Orientierungssatz
Bei Mitwirkung einer dem rein persönlichen Lebensbereich des Versicherten zugehörenden und daher unfallversicherungsrechtlich nicht erheblichen inneren Ursache für das Schadensereignis ist ein Arbeitsunfall anzunehmen, wenn der Verletzte der Gefahr, der er erlegen ist, infolge der durch die Betriebsbeschäftigung bedingten Anwesenheit auf der Unfallstelle ausgesetzt war und ihm der Unfall ohne die vorangegangene versicherte Tätigkeit in derselben Art und Schwere wahrscheinlich nicht zugestoßen wäre. Zwischen der Beschaffenheit der Unfallstelle und der Verletzung sowie deren Schwere muß also ein rechtlich erheblicher wesentlicher Zusammenhang bestehen, wenn die Voraussetzungen für die Annahme eines Arbeitsunfalls gegeben sein sollen. Ob ein solcher Ursachenzusammenhang gegeben ist, dh, ob in der Mitwirkung der Beschaffenheit der Unfallstelle an der Herbeiführung der Gesundheitsschädigung eine rechtlich wesentliche Mitursache für den Unfall zu erblicken ist, hängt von den Umständen des einzelnen Falles ab.
Normenkette
RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. September 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat den Klägern die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Kläger sind die Hinterbliebenen des am 11. November 1960 gestorbenen Klavierbauers Bruno P (P.). Sie sind der Ansicht, daß ihr Ehemann und Vater einem Arbeitsunfall erlegen ist.
P., der in einer Piano- und Flügelfabrik in Bayreuth beschäftigt war, suchte am 11. November 1960 während der Arbeitszeit die Fabriktoilette auf. Da er ungewöhnlich lange ausblieb, ging man ihm nach und fand ihn in dem von innen verschlossenen Abortraum erstickt auf. Er war infolge eines epileptischen Anfalls zu Boden gefallen. Dabei hatte sich sein Körper in dem engen Raum so eingezwängt, daß der Kopf gegen die Brust gepreßt und die Atemluft abgedrückt wurde.
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 29. Mai 1961 die Entschädigungsansprüche mit der Begründung ab, der epileptische Anfall P.'s habe zu dem tödlichen Geschehen geführt, ohne daß dabei eine betriebseigentümliche Gefahr wesentlich mitgewirkt habe.
Auf die Klage hiergegen hat das Sozialgericht (SG) Bayreuth nach Beweiserhebung die Beklagte verurteilt, den Klägern die Hinterbliebenenentschädigung zu gewähren. Es ist der Ansicht, P. sei in der Fabriktoilette, einer Betriebseinrichtung, aus innerer Ursache hingefallen; die tödliche Folge dieses Sturzes sei wesentlich auf die besondere räumliche Beschaffenheit der Abortanlage zurückzuführen.
Die Berufung der Beklagten gegen diese Entscheidung ist durch Urteil des Landessozialgerichts (LSG) vom 27. September 1963 zurückgewiesen worden. Zur Begründung ist im wesentlichen folgendes ausgeführt: Betriebsaborte seien notwendige Betriebseinrichtungen. Die Fabriktoilette, die dem P. anläßlich seines epileptischen Anfalls zum Verhängnis geworden sei, weise gegenüber anderen gleichartigen Abortanlagen die räumliche Besonderheit auf, daß der Abstand des holzverkleideten Sitzes zur gegenüberliegenden Wand nur 45 cm betrage. Dies habe bewirkt, daß P., der aus innerer Ursache ohnmächtig umgefallen sei, zwischen dem Abortsitz und der Wand mit dem ganzen Oberkörper eingeklemmt worden sei und sich auch nicht in der ganzen Länge seines Körpers habe ausstrecken können. So sei es gekommen, daß der Kopf gegen die Brust gedrückt und die Atmung bis zum Ersticken unterbunden worden sei. Bei diesem Vorgang hätten betriebliche Umstände als rechtlich wesentliche Ursache den Tod P.'s mit herbeigeführt.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Beklagten am 31. Januar 1964 zugestellt worden. Die Beklagte hat hiergegen am 20. Februar 1964 Revision eingelegt und sie am 6. März 1964 wie folgt begründet: Das Aufsuchen des Fabrikaborts dürfe nicht einer betrieblichen Tätigkeit gleicherachtet werden. Ausschlaggebend sei, daß die Verrichtung der Notdurft der privaten Lebenssphäre des Versicherten zuzurechnen sei. Es fehle daher an einer betrieblichen Beziehung zwischen dem Sturz und der Beschaffenheit der Abortanlage. Dieser Beziehung ermangele es auch deshalb, weil P. aus innerer Ursache hingefallen und, was das LSG verkannt habe, die Abortanlage genügend freien Platz geboten habe, auf dem sich ein erwachsener Mensch hätte bewegen können. Die Einrichtung dieses Abortes habe keine größeren Gefahrenquellen aufgewiesen als die in der Wohnung P.'s befindliche Toilette. Es sei einem reinen Zufall zuzuschreiben, daß der Sturz auf dem Betriebsabort zum Erstickungstod P.'s geführt habe.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen. Sie berufen sich im wesentlichen auf die Begründung des angefochtenen Urteils.
II
Die Revision ist zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Die Auffassung des LSG, P. sei einem Unfall erlegen, der seiner versicherten Beschäftigung zugerechnet werden müsse, ist frei von Rechtsirrtum. Sie beruht in tatsächlicher Beziehung auf der Feststellung, daß P. während seiner Arbeitszeit in dem Unfallunternehmen die Betriebstoilette zur Notdurftverrichtung aufgesucht hat, im Abortraum infolge eines epileptischen Anfalls ohnmächtig vornüber gestürzt und durch die Beschaffenheit des Raumes in eine Körperlage geraten ist, die zum Ersticken geführt hat. Soweit sich die Revision hiergegen mit dem Vorbringen wendet, das LSG habe unter Verstoß gegen § 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) angenommen, daß zwischen dem Aufenthalt P.'s auf der Betriebsstätte und dem tödlichen Verlauf des epileptischen Anfalls ein ursächlicher Zusammenhang bestehe, richtet sich ihr Angriff erkennbar nicht gegen das Zustandekommen der angeführten tatsächlichen Feststellungen, sondern gegen die Bewertung betriebsbedingter Umstände als rechtlich wesentliche Ursache für das Eintreten des Erstickungstodes. Die Feststellungen des LSG über die räumliche Beschaffenheit des Unfallaborts, insbesondere seine Größe und Raumgestaltung, sind jedenfalls unangegriffen geblieben. Der erkennende Senat ist daher bei seiner sachlich-rechtlichen Entscheidung an diese Feststellungen gebunden (§ 163 SGG).
Die Entscheidung über die Entschädigungsansprüche der Kläger hängt zunächst davon ab, ob P. auch unter Versicherungsschutz nach § 542 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF gestanden hat, als er sich auf der Fabriktoilette aufhielt. Diese Frage ist in Übereinstimmung mit dem LSG zu bejahen. Entgegen der Ansicht der Revision kommt es hierbei nicht darauf an, daß die Verrichtung der Notdurft grundsätzlich der privaten Lebenssphäre des Versicherten zuzurechnen ist. Entscheidend ist vielmehr, daß der Aufenthalt in dem zur Betriebsstätte gehörenden Abortraum im Interesse der Fortsetzung der Betriebsarbeit nötig war, so daß durch das Aufsuchen der Toilette der innere Zusammenhang mit der unter Versicherungsschutz stehenden Tätigkeit nicht gelöst worden ist (vgl. BSG 16, 73, 76; SozR Nr. 45 zu RVO § 543 aF; Bayer. LSG in BG 1955, 390 und Hess. LSG in BG 1955, 262). Dies ist hier der Fall.
Da P. bei seinem Aufenthalt in dem Abortraum infolge eines epileptischen Anfalls hingefallen ist, hat die Beklagte Entschädigung aus Anlaß dieses Unfalls nur zu leisten, wenn zwischen dem Schadensereignis und der versicherten Beschäftigung P.'s im Unternehmen ein rechtlich wesentlicher ursächlicher Zusammenhang besteht. Das LSG hat diesen für die Annahme eines Arbeitsunfalls erforderlichen Zusammenhang im Einklang mit den in der Rechtsprechung bei Unfällen aus innerer Ursache entwickelten und vom erkennenden Senat bereits gebilligten Grundsätzen ohne Rechtsirrtum bejaht (vgl. EuM 33, 15; LSG Niedersachsen in BG 1954, 84, 85; LSG Hamburg in Breith. 1958, 720; Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., S. 77 a, Anm. 4 a zu § 543 RVO und 3. Aufl., S. 261, Anm. 7 zu § 550 RVO). Nach diesen Grundsätzen ist bei Mitwirkung einer dem rein persönlichen Lebensbereich des Versicherten zugehörenden und daher unfallversicherungsrechtlich nicht erheblichen inneren Ursache für das Schadensereignis ein Arbeitsunfall anzunehmen, wenn der Verletzte der Gefahr, der er erlegen ist, infolge der durch die Betriebsbeschäftigung bedingten Anwesenheit auf der Unfallstelle ausgesetzt war und ihm der Unfall ohne die vorangegangene versicherte Tätigkeit in derselben Art und Schwere wahrscheinlich nicht zugestoßen wäre. Zwischen der Beschaffenheit der Unfallstelle und der Verletzung sowie deren Schwere muß also ein rechtlich erheblicher wesentlicher Zusammenhang besteben, wenn die Voraussetzungen für die Annahme eines Arbeitsunfalls gegeben sein sollen. Ob ein solcher Ursachenzusammenhang gegeben ist, d. h., ob in der Mitwirkung der Beschaffenheit der Unfallstelle an der Herbeiführung der Gesundheitsschädigung eine rechtlich wesentliche Mitursache für den Unfall zu erblicken ist, hängt von den Umständen des einzelnen Falles ab. Das LSG hat im vorliegenden Streitfall mit Recht angenommen, es sei zu dem Erstickungstod P.'s dadurch gekommen, daß betriebsbedingte Umstände an dem durch den epileptischen Anfall in Gang gesetzten Geschehensablauf wesentlich mitgewirkt haben. P. wäre nach den Feststellungen des LSG wie bei früher wiederholt aufgetretenen derartigen Anfällen wahrscheinlich auch am 11. November 1960 nicht ums Leben gekommen, wenn nicht die besonderen Raumverhältnisse der Toilettenanlage, vor allem der geringe Abstand des holzverkleideten Abortsitzes zu der gegenüberliegenden Wand und der geringe Abstand der anderen beiden den Raum umschließenden Wände, nicht zu dem Einzwängen des Körpers des P.'s geführt hätten. Wohl ist der Revision einzuräumen, daß in der bloßen Enge des Raumes keine Beschaffenheit der Unfallstelle zu erblicken ist, die als wesentlich mitwirkende Ursache für den Tod P.'s in Betracht käme. Die Revision verkennt jedoch, daß nicht die geringe Bewegungsmöglichkeit in dem Abortraum ausschlagend dafür war, daß P. in die verhängnisvolle Körperlage geriet, sondern daß der zum Erstickungstod führende Verlauf des Sturzes der Anlage des Sitzaborts in dem Raum, und zwar dessen schmalem Abstand von der gegenüberliegenden Wand zuzuschreiben ist. Daß die Abortanlage den gewerbepolizeilichen Vorschriften entsprach, ist bei dieser Betrachtungsweise ohne Belang.
Soweit die Revision beanstandet, daß das nervenärztliche Gutachten des Sachverständigen Dr. B keine geeignete Grundlage für die Beurteilung der zu entscheidenden Rechtsfrage sein könne, trifft es zwar zu, daß Dr. B nicht berufen sein konnte, zur Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem "tödlichen Ausgang des epileptischen Anfalles und dem Betrieb" Stellung zu nehmen. Da jedoch hierauf das angefochtene Urteil erkennbar nicht beruht, ist dieses Vorbringen der Revision unerheblich.
Die Vorinstanzen haben somit die Beklagte zu Recht zur Leistung der Hinterbliebenenentschädigung an die Kläger verurteilt.
Die Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen