Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz bei Unfällen durch Spielerei
Leitsatz (redaktionell)
Eine durch spielerisches Verhalten im Betrieb verursachte Körperverletzung gilt grundsätzlich auch dann nicht als Arbeitsunfall, wenn sie während der Arbeitszeit und am Arbeitsplatz des Versicherten eingetreten ist und ein Abfallprodukt einer Betriebseinrichtung beim Zustandekommen der Verletzung mitgewirkt hat; Versicherungsschutz kann jedoch dann begründet sein, wenn ein jugendlicher Arbeitnehmer durch die Gestaltung der Betriebsverhältnisse, insbesondere unzureichende Beaufsichtigung, in die Lage versetzt ist, sich bei leichtsinnigen Spielereien und Neckereien besonderen Gefahren auszusetzen.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. Januar 1972 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der im August 1953 geborene Kläger war als Feinmechanikerlehrling am 11. November 1969 gegen 15.30 Uhr in einem zwischen zwei Werkstatträumen gelegenen Vorraum an einer Bandschleifmaschine beschäftigt, als ein ebenfalls im Betrieb tätiger Lehrling diesen Raum betrat. Ihm warf der Kläger ein am Boden liegendes Messingstück in der Größe einer halben Zündholzschachtel und in einer Stärke von 1 mm nach. Der andere Lehrling hob das Messingstück auf und warf es gegen den Kläger, der davon ins linke Auge getroffen wurde und eine perforierende Augenverletzung erlitt.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 24. März 1970 Entschädigungsansprüche des Klägers ab, da sich der Unfall bei einer Spielerei ereignet habe, die in keinem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, dem Arbeitsplatz und dem Arbeitsgerät gestanden habe.
Der Kläger hat Klage erhoben, die das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 15. September 1970 u. a. mit folgender Begründung abgewiesen hat: Schaffe ein Jugendlicher erst eine Gefahrenquelle und verunglücke er dadurch, so liege kein Arbeitsunfall vor, weil selbst eine etwa mangelnde Aufsicht als wesentliche Ursache in den Hintergrund trete. Abgesehen davon, daß sich das kurze und schnelle Werfen mit Metallstückchen auch in einer beaufsichtigten Werkstätte wahrscheinlich nicht hätte verhindern lassen, habe der Kläger nach Auffassung des Gerichts durch das Werfen erst eine besondere Gefahr geschaffen, die bis dahin nicht existent gewesen sei.
Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 12. Januar 1972 zurückgewiesen und in den Entscheidungsgründen u. a. ausgeführt: Der Kläger habe in Kenntnis des von ihm benutzten Gegenstandes und der damit verbundenen Gefahr gehandelt und sei dadurch zu Schaden gekommen. Hinsichtlich der Beschaffenheit des von ihm als Wurfgeschoß benützten Metallstücks habe er als Lehrling im zweiten oder dritten Lehrjahr überhaupt keine Zweifel haben können. Darüber hinaus habe er zwar möglicherweise nicht bedacht, den Umständen nach aber bedenken müssen, daß das Werfen eines Metallstücks gegen einen anderen eine Reaktion des Angegriffenen nach sich ziehen könne. Der Senat halte es für ausgeschlossen, daß ein Lehrling im Alter von 16 Jahren und drei Monaten nicht über das Einsichtsvermögen verfüge, das ihm die Gefährlichkeit der Benutzung von kleinen Metallstücken als Wurfgeschoß bewußt werden lasse.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Er trägt vor: Er sei im Zeitpunkt des Unfalls erst 16 Jahre und 3 Monate alt gewesen und habe im Übergangsstadium vom Kind zum werdenden Mann gestanden. Es entspreche allgemeiner Erfahrung, daß ein Jugendlicher in diesem Alter wegen des "noch unbändigen Spieltriebes einer besonderen Beaufsichtigung während des Aufenthalts an der Arbeitsstätte" bedürfe (s. BSG SozR RVO Nr. 68 zu § 542 RVO aF). Er habe sich aber zur Zeit des Unfalls ohne Beaufsichtigung im Vorraum zwischen zwei Werkstatträumen befunden, um dort Arbeiten an einer Bandschleifmaschine auszuführen. Als sein Kollege habe durch den Vorraum gehen wollen, um in einen der Werkstatträume zu gelangen, sei es dann - ohne daß eine Aufsichtsperson zugegen gewesen sei - zu dem schädigenden Ereignis gekommen. Objektiv sei somit die betriebliche Aufsicht nicht wirksam genug gehandhabt worden (s. BSG BG 1971, 233). Sollte der angerufene Senat nicht durchentscheiden können, weil der Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt sei, trage er noch vor, es sei völlig ungeklärt, wessen Aufsicht er unterstanden habe, in welcher Form die Aufsicht ausgeübt worden sei und ob die erforderliche Aufsicht auch am Ort des Ereignisses wirksam gewesen sei. Es sei auch nicht klargestellt, ob solche Vorkommnisse schon häufiger sich ereignet hätten und in welcher Weise dann eingeschritten worden sei, um Wiederholungen zu vermeiden. Es sei ebenfalls nicht klargestellt, ob die Lehrlinge die besondere Ausgestaltung des Vorraums eventuell gewohnheitsmäßig ausgenutzt hätten, untereinander Schabernack zu treiben, so daß von dieser Stelle des Betriebes besondere Gefahren für Jugendliche ausgegangen seien, die eine ständige Ermahnung und Kontrolle erforderlich gemacht hätten. Es sei schließlich nicht ermittelt worden, ob gegen den Unfallgegner ein Strafverfahren durchgeführt worden sei und welches Ergebnis dieses gehabt habe. Möglicherweise hätten die Strafakten weiteren Aufschluß über rechtserhebliche Umstände geben können.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Bayerischen LSG vom 12. Januar 1972 und des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. September 1970 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. März 1970 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn wegen des Arbeitsunfalles vom 11. November 1969 zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden; die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind erfüllt.
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Das Werfen mit dem Messingstück, durch das der Kläger die Augenverletzung erlitt, verstieß allgemein gegen die aus dem Lehrverhältnis sich ergebenden Pflichten und lief den betrieblichen Interessen zuwider. Der Umstand, daß diese Betätigungen am Arbeitsplatz während der Arbeitszeit der Lehrlinge stattfanden und schließlich - in Gestalt des nach dem Kläger geworfenen Messingstücks - auch das Abfallprodukt einer Betriebseinrichtung beim Zustandekommen des Unfalls mitwirkte, reicht, wie auch die Revision nicht verkennt, nicht aus, um einen wesentlichen inneren Zusammenhang des Unfalls mit der versicherten Tätigkeiten herzustellen (vgl. RVA AN 1906, 509; BSG SozR Nr. 55, 74 zu § 542 RVO aF und Nr. 2 zu § 548 RVO; BSG BG 1968, 79 und 1971, 233; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl., S. 484 s).
Der hier zu entscheidende Sachverhalt ist jedoch durch die Besonderheit gekennzeichnet, daß die beiden Hauptbeteiligten an dem zum Unfall führenden Geschehen noch Lehrlinge waren und der Kläger am Unfalltag erst 16 1/4 Jahre alt war. Der durch spielerisches Verhalten eines jugendlichen Arbeitnehmers auf der Betriebsstätte verursachte Unfall ist versicherungsrechtlich nicht ohne weiteres nach den oben angeführten Maßstäben zu beurteilen, die für erwachsene Beschäftigte gelten. Vielmehr ist - unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles und ohne Anwendung einer schematischen Altersbegrenzung - zu prüfen, ob ein dem schutzbedürftigen Lebensalter noch nicht offensichtlich entwachsener Arbeitnehmer durch die Gestaltung der Betriebsverhältnisse, insbesondere unzureichende Beaufsichtigung, in die Lage versetzt wurde, sich bei leichtsinnigen Spielereien und Neckereien besonderen Gefahren auszusetzen (vgl. RVA aaO und EuM 19, 127; 22, 3; BSG SozR Nr. 68 zu § 542 RVO aF; BSG BG 1971, 233; Bayer. LVAmt Amtsbl. Bayer. AM 1952 B 1; Brackmann aaO S. 484 t).
Eine solche Prüfung hat das LSG angestellt und ist dabei ohne Rechtsirrtum zu dem Ergebnis gelangt, daß der Unfall des Klägers nicht in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit steht.
Die Einrichtungen und die Gestaltung des Arbeitsplatzes des Klägers waren nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht so, daß der Kläger durch sie erst in die Lage versetzt wurde, sich besonderen Gefahren auszusetzen. Die Möglichkeit allein, mit insoweit gefährlichen Gegenständen zu werfen, besteht häufig in den Betrieben. Das spielerische Verhalten des Klägers steht vielmehr als rechtlich wesentliche Ursache des Unfalls derart im Vordergrund, daß demgegenüber die ursächlichen Verknüpfungen mit der versicherten Tätigkeit in dem Unternehmen als rechtlich unwesentlich zurücktreten (s. BSG SozR Nr. 2 zu § 548 RVO).
Den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist auch keine unzureichende Aufsicht durch den Lehrherrn und seine Beauftragten zu entnehmen. Der Kläger war allein an einer Bandschleifmaschine beschäftigt. Anders als bei dem der Entscheidung des erkennenden Senats vom 30. September 1970 (BG 1971, 233) zugrunde liegenden Sachverhalt hat der Kläger nicht gemeinsam mit mehreren anderen Lehrlingen an einem von den älteren Arbeitnehmern getrennten Arbeitsplatz gearbeitet. Eine spezifische Betriebsgefahr, wie sie in einer Lehrwerkstatt durch das Zusammenfassen der Lehrlinge und das damit verbundene weitaus ungehemmtere Entfalten des Spiel- und Nachahmungstriebes besteht, ist beim Kläger nicht festgestellt. Es bedurfte deshalb auch keiner ähnlich straffen Aufsicht wie in diesen Fällen. Es kann somit, entgegen der Ansicht der Revision, dahinstehen, ob der Kläger an sich der Aufsicht durch einen Meister oder durch einen Lehrgesellen unterstanden hat. Die Revision meint auch zu Unrecht, das LSG habe nicht klargestellt, ob solche Vorkommnisse schon häufiger beobachtet wurden und in welcher Weise dann eingeschritten wurde, um Wiederholungen zu unterbinden. Der Kläger war sowohl im Verfahren vor dem SG als auch vor dem Berufungsgericht durch Prozeßbevollmächtigte vertreten. Obgleich bereits das SG in seinem Urteil keine Verletzung der Aufsichtspflicht als Mitursache des Unfalls angesehen hat, ist dem Vorbringen des Klägers auch im Berufungsverfahren nicht zu entnehmen, daß sich die Lehrlinge regelmäßig in dem Vorraum mit Messingstückchen oder anderen Gegenständen bewarfen und der Lehrherr im Rahmen seiner Aufsichtspflicht zu einer verstärkten Kontrolle gehalten gewesen wäre. Ebenso ergeben die Unterlagen der Beklagten keine Anhaltspunkte dafür. Deshalb hat sich das LSG auch nicht gedrängt fühlen müssen, noch festzustellen, ob ein Strafverfahren gegen den Arbeitskollegen des Klägers durchgeführt wurde, und ggf. die Strafakten beizuziehen.
Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Verletzung des Klägers durch Werfen mit dem Messingstückchen bei der Spielerei oder Neckerei mit seinem Arbeitskollegen besteht nach allem in Übereinstimmung mit der Auffassung des SG und des LSG nicht, so daß die Revision des Klägers zurückgewiesen werden muß.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen