Leitsatz (amtlich)

Zum Begriff der Hilflosigkeit im Sinne des RVO § 558c Abs 1 aF (im wesentlichen Anschluß an RVA, AN 1928, 222; vgl BSG 1958-08-28 8 RV 301/55 = BSGE 8, 97 und BSG 1960-02-23 10 RV 1371/58 = BSGE 12, 20 zu BVG § 35).

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Begriff der Hilflosigkeit ist in der Unfallversicherung der gleiche wie in der Kriegsopferversorgung. Der Beschädigte kann nur dann als hilflos angesehen werden, wenn er in regelmäßiger Wiederkehr - wenn auch nicht notwendigerweise an jedem Tage - für zahlreiche Verrichtungen des täglichen Lebens der Hilfe anderer bedarf.

 

Normenkette

RVO § 558c Abs. 1 Fassung: 1925-07-14

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. Dezember 1961 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die im Jahre 1899 geborene Klägerin war bis Ende 1945 beim Kreisgesundheitsamt Pinneberg als Gesundheitspflegerin tätig. Anfang 1946 erkrankte sie an Typhus abdominalis. Auf Grund rechtskräftigen Urteils des Landessozialgerichts (LSG) Schleswig vom 1. Oktober 1954 steht fest, daß sie sich die Infektion durch ihre berufliche Beschäftigung beim Kreisgesundheitsamt zugezogen hat. Das beklagte Land gewährte ihr deswegen eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 v. H.; daneben bezieht die Klägerin eine Invalidenrente wegen Berufsunfähigkeit. Als Folgen der Berufskrankheit nach Nr. 39 der Anlage zur 5. Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) sind festgestellt: rechtsseitige Hüftgelenksversteifung, Arthrosis deformans des rechten Kniegelenks, vermehrte Spreizfußbildung und Spitzfußkontraktur rechts sowie postthrombotische Schwellungsneigung des linken Beines.

Mit Schreiben vom 18. Mai 1960 beantragte die Klägerin eine Pflegezulage, weil sie beim An- und Ausziehen einer Hilfe bedürfe. Der Beklagte holte von der Orthopädischen Abteilung der Chirurgischen Universitätsklinik in Kiel ein Gutachten darüber ein, ob sich die anerkannten Folgen der Berufskrankheit verschlimmert hätten und ob Pflegebedürftigkeit bestehe. In dem Gutachten von Prof. Dr. R und Dr. H werden die gestellten Fragen verneint. Zur Frage der Pflegebedürftigkeit ist ausgeführt: Infolge der Fixation der rechten Hüfte und der Beugehemmung im rechten Kniegelenk könne die Klägerin nicht mit den Händen den rechten. Fuß erreichen und müsse deswegen beim An- und Ausziehen des rechten Schuhes und Strumpfes unterstützt werden. An den übrigen Körperteilen könne sie den Kleidungswechsel, wenn auch mit gewissen Schwierigkeiten, selbst vornehmen.

Gestützt auf dieses Gutachten lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 26. August 1960 die Gewährung eines Pflegegeldes ab.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Schleswig nach Vernehmung des Sachverständigen Dr. Hü durch Urteil vom 1. März 1961 den angefochtenen Bescheid aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin vom 18. Mai 1960 an eine monatliche Pflegezulage von 100.- DM zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Klägerin bedürfe für bestimmte Verrichtungen, nämlich für das Anziehen der Unterwäsche, des Strumpfes und des Schuhes rechts und für die Pflege des rechten Fußes an jedem Tage der Hilfe einer anderen Person. Ohne diese Hilfe könne sie nicht bestehen, da sie nicht nur teilweise bekleidet sein könne. Die Voraussetzungen des § 558 c der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien daher gegeben.

Auf die Berufung des Beklagten hat das Schleswig-Holsteinische LSG nach erneuter Beweiserhebung durch Urteil vom 11. Dezember 1961 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat seiner Begründung folgende rechtliche Erwägungen vorangestellt: Hilflos im Sinne des § 558 c RVO sei - ebenso wie im Sinne des § 35 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) - derjenige, der für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden - jedoch nicht nur für einzelne - Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder in erheblichem Umfange fremder Hilfe bedürfe; daß diese Hilfe tatsächlich fortwährend geleistet werde, sei nicht erforderlich; es genüge, daß die Hilfskraft ständig in Bereitschaft sein müsse. Von Bedeutung seien dabei nur die Verrichtungen, die für die körperliche Existenz, d. h. für die Pflege der Person, notwendig seien. Zu diesen Verrichtungen gehörten insbesondere das An- und Auskleiden, Essen und Trinken, das Waschen, die Verrichtung der Notdurft, die notwendige körperliche Bewegung und die geistige Erholung. Außer Betracht zu bleiben hätten Verrichtungen, die mit der Wartung und Pflege der Person nicht unmittelbar zusammenhingen. - In tatsächlicher Hinsicht hat das LSG festgestellt: Die Klägerin sei nicht in der Lage, den rechten Strumpf und den Schlüpfer allein an- und auszuziehen; hierzu benötige sie morgens und abends - gegebenenfalls auch mittags - eine Hilfe. Das An- und Ausziehen des rechten Schuhes stoße auf keine Schwierigkeiten, wenn sie einen Schlupfschuh trage. Sie könne sich selbst waschen und kämmen; dem rechten Fuß könne sie allerdings nicht die erforderliche Pflege angedeihen lassen. Sie könne sich in ihrer Wohnung und auch auf der Straße allein frei bewegen. Die für ihren Lebensbedarf erforderlichen Einkäufe könne sie selbst tätigen und ihr Essen selbst zubereiten. Sie sei auch in der Lage, die Toilette ohne fremde Hilfe aufzusuchen. - In Anwendung der eingangs angeführten Rechtsgrundsätze auf den festgestellten Sachverhalt hat das LSG ausgeführt: Die sich bei der Bewirtschaftung des Haushalts für die Klägerin ergebenden Schwierigkeiten, zB die Unmöglichkeit, zusammengekehrten Staub aufzunehmen, müßten unberücksichtigt bleiben, weil die Bewirtschaftung des eigenen häuslichen Bereichs nur insoweit zu den notwendigen Verrichtungen gehöre, als sie der Pflege und Wartung der Person des Versicherten allein und unmittelbar diene; dies sei bei der Instandhaltung und Reinigung der Wohnung allgemein nicht der Fall. Bei der Beurteilung, ob die Klägerin hilflos im Sinne des § 558 c RVO sei, könne also nur berücksichtigt werden, daß sie beim An- und Ausziehen des rechten Strumpfes und des Schlüpfers behindert sei und hierzu fremder Hilfe bedürfe, dies jedoch nur etwa viermal am Tage. Eine ständige Bereitschaft der Hilfskraft sei nicht erforderlich. Bei den Verrichtungen, die eine Hilfskraft erforderten, handele es sich lediglich um einzelne, nicht aber um "die" gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens. Hilflosigkeit liege daher bei der Klägerin nicht vor.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist der Klägerin am 2. Juni 1962 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 28. Juni 1962 Revision eingelegt und das Rechtsmittel mit Schriftsatz vom 25. Juli 1962, beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen am 27. Juli 1962, begründet.

Die Revision führt aus: Das LSG hätte bei richtiger Auslegung der Begriffe der Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit die Voraussetzungen des § 558 c RVO als erfüllt ansehen müssen. Pflegebedürftigkeit sei schon anzunehmen, wenn es sich bei den Verrichtungen, die der Versicherte nicht ohne fremde Hilfe ausführen könne, um solche handele, die häufig und regelmäßig wiederkehrten, und wenn für Wartung und Pflege eine fremde Person in so erheblichem Maße in Anspruch genommen werden müsse, daß deren Hilfe und Hilfsbereitschaft einen wirtschaftlich meßbaren Wert hätten, der durch die Rente nicht als mit abgegolten angesehen werden könne. Der Verletzte müsse zB in der Lage sein, notfalls auch selbst Essen zu beschaffen, einzukaufen und ohne persönliche Gefährdung seines Lebens ein Kino, ein Theater oder irgend eine Geselligkeit zu besuchen. Die Beschränkung der "gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens" auf Vorgänge, die kaum über denen des tierischen Lebens lägen, würdige den Menschen als Persönlichkeit so herab, daß dies dem Sinn und Zweck der Versorgung widersprechen würde.

Die Klägerin beantragt,

in Abänderung des angefochtenen Urteils die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Schleswig vom 1. März 1961 zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.

II

Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig. Das Rechtsmittel hatte jedoch keinen Erfolg.

Das LSG hat den Begriff der Hilflosigkeit im Sinne des § 558 c Abs. 1 RVO aF zutreffend ausgelegt. Nach dieser Vorschrift ist Pflege zu gewähren, solange der Verletzte infolge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit "so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann". Der Anspruch auf Pflege ist also nicht schon bei jedweder geringfügigen Hilflosigkeit, sondern nur bei einem bestimmten Grade dieses Zustandes gegeben. Mit der Abgrenzung des Anspruchs auf Pflege, der durch das Zweite Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 14. Juli 1925 (RGBl I 97) geschaffen worden ist, hat sich das Reichsversicherungsamt in seiner grundsätzlichen Entscheidung Nr. 3301 (AN 1928, 222) befaßt; darin hat es unter Anlehnung an die Rechtsprechung des Reichsversorgungsgerichts (vgl. RVG Bd. 6, 43) zu § 31 des Reichsversorgungsgesetzes (RVG) - diese Vorschrift hat als Vorbild für § 558 c RVO gedient - einen Verletzten als hilflos im Sinne des § 558 c Abs. 1 RVO bezeichnet, "wenn er in regelmäßiger Wiederkehr - wenn auch nicht notwendigerweise an jedem Tage - für zahlreiche Verrichtungen des täglichen Lebens der Hilfe anderer bedarf". Nachdem an die Stelle des § 31 RVG der mit § 558 c RVO aF in den Anspruchsvoraussetzungen wörtlich übereinstimmende § 35 BVG getreten ist, hat das BSG hierzu in zahlreichen Entscheidungen (vgl. insbesondere BSG 8, 97 und 12, 20) folgende Grundsätze in Fortführung und Weiterentwicklung der Rechtsprechung des Reichsversorgungsgerichts herausgestellt Hilflos im Sinne des § 35 BVG ist derjenige Beschädigte, der für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden - nicht nur für einzelne, sondern für zahlreiche - Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf; dabei ist es nicht erforderlich, daß die Hilfe tatsächlich fortwährend geleistet wird, es genügt schon, daß die Hilfskraft ständig in Bereitschaft sein muß. - Der Begriff der zahlreichen Verrichtungen wird nicht eng ausgelegt; es genügt, wenn es sich um eine Reihe von Verrichtungen handelt, die häufig und regelmäßig wiederkehren, und wenn für Wartung und Pflege des Beschädigten eine fremde Person in so erheblichem Maße in Anspruch genommen werden muß, daß deren Hilfe oder Hilfsbereitschaft einen wirtschaftlich meßbaren Wert hat, der durch die Rente nicht als mit abgegolten angesehen werden kann. Dabei kommt es allein auf den Leidenszustand des Beschädigten infolge der Schädigung und die hierdurch bedingte persönliche Wartung und Pflege an (An- und Auskleiden, Essen und Trinken, Waschen, Verrichten der Notdurft, die notwendige und mögliche körperliche Bewegung, geistige Erholung usw.), während diejenigen Verrichtungen außer Betracht zu bleiben haben, die mit der Pflege und Wartung seiner Person nicht unmittelbar zusammenhängen, wie zB die Bewirtschaftung des Haushalts.

Nach der Auffassung des erkennenden Senats erfordern die angeführten Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung und des Versorgungsrechts mit Rücksicht auf ihren gemeinsamen Ursprung, die Gleichheit des Gesetzeswortlauts und die gleiche Zielsetzung auch die gleiche Auslegung. Der Senat sieht keine Veranlassung, von den Grundsätzen aus der Rechtsprechung des Versorgungsrechts, die im übrigen auch von der Revision in ihrem Kern nicht bemängelt werden, abzuweichen.

Bei Anwendung dieser Grundsätze hat das LSG der Klägerin mit Recht einen Anspruch auf Pflege versagt. Sie benötigt zu ihrer Wartung und Pflege fremde Hilfe nur beim An- und Ausziehen zweier Kleiderstücke - des Schlüpfers und des rechten Strumpfes - und bei der Pflege des rechten Fußes. Diese Verrichtungen sind so geringfügiger Art, daß sie einen wirtschaftlichen Wert, der durch die Rente nicht als mit abgegolten angesehen werden könnte, nicht darstellen. In ähnlich liegenden Fällen haben auch die Senate für Kriegsopferversorgung des BSG Hilfslosigkeit im Sinne des § 35 BVG verneint. So hat beispielsweise der 8. Senat im Falle einer Versteifung des linken Knie- und Hüftgelenks, wobei der Beschädigte beim Waschen des versteiften Beines, bei dessen Fußpflege, beim Baden und beim An- und Auskleiden auf fremde Hilfe angewiesen war, die Voraussetzungen der Hilflosigkeit nicht als gegeben angesehen (BSG - 8 RV 73/59 - vom 17. März 1960, SozEntsch VII BVG § 35 Nr. 9 - BSG IX/3; vgl. ferner BSG - 8 RV 1019/57 - vom 29. Oktober 1959, SozEntsch. VII BVG § 35 Nr. 7 - BSG IX/3, wo ausgeführt ist, daß allein durch die Notwendigkeit von Hilfe beim An- und Auskleiden Hilflosigkeit nicht begründet werde; BSG 12, 20). Das LSG Niedersachsen hat zwar bei einem 78-Jährigen mit Bewegungseinschränkung des Hüftgelenks Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG angenommen (Breith. 1961, 61); der Sachverhalt unterscheidet sich aber insofern wesentlich von dem vorliegenden, als dort der Beschädigte - abgesehen von seinem höheren Alter - nicht in der Lage war, sich notfalls selbst Essen zu beschaffen, einzukaufen und sich sonstwie außerhalb seiner Wohnung ohne erhebliche Gefährdung seines Lebens zu bewegen.

Wegen der eindeutigen Geringfügigkeit der von der Klägerin benötigten Hilfeleistungen sah sich der Senat nicht veranlaßt, die vom LSG in der Begründung für die Zulassung der Revision aufgeworfene Frage zu entscheiden, wann bei einer Vielzahl von Einzelverrichtungen, für die eine fremde Hilfe erforderlich ist, die Grenze zur Hilflosigkeit überschritten wird.

Hiernach war die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 Abs. 1 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 66

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