dem 31. März 1945 eingetreten sind, weggefallen und diese Vergünstigung ist grundsätzlich auch in schwebenden Verfahren anzuwenden (Art. 2 §§ 43, 6, 8; Art. 1 § 26 AnVNG); jedoch kann eine Rente, auf die ein Anspruch erst durch das Neuregelungsgesetz begründet wird, frühestens mit dem Inkrafttreten des Gesetzes, also mit dem 1. Januar 1957, beginnen (Art. 2 § 24; Art. 3 § 7 AnVNG). Der Versicherte ist bereits im August 1956 gestorben, so daß nur Leistungen für Zeiten vor dem Inkrafttreten des Neuregelungsgesetzes streitig sind. Der Anspruch auf solche Leistungen regelt sich nach dem zur Zeit des Versicherungsfalls - 1951 - geltenden Recht. Nach diesem besteht im vorliegenden Fall nur dann ein Anspruch auf Ruhegeld, wenn die freiwillig entrichteten AV.-Beiträge für 1949 rechtswirksam sind und dadurch die Anwartschaft aus den früheren JV.-Beiträgen erhalten ist. Diese strittigen Beiträge sind aber zu Recht beanstandet worden. Der Versicherte war nicht berechtigt, sich für 1949 freiwillig in der AV. zu versichern. Er hatte das 40. Lebensjahr bereits vollendet und war deshalb von der Selbstversicherung ausgeschlossen (§ 21 AVG a. F., § 1243 RVO a. F.). Zur Weiterversicherung in der AV. fehlte ihm die erforderliche Vorversicherungszeit in diesem Versicherungszweig, weil er zuvor nur der JV. angehört hatte (§ 21 AVG a. F., § 1244 RVO a. F.). Die Frist zur Beanstandung von Beiträgen zur AV., die von der Aufrechnung der Versicherungskarte an 10 Jahre beträgt (§ 190 AVG a. F., § 1445 Abs. 3 RVO a. F.), war im Januar 1953 noch nicht abgelaufen. Die Sonderfrist des § 1445 b RVO a. F. (§ 190 AVG a. F.), die nur fehlentrichtete Beiträge betrifft und sich danach richtet, ob eine Nachentrichtung der Beiträge zum richtigen Versicherungszweig noch statthaft ist, kommt nicht zum Zuge. Das Bundessozialgericht (BSG.) hat bereits früher grundsätzlich entschieden, daß diese Frist nur für Pflichtbeiträge gilt, nicht auch für Beiträge freiwillig Versicherter. Das BSG. hat dies aus einer Gesamtbetrachtung von Wortlaut, Sinn und Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift geschlossen (vgl. "Sozialrecht" zu § 1445 b RVO, A a 1). Diese Rechtsprechung hält der Senat auch nach erneuter Prüfung aufrecht.
Die rechtliche Behandlung der zu einem unrichtigen Versicherungszweig entrichteten Beiträge ist in § 1445 b RVO a. F. abschließend geregelt. In der Entrichtung von Beiträgen zu einem unrichtigen Versicherungszweig kann daher keine Bereiterklärung zur Entrichtung von Beiträgen zum richtigen Versicherungszweig nach § 1444 RVO a. F. erblickt werden. Sonst ständen die fehlentrichteten Beiträge letztlich stets den ordnungsgemäß entrichteten gleich. Dies widerspräche nicht nur dem Gesetz, sondern auch der Eigenverantwortlichkeit des freiwillig Versicherten für seine Versicherung, insbesondere für die Wahl des richtigen Versicherungszweigs.
Durch das sozialgerichtliche Verfahren kann nur der versicherungsrechtliche Anspruch des Versicherten und seiner Witwe geklärt werden. Etwaige anderweitige Ansprüche, wie sie das LSG. angedeutet hat, können nicht Gegenstand dieses Verfahrens sein.
Der Ablehnungsbescheid des Versicherungsträgers ist im Ergebnis richtig. Die Urteile der Vorinstanzen waren aufzuheben und die Klage abzuweisen (§ 170 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen