Leitsatz (redaktionell)
Der Prokurist eines Einzelhandelsunternehmens (hier mit 70 bis 80 Filialen, etwa 450 Beschäftigten und einem Umsatz von 25 Millionen DM) ist den leitenden Angestellten mit Aufsichts- und Dispositionsbefugnis zuzurechnen.
Das Fehlen einer kaufmännischen Hochschulbildung steht der Anwendung des DV § 30 Abs 3 und 4 BVG § 3 Abs 4 nicht entgegen.
Normenkette
BVG§30Abs3u4DV § 3 Abs. 4 Fassung: 1964-07-30
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 18. April 1968 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin erhält Witwenversorgung nach ihrem 1912 geborenen und mit Todestag auf den 31. Dezember 1945 für tot erklärten Ehemann J E (E.). E. hatte im Februar 1932 die Reifeprüfung abgelegt und nach zweijähriger kaufmännischer Lehrzeit im Mai 1934 die Kaufmannsgehilfenprüfung bestanden. Anschließend war er im Verkauf, vom August 1935 an bis März 1938 als selbständiger Filialleiter und dann bis zur Einberufung im Mai 1940 als Filialkontrolleur bei der Firma B & G KG in W, einem etwa 70 bis 80 Filialen umfassenden Lebensmittelhandelsunternehmen, tätig.
Mit Bescheid vom 19. August 1964 gewährte die Versorgungsbehörde der Klägerin einen Schadensausgleich nach § 40 a des Bundesversorgungsgesetzes (BVG); sie legte hierbei der Berechnung des Einkommensverlustes das durchschnittliche Bruttoeinkommen eines kaufmännischen Angestellten im Einzelhandel in der Leistungsgruppe II zugrunde. Mit dem Widerspruch machte die Klägerin geltend, mit Rücksicht auf den beruflichen Werdegang sei es wahrscheinlich, daß E. Prokurist geworden wäre, also eine leitende Stellung "mit Aufsichts- und Dispositionsbefugnis" erreicht hätte. Eine solche Tätigkeit sei mit der Leistungsgruppe II nicht ausreichend bewertet, so daß nach § 3 Abs. 3 der Durchführungsverordnung (DVO) zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG (1964) als Durchschnittseinkommen das Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 14 zu gelten habe.
Der Widerspruch wurde mit Bescheid vom 10. November 1964 zurückgewiesen.
Die Klage hat das Sozialgericht (SG) Speyer mit Urteil vom 30. Januar 1967 abgewiesen.
Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat mit Urteil vom 18. April 1968 entschieden:
"1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Speyer, Zweigstelle Mainz, vom 30. Januar 1967 aufgehoben.
2. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides des Versorgungsamtes M vom 19. August 1964 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes Rheinland-Pfalz vom 10. November 1964 verurteilt, ab 1. Januar 1964 bei der Berechnung des Schadensausgleichs der Klägerin als Durchschnittseinkommen ihres Ehemanns das Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 14 einschließlich des Ortszuschlags nach Stufe 2 und Ortsklasse A des BBesG zu Grunde zu legen."
Es hat ausgeführt: Auf Grund der erhobenen Beweise über Art und Größe der Firma Braunwarth & Gebhardt, über die Tätigkeiten und den beruflichen Werdegang des E. in dieser Firma sowie über seine Qualifikation und seine Aufstiegsmöglichkeiten sei es wahrscheinlich, daß E. bei seiner alten Firma oder bei einem ähnlichen Unternehmen Prokurist geworden wäre und damit eine leitende Stellung mit Aufsichts- und Dispositionsbefugnis erreicht hätte. Als Prokurist hätte E. in der hier maßgeblichen Zeit vom 1. Januar 1964 an etwa 1.700,- bis 2.000,- DM verdient, während das Durchschnittseinkommen der Leistungsgruppe II im Wirtschaftsbereich Einzelhandel (am 1. Oktober 1964) nur 1.130,- DM ausgemacht habe und damit keine ausreichende Bewertung sei.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Beklagte hat fristgemäß und formgerecht Revision eingelegt mit dem Antrag,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Speyer vom 30. Januar 1967 zurückzuweisen.
Der Beklagte rügt, das LSG habe § 3 Abs. 3 der DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG verletzt und gegen § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen; es sei zu Unrecht zu dem Ergebnis gekommen, daß E. wahrscheinlich eine Stellung mit Aufsichts- und Dispositionsbefugnis im Sinne des § 3 Abs. 3 DVO erreicht hätte.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG; §§ 153 Abs. 1, 165 SGG).
Die Revision ist zulässig (§ 162 Abs. 1 Nr. 1, § 164 SGG)-. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Streitig ist, ob dem Schadensausgleich der Klägerin nach § 40 a BVG als Durchschnittseinkommen das Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 14 BBesG zugrunde zu legen ist. Das LSG hat dies bejaht. Es hat die Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 der DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG (1964) als erfüllt angesehen. Nach dieser Vorschrift gilt - für die Ermittlung des Durchschnittseinkommens nach § 40 a Abs. 2 Satz 2 BVG entsprechend (§ 11 DVO) - "bei kaufmännischen und technischen Angestellten, die einen beruflichen Werdegang nachweisen, nach dem sie wahrscheinlich eine leitende Stellung mit Aufsichts- und Dispositionsbefugnis erreicht hätten und deren Tätigkeit mit einer Eingruppierung in die Leistungsgruppe II (Abs. 1 Satz 3 Buchst. a) nicht ausreichend bewertet wird, als Durchschnittseinkommen das Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 14 BBesG."
Das LSG ist bei der Anwendung des § 3 Abs. 3 DVO zu § 3 Abs. 3 und 4 BVG von zutreffenden rechtlichen Erwägungen ausgegangen. Es hat den Begriff eines "leitenden Angestellten mit Aufsichts- und Dispositionsbefugnis" im Sinne des § 3 Abs. 3 DVO nicht verkannt. Seine Auffassung, der Prokurist (§§ 48 ff HGB) eines Einzelhandelsunternehmens mit 70 bis 80 Filialen, etwa 450 Beschäftigten und einem Umsatz von 25 Millionen DM (1957) sei den leitenden Angestellten mit Aufsichts- und Dispositionsbefugnis zuzurechnen, begegnet keinen rechtlichen Bedenken (vgl. hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 22. Mai 1969 - 8 RV 481/68 -). Die - auch nicht näher begründete - Rüge des Beklagten, das LSG habe die materiell-rechtliche Vorschrift des § 3 Abs. 3 DVO verletzt, geht danach fehl. Soweit sich der Beklagte gegen die Anwendung des § 3 Abs. 3 DVO wendet, weil die "eindeutige Absicht des Gesetzgebers erkennbar sei, bei all den in der privaten Wirtschaft Tätigen, die über keine abgeschlossene Hochschulbildung verfügen, höchstens das Durchschnittseinkommen der Leistungsgruppe II gelten zu lassen" übersieht er, daß es gerade der Sinn und Zweck des § 3 Abs. 3 DVO ist, hiervon eine Ausnahme zu machen. Die Anwendung des § 3 Abs. 3 DVO scheitert nicht schon daran, daß E. keine kaufmännische Hochschulausbildung gehabt hat. Das Vorbringen des Beklagten, das LSG sei zu Unrecht zu dem Ergebnis gekommen, aus dem beruflichen Werdegang des E. sei zu schließen, daß er wahrscheinlich Prokurist bei seiner alten Firma oder in einem ähnlichen Unternehmen geworden wäre, richtet sich gegen eine tatsächliche Feststellung des LSG. Der Beklagte rügt insoweit, die Beweiswürdigung des LSG sei nicht gesetzmäßig und verstoße damit gegen § 128 SGG. Dies trifft jedoch nicht zu.
Es ist weder dargetan noch ersichtlich, daß das LSG bei der Bildung der Überzeugung, der nachgewiesene berufliche Werdegang habe den Aufstieg des E. zum Prokuristen wahrscheinlich gemacht, die Grenzen seines Rechts, das Gesamtergebnis des Verfahrens frei zu würdigen, überschritten hat, etwa dadurch, daß es bei Abwägung der für und gegen den Aufstieg sprechenden Umstände gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze des täglichen Lebens verstoßen hat.
Das LSG hat auf Grund der schriftlichen Äußerungen der Firma B & G sowie auf Grund der Bekundungen des Zeugen B-..., eines früheren Mitinhabers, und des Zeugen B, eines leitenden Angestellten der Firma, davon ausgehen dürfen, daß E., der nach der Hochschulreife-Prüfung und der kaufmännischen Lehre bereits in jungen Jahren als selbständiger Filialleiter und später als weisungsberechtigter Filialkontrolleur tätig war, trotz seines damals noch verhältnismäßig geringen Einkommens in seiner Firma sehr gute Fortkommens- und Aufstiegsmöglichkeiten gehabt hat.
Für die Bildung der richterlichen Überzeugung, ob diese Feststellungen über den beruflichen Werdegang den Schluß rechtfertigen, daß E. wahrscheinlich Prokurist geworden wäre, war nicht die an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit erforderlich, es genügte vielmehr ein geringerer Grad der richterlichen Überzeugung, um den Aufstieg des E. zum Prokuristen als wahrscheinlich anzusehen. Das Gericht hatte die Wahrscheinlichkeit zu bejahen, wenn es bei dem Vergleich der beiden hier in Betracht kommenden Möglichkeiten, nämlich der, daß E. Prokurist geworden wäre und der, daß er diesen Aufstieg nicht erreicht hätte, die Überzeugung gewonnen hatte, daß die erstere Möglichkeit überwog.
Diese Überzeugung hat das LSG gewinnen dürfen. Auch insoweit hat es in den Bekundungen der Zeugen eine Stütze seines Beweisergebnisses sehen dürfen. Die Zeugen haben naturgemäß nicht bekunden können, daß E. "tatsächlich" Prokurist geworden wäre; sie haben dies aber nach der besonderen "Ausgangsposition", die E. als weisungsberechtigter Filialkontrolleur frühzeitig erlangt hatte, und in der sie nach der Betriebsgepflogenheit gewissermaßen ein "Sprungbrett" für eine leitende Stellung in der Geschäftsführung erblickt haben, für wahrscheinlich gehalten. Das LSG hat dem folgen dürfen. Es hat im Rahmen dieser Wahrscheinlichkeitsprüfung nicht alle Zweifel, die gegen den von ihm angenommenen vermutlichen Geschehensablauf bestanden haben, ausräumen müssen. Es hat das Ergebnis einer Wahrscheinlichkeitsprüfung auch nicht dadurch als in Frage gestellt ansehen müssen, daß der spätere Wechsel der Unternehmensleitung die Aufstiegschancen des E. vermindert haben könnten. Es hat auch annehmen dürfen, daß der berufliche Nutzen des "Aufstiegswegs", auf dem sich E. in seiner Firma befunden hatte, ihm auch bei einem Inhaberwechsel oder in einem anderen ähnlichen Unternehmen zugute gekommen wäre.
Schließlich hat das LSG den Aufstieg des E. zum Prokuristen nicht deshalb als unwahrscheinlich ansehen müssen, weil E. keine kaufmännische Hochschulausbildung hatte; es widerspricht nicht den Erfahrungen des kaufmännischen Lebens, daß besonders qualifizierte kaufmännische Angestellte auch ohne Hochschulausbildung zu leitenden Stellungen mit unternehmerischer Funktion gelangen.
Es ist nicht von Bedeutung, ob auch das abweichende Ergebnis der Wahrscheinlichkeitsprüfung, das der Beklagte für richtig hält, "haltbar" ist und ebenfalls verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden gewesen wäre. Das Revisionsgericht hat nicht darüber zu entscheiden, welches Beweisergebnis seiner Ansicht nach "richtig" ist, sondern nur darüber, ob sich das Ergebnis des LSG in den Grenzen seines Rechts zur freien Beweiswürdigung hält. Dies ist der Fall. Die Beweiswürdigung des LSG verstößt nicht gegen § 128 Abs. 1 SGG; sie ist also gesetzmäßig.
Auch soweit das LSG zu der weiteren Schlußfolgerung gekommen ist, die Tätigkeit eines Prokuristen in einer Stellung, wie sie E. wahrscheinlich erreicht hätte, werde mit der Leistungsgruppe II nicht ausreichend bewertet, ist die Entscheidung nicht zu beanstanden.
Die Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen