Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. gemischte Tätigkeit
Orientierungssatz
1. Für den Gaststättenbetrieb gehören die vereinnahmten Geldbeträge zu den wichtigsten Gegenständen des Unternehmens; die Verwahrung dieser Betriebsmittel nach Betriebsschluß an einem für sicherer gehaltenen Ort dient somit wesentlich den Zwecken des Unternehmens.
2. Ist die Gastwirtin nicht nur unterwegs, um sich nach Beendigung ihrer Arbeit zur Ruhe zu begeben, sondern auch, um die für die Führung des Gaststättenbetriebs erforderlichen Betriebseinnahmen in Sicherheit zu bringen, steht sie im Unfallzeitpunkt jedenfalls unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer sogenannten gemischten Tätigkeit nach § 548 RVO unter Versicherungsschutz (vgl BSG 1956-08-31 2 RU 129/54 = BSGE 3, 240).
Normenkette
RVO § 548
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 10.02.1971) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 07.04.1970) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Februar 1971 und des Sozialgerichts Dortmund vom 7. April 1970 sowie der Bescheid der Beklagten vom 11. September 1968 aufgehoben.
Die Beklagte wird dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin Entschädigungsleistungen zu gewähren.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Ehemann der Klägerin betreibt eine Gaststätte mit Kegelbahn. Die im Betrieb tätige Klägerin ist nach § 543 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bei der Beklagten gegen Arbeitsunfall versichert. Die konzessionierten Gaststättenräume liegen im Erdgeschoß des Hauses, die Wohnung der Eheleute befindet sich im Obergeschoß. Am späten Abend des 14. Mai 1968 begab sich der Ehemann der Klägerin in die Wohnung, als nur noch ein Damenkegelklub auf der Bahn war, den die Klägerin bediente. Nachdem dieser Klub die Gaststätte verlassen hatte, ging die Klägerin gegen 1.15 Uhr durch die Diele zur Treppe, um ebenfalls die Wohnung aufzusuchen. Sie trug eine Geldtasche aus Leder im Format von etwa 20 mal 20 cm mit der Tageseinnahme bei sich. Auf dem Weg stürzte sie und zog sich eine Radius-Fraktur am rechten Ellenbogen sowie eine Zerrung des rechten Handgelenks zu.
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 11. September 1968 Entschädigungsleistungen ab, da die Klägerin auf der unteren Treppe gestürzt sei, diese bereits zu ihrem Privatbereich gehört habe und deshalb kein Versicherungsschutz bestehe.
Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat die hiergegen von der Klägerin erhobene Klage durch Urteil vom 7. April 1970 abgewiesen: Die Verwahrung des Geldes habe zwar eine betriebliche Bedeutung gehabt, diese sei jedoch gegenüber dem Willen der Klägerin, ihre Privatwohnung erreichen und schlafen gehen zu wollen, in den Hintergrund getreten.
Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 10. Februar 1971 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Es sei nicht feststellbar, daß die Klägerin noch in der Diele gestürzt sei; wahrscheinlich sei sie auf den ersten drei zu einem Podest führenden Stufen der Treppe gefallen; diese Treppenstufen gehörten nicht zu dem betrieblich oder gemischt genutzten Bereich. Die Klägerin habe auch keine betriebliche Tätigkeit verrichtet. Sie habe nach dem Erreichen der Wohnung das in der Geldtasche befindliche Geld zählen, die Summe auf einen Zettel schreiben und das Geld in der Wohnung - wahrscheinlich im Kleiderschrank oder im Nachttisch - unterbringen wollen. Das Zählen der Tageseinnahme und das Aufschreiben der Summe auf einen Zettel seien allerdings Betriebstätigkeiten, jedoch sei das Zurücklegen des Weges, um dies in der Wohnung zu tun, nicht Teil der Betriebstätigkeit, zumal da dies auch in der Gaststätte hätte geschehen können. Das Mitnehmen der Tageseinnahme in einer kleineren Geldtasche in die Wohnung, um sie diebstahlsicher zu verwahren, stehe zwar in einem betrieblichen Zusammenhang. Gegenüber der Notwendigkeit, nach Betriebsschluß sich in die Wohnung zur Ruhe begeben zu müssen, trete dieser Umstand bei natürlicher Betrachtungsweise jedoch völlig in den Hintergrund. Die Klägerin habe den Weg nicht wesentlich mit zurückgelegt, um die Tageseinnahme in Sicherheit zu bringen, sondern sie habe gelegentlich des Weges in die Wohnung, um sich zur Ruhe zu begeben, die Tageseinnahme mitgenommen, damit sie in Sicherheit sei. Es sei schließlich nicht feststellbar, daß das Mitnehmen der Geldtasche zumindest eine wesentliche Teilursache für den Unfall oder die Schwere seiner Folgen gewesen sei.
Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und wie folgt begründet:
Nach dem vom LSG zugrunde gelegten Sachverhalt seien die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls gegeben. Der Unfall habe sich im betrieblichen - zumindest im gemischt genutzten - Bereich ereignet. Dies ergebe sich daraus, daß sich im unmittelbaren Bereich der Unfallstelle - der ersten drei Stufen der Treppe - das vorwiegend betrieblich genutzte Telefon befinde. Die Koppelung des Telefons mit einem Zählwerk und vor allem der Umstand, daß sich auf der Treppe ein Sitzkissen für Gäste befinde, die telefonieren wollten, ließen auf eine regelmäßige betriebliche Benutzung der ersten drei Treppenstufen schließen. Die Klägerin sei im Unfallzeitpunkt einer wesentlich auch betrieblichen Zwecken dienenden Tätigkeit nachgegangen. Die Tageseinnahme sei eines der wichtigsten Betriebsmittel eines Gaststättenbetriebes; sie habe vor dem Zugriff Dritter geschützt werden müssen (vgl. BSG 26, 45). Es widerspreche der natürlichen Anschauung, das Begehen der Treppe - das Bindeglied zwischen der betrieblichen Tätigkeit in der Gaststätte und der ebenfalls betrieblichen Tätigkeit des Geldzählens und Verbuchens - vom Versicherungsschutz auszunehmen. Es liege im Geschäftsinteresse, daß eine Wirtsfrau ihr Geld nicht nachts allein im Lokal zähle, sondern zunächst an einen sicheren Ort verbringe. Da die Klägerin das Geld unmittelbar nach Ankunft in der Wohnung habe zählen wollen, treffe es nicht zu, daß sie nur gelegentlich des Ganges zur Schlafstätte das Geld mit sich geführt habe. Ein Grund dafür, daß sich die Klägerin der Mühe habe unterziehen wollen, das aus der Kasse entnommene Geld in der Wohnung neu zu sortieren, könne nur darin gesehen werden, daß sie das Geld schnell in Sicherheit habe bringen wollen, da erfahrungsgemäß häufig nach Geschäftsschluß Überfälle auf Geschäftsinhaber vorkämen.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Urteile und des Bescheides der Beklagten diese zu verurteilen, Unfallentschädigung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Revision ist begründet. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG befand sich die Klägerin nach Beendigung der in der Gaststätte verrichteten Arbeiten im Unfallzeitpunkt auf der Treppe, die vom Erdgeschoß zu den im Obergeschoß liegenden Privaträumen führt; sie hatte eine lederne Geldtasche im Format von etwa 20 mal 20 cm mit den Tageseinnahmen des Geschäfts bei sich; nach dem Erreichen der Privatwohnung wollte sie dort das Geld zählen, die Summe auf einem Zettel notieren und das Geld in der Wohnung - wahrscheinlich im Schlafzimmer - unterbringen. Mit Recht hat das LSG angenommen, daß sowohl das Geldzählen und das Aufschreiben der Summe als auch die Mitnahme der Tageseinnahme in die Privatwohnung, um sie dort diebstahlsicher zu verwahren, mit der betrieblichen Tätigkeit in Zusammenhang stehen. Die Auffassung des LSG, neben der Notwendigkeit, nach Betriebsschluß sich zur erforderlichen Ruhe in die Wohnung begeben zu müssen, trete das Mitnehmen der Tageseinnahme vom Zwecke der diebstahlsicheren Verwahrung völlig in den Hintergrund, wird jedoch den Gegebenheiten des Falles - insbesondere der Bedeutung der Tageseinnahme für das Unternehmen - nicht gerecht. Für den Gaststättenbetrieb gehörten die vereinnahmten Geldbeträge zu den wichtigen Gegenständen des Unternehmens; die Verwahrung dieser Betriebsmittel nach Betriebsschluß an einem für sicherer gehaltenen Ort diente somit wesentlich den Zwecken des Unternehmens. Der erkennende Senat hat in dem zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteil vom 30. November 1972 (2 RU 24/71) unter Hinweis auf seine Entscheidungen vom 15. Dezember 1959 (2 RU 60/58 - SozEntsch BSG IV § 542 (a) Nr. 16) und vom 15. Dezember 1966 (BSG 26, 45, 47) mit näherer Begründung den Versicherungsschutz einer Geschäftsfrau bejaht, die eine für ihr Geschäft benötigte, während der Nacht in den Wohnräumen verwahrte Geldkassette auf dem Weg zu dem in demselben Haus gelegenen Laden mitführte. Von diesem Sachverhalt unterscheidet sich der hier zur Entscheidung stehende rechtlich nicht wesentlich. Da die Klägerin nicht nur unterwegs war, um sich nach Beendigung ihrer Arbeit zur Ruhe zu begeben, sondern auch, um die für die Führung des Gaststättenbetriebs erforderlichen Betriebseinnahmen in Sicherheit zu bringen, stand sie im Unfallzeitpunkt jedenfalls unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer sogenannten gemischten Tätigkeit (BSG 3, 240) nach § 548 RVO unter Versicherungsschutz.
Hiernach bedarf es keiner Entscheidung, ob sich die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls noch im betrieblichen oder gemischt genutzten Bereich befunden hat. Da die Klägerin eine wesentlich den Zwecken des Unternehmens dienende Tätigkeit verrichtete, war sie versichert, auch wenn die Treppe, auf der sie zu Fall gekommen ist, zum häuslichen Bereich gehört.
Die Beklagte war daher zur Entschädigungsleistung - dem Grunde nach - zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen