Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachaufklärungspflicht im sozialgerichtlichen Verfahren
Orientierungssatz
Zur Sachaufklärungspflicht im sozialgerichtlichen Verfahren:
1. Ob das Gericht den Sachverhalt ungenügend aufgeklärt und dadurch § 103 SGG verletzt hat, ist allein vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des Gerichts aus zu beurteilen. Hält es von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus eine Tatsache nicht für rechtserheblich, weil es seine Entscheidung auf andere Tatsachen oder Rechtsgründe stützt, so ist es nicht verpflichtet, über die für nicht rechtserheblich gehaltene Tatsache Beweis zu erheben.
2. Geht das Gericht davon aus, daß eine MdE in einer Höhe, wie sie der Rentenbezug voraussetzt, nicht vorliegt, verstößt es nicht gegen seine Sachaufklärungspflicht, wenn es weitere Ermittlungen zur Aufklärung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Gesundheitsstörung und schädigenden Ereignis nicht vornimmt.
Normenkette
SGG §§ 103, 106
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 30.09.1958) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. September 1958 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger leistete von 1915 bis 1918 Wehrdienst in der Österreich-ungarischen Armee. Er stellte 1947 Antrag auf Rente nach dem Württembergischen Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) wegen einer 1918 erlittenen Kopfverletzung mit nachfolgendem Ohrenleiden. Ende 1919 habe er sich am rechten Ohr einer Operation unterziehen müssen; seither höre er auf diesem Ohr nichts mehr. Auf dem linken Ohr sei er leicht schwerhörig. In seinem Beruf als Finanzangestellter sei er stark behindert. Das Versorgungsamt (VersorgA.) lehnte mit Bescheid vom 10. Mai 1952 den Antrag nach KBLG und Bundesversorgungsgesetz (BVG) ab, da die Unterlagen für eine Anerkennung nicht genügten und früherer Rentenbezug nicht nachgewiesen sei. Das Sozialgericht (SG.) Heilbronn, auf das die Berufung zum Oberversicherungsamt (OVA.) als Klage übergegangen war, hob mit Urteil vom 13. September 1955 den Bescheid vom 10. Mai 1952 auf und verurteilte den Beklagten, Taubheit auf dem rechten Ohr nach Mittelohreiterung als Leistungsgrund nach dem KBLG und BVG anzuerkennen und ab 1. April 1947 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v. H. zu gewähren. Im übrigen wies es die Klage ab. Das SG. stützte sich auf das Gutachten des im Verwaltungsverfahren gehörten Facharztes für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten Dr. G, welcher traumatische Trommelfellperforation mit anschließender Ohreiterung anerkannte und die MdE. auf etwa 20 v. H., unter Berücksichtigung des Berufs des Klägers auf 30 bis 40 v. H. schätzte. Die Gehörminderung auf dem linken Ohr sei nicht Schädigungsfolge des Wehrdienstes. Auf die Berufung des Beklagten holte das Landessozialgericht (LSG.) Gutachten der Nervenabteilung der Medizinischen Universitätsklinik und der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten in H ein. Diese nahmen übereinstimmend Zustand nach Radikaloperation des rechten Ohres - praktisch Taubheit rechts - und eine MdE. um 30 v. H. als Schädigungsfolge an. Die Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten hielt trotz des Hinweises des LSG. auf die Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen an einer MdE. von 30 v. H. "im Anschluß an die Beweisführung des Dr. G" fest.
Das LSG. änderte mit Urteil vom 30. September 1958 das Urteil des SG. ab und wies die Klage in vollem Umfang ab. Es ließ die Revision nicht zu. Das LSG. führte aus: Streitig sei der ursächliche Zusammenhang der Einschränkung des Hörvermögens mit dem Wehrdienst und der darauf gestützte Rentenanspruch. Die Frage des ursächlichen Zusammenhangs der rechtsseitigen Taubheit mit dem im ersten Weltkrieg geleisteten Wehrdienst könne auf sich beruhen, da die dadurch verursachte MdE. nicht den Grad erreiche, der zum Rentenbezug berechtige. Dr. G und die Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten hätten die MdE. auf 20 v. H., bei Berücksichtigung des Berufs auf 30 bis 40 v. H. geschätzt. Der Kläger sei indes in seinem vor der Schädigung ausgeübten Beruf als Tischler und Fotopraktikant durch die Schwerhörigkeit rechts nicht stärker betroffen als auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Schwerhörigkeit auf dem linken Ohr sei nicht Wehrdienstfolge und müsse unberücksichtigt bleiben.
Der Kläger beantragt mit der Revision, das Urteil des LSG. aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG. zurückzuweisen, hilfsweise die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Der Kläger rügt neben einer Reihe von sachlich-rechtlichen Mängeln (Verletzung der §§ 1, 2, 29 und 30 BVG) wesentliche Mängel des Verfahrens und Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen seiner Gesundheitsstörung und einer Schädigung im Sinne des BVG. Insbesondere rügt er unterlassene und ungenügende Aufklärung des Sachverhalts (§§ 103, 106 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Den Mangel in der Sachaufklärung sieht der Kläger darin, daß das LSG. nicht die Frage, ob die Taubheit rechts durch den Wehrdienst verursacht wurde, durch weitere Ermittlungen, insbesondere im Archiv des früheren österreichischen Heeres geklärt habe. Bei der Schwerhörigkeit links habe das LSG. nicht geprüft, ob die Schädigung des rechten Ohres Ursache für die linksseitige Gehörminderung sei. Krankenpapiere aus der früheren Breslauer Ohrenklinik hätten den Zusammenhang zwischen beiden Ohrenleiden ergeben können.
Das LSG. habe auch bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs den Sachverhalt verkannt; der ursächliche Zusammenhang müsse daher nochmals geprüft und dabei der Umfang der wehrdienstbedingten MdE., auch hinsichtlich des Berufsschadens im Sinne des § 30 BVG, ermittelt werden. Bei Beurteilung der MdE. hätte das LSG. auch prüfen müssen, ob sich nicht infolge des rechten Gehörschadens eine vorzeitige Schwächung und Alterung des linken Gehörs ergeben habe.
Der Beklagte beantragt, die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Da sie nicht zugelassen ist, (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), ist sie nur statthaft, wenn mit Erfolg gerügt wird, das Verfahren des LSG. leide an einem wesentlichen Mangel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) oder bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des BVG sei das Gesetz verletzt (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Soweit Verfahrensmängel gerügt werden, muß die Revisionsbegründung die verletzte Rechtsnorm sowie die Tatsachen und Beweismittel bezeichnen, die den Mangel ergeben (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Revision ist nicht statthaft.
Ihre verfahrensrechtlichen Angriffe richten sich ausschließlich gegen die Art und Weise sowie den Umfang der Sachaufklärung durch das LSG. Sie sind dem Sinne nach dahin zu verstehen, das LSG. habe nicht dahingestellt sein lassen dürfen, ob und inwieweit der Gehörschaden des Klägers Folge wehrdienstlicher Einflüsse sei, es hätte diese Frage weiter aufklären und insbesondere versuchen müssen, sich aus den österreichischen Archiven Unterlagen darüber zu beschaffen. Aus den Aufzeichnungen der Breslauer Ohrenklinik hätte sich möglicherweise auch ergeben, daß die linksseitige Gehörminderung auf die Schädigung des rechten Ohrs oder sonst auf Einflüsse des Wehrdienstes zurückzuführen sei.
Nach § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Die Frage, ob das LSG. den Sachverhalt ungenügend aufgeklärt und dadurch § 103 SGG verletzt hat, ist allein vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des Berufungsgerichts aus zu beurteilen (SozR. SGG § 103 Da 2 Nr. 7, § 162 Da 3 Nr. 20, Da 21 Nr. 79). Hält das LSG. von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus eine Tatsache nicht für rechtserheblich, weil es seine Entscheidung auf andere Tatsachen oder Rechtsgründe stützt, so ist es nicht verpflichtet, über die für nicht rechtserheblich gehaltene Tatsache Beweis zu erheben. Der Sachverhalt hat das LSG. hier nicht zu den von der Revision vermißten Ermittlungen drängen müssen, weil das LSG. seine Entscheidung über den Rentenanspruch allein darauf abgestellt hat, ob die vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsstörungen noch einen zum Rentenbezug berechtigenden Grad erreichten. Zur Klärung dieser Frage reichte es aber aus, die Höhe der MdE. für die Gesundheitsstörung (Taubheit rechts) ohne Rücksicht auf die Ursache zu ermitteln. Das LSG. durfte von diesem Standpunkt aus eine weitere Aufklärung des ursächlichen Zusammenhangs unterlassen; es durfte sogar diese Frage unentschieden lassen, nachdem es eine MdE. in einer Höhe, wie sie der Rentenbezug voraussetzte, verneint hatte. Das LSG. hat daher gegen § 103 SGG nicht dadurch verstoßen, daß es über den ursächlichen Zusammenhang weitere Beweise nicht erhoben hat, weil es nach seiner Rechtsauffassung auf die Frage des ursächlichen Zusammenhangs für die Entscheidung nicht mehr ankam.
Die Schwerhörigkeit des linken Ohres hat das LSG. in Übereinstimmung mit sämtlichen ärztlichen Gutachten als nicht durch den Wehrdienst verursachte Alterserscheinung angesehen. Damit ist gleichzeitig festgestellt, daß der Gehörschaden rechts, selbst wenn er durch den Wehrdienst verursacht sein sollte - das LSG. ließ dies dahingestellt - nicht Ursache für die Schwerhörigkeit auf dem linken Ohr sein kann. Einer weiteren Befragung der Ärzte hierüber bedurfte es daher im Gegensatz zur Auffassung der Revision nicht. Die Revision hat auch nicht dargetan, inwieweit die auf die ärztlichen Gutachten gegründete Ablehnung des Kausalzusammenhangs der linken Gehörschädigung mit dem Wehrdienst durch die von der Revision vermißten Erhebungen in der Breslauer Ohrenklinik erschüttert werden könnte. Auch insoweit liegt daher eine ungenügende Sachaufklärung nicht vor und ist § 103 SGG nicht verletzt.
Wenn die Revision weiter beanstandet, das LSG. habe über den vom Kläger mitgemachten Fernkursus für Buchhaltung nichts Näheres erhoben, so ist diese Rüge der unzureichenden Sachaufklärung nicht dem Gesetz entsprechend substantiiert (§ 164 Abs. 2 SGG). Es ist weder erkennbar noch von der Revision dargetan, weshalb die fehlende Aufklärung die Entscheidung des Berufungsgerichts über die Höhe der MdE. hätte beeinflussen können.
Da das LSG. von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus über den Ursachenzusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinn zwischen der Gehörschädigung rechts und dem Wehrdienst eine Feststellung nicht getroffen hat und auch nicht treffen mußte, scheidet auch eine Gesetzesverletzung bei Anwendung der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnormen - § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG - aus. Bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Gehörschädigung links und dem Wehrdienst ist eine solche Gesetzesverletzung gleichfalls auszuschließen, weil das LSG. insoweit den Zusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinne verneint hat (BSG. 1 S. 268).
Das LSG. hat zwar die zunächst auf Leistung, dann auf Feststellung und Leistung gerichtete Klage nach der Urteilsformel in vollem Umfang abgewiesen, aus den Urteilsgründen ergibt sich aber, daß es nur einen Leistungsanspruch als erhoben angesehen hat. Es muß dahingestellt bleiben, ob das LSG. damit etwa gegen §§ 55, 123 SGG verstoßen hat, weil eine entsprechende Revisionsrüge nicht erhoben ist. Die Revision hat keine Tatsachen angegeben, die einen Verfahrensmangel in dieser Richtung auch nur andeuten könnten (§ 164 Abs. 2 SGG).
Sonach ergeben die Rügen der Revision weder einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG. (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG), noch eine Gesetzesverletzung nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG.
Die übrigen Revisionsangriffe des Klägers betreffen das sachliche Recht (§§ 1, 2, 29, 30 BVG). Sie müssen bei der nach § 162 SGG nicht statthaften Revision ungeprüft bleiben und können die Revision nicht statthaft machen.
Die nicht statthafte Revision ist als unzulässig zu verwerfen (§ 169 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen