Entscheidungsstichwort (Thema)
Leistungspflicht des Rentenversicherungsträgers sowie des Unfallversicherungsträgers bei vermuteter Tuberkulose
Leitsatz (amtlich)
Der Unfallversicherungsträger kann vom Rentenversicherungsträger nicht die Erstattung der Kosten verlangen, die er für die stationäre Behandlung wegen des Verdachts auf Siliko-Tbc übernommen hat.
Orientierungssatz
1. Die Verpflichtung des Rentenversicherungsträgers, Leistungen im Rahmen der Tuberkulosehilfe (§ 48 BSHG) zu gewähren, setzt nicht erst dann ein, wenn jeder Zweifel hinsichtlich der Diagnose ausgeschlossen ist, sondern bereits dann, wenn aufgrund eines Tuberkuloseverdachts nach ärztlichem Zeugnis eine gezielte Tuberkulosebehandlung im Interesse sowohl des Kranken selbst als auch seiner Umgebung geboten ist; dafür ist das Zeugnis eines Amtsarztes oder des ärztlichen Dienstes des Rentenversicherungsträgers ausreichend, aber auch erforderlich.
2. Die Leistungsabgrenzung zwischen Rentenversicherungs- und Unfallversicherungsträger nach § 1244a Abs 7 RVO (§ 21a Abs 7 AVG) greift bereits ein, wenn der Verdacht auf eine behandlungsbedürftige Tuberkulose im Zusammenhang mit einer Berufskrankheit steht.
Normenkette
RVO § 1244a Abs 7 Fassung: 1977-06-27
Verfahrensgang
SG für das Saarland (Entscheidung vom 09.10.1981; Aktenzeichen S 14/12 J 203/78) |
Tatbestand
Die klagende Berufsgenossenschaft (BG) verlangt von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) die Erstattung der Kosten (5.229,55 DM), die infolge stationärer Heilbehandlung ihrer Versicherten K. in der Zeit vom 16. Juni bis zum 9. Oktober 1970 entstanden sind.
Die Versicherte erhielt von der Klägerin eine Unfallrente wegen Silikose III. Grades, von der Beklagten ein Altersruhegeld. Am 16. Juni 1970 wurde sie von ihrem Hausarzt wegen aktiver Siliko-Tbc zur stationären Behandlung in das W. der Inneren Mission in L. eingewiesen. Der Chefarzt der Lungenabteilung, Dr. med. H., bestätigte die Einweisungsdiagnose in seinem Bericht vom 16. Juli 1970 und bat um Kostenübernahme, die von der Klägerin zugesagt wurde. Im November 1970 teilte er der Klägerin mit, die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) aufgrund der Siliko-Tbc betrage ca 80 vH. Der von der Klägerin zugezogene Gewerbe-Obermedizinalrat Dr. med. Z. hielt in seinem im März 1971 erstatteten Gutachten eine aktive Siliko- Tbc (Begleit-Tbc) für unwahrscheinlich, empfahl jedoch, wegen der Zunahme silikotischer Veränderungen ab Juni 1970 die Unfallrente in Höhe von 60 vH (anstatt vorher 40 vH) der Vollrente zu gewähren; dem entsprach die Klägerin.
Mit Schreiben vom 31. März 1971 forderte die Klägerin von der Beklagten die Erstattung der Heilbehandlungskosten. Ihre gegen die Beklagte und (hilfsweise) die beigeladene Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) V. gerichtete Leistungsklage hat das Sozialgericht (SG) für das Saarland zunächst durch Urteil vom 24. Juni 1977 und, nachdem dieses Urteil vom erkennenden Senat wegen Verfahrensmängeln aufgehoben worden war, durch Urteil vom 9. Oktober 1981 abgewiesen und ausgeführt: Zwar setze die Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers bereits bei Verdacht auf eine aktive Tbc ein und bleibe bestehen, bis die Fehlerhaftigkeit dieser Diagnose nachgewiesen sei. Nach § 1244a Abs 7 Reichsversicherungsordnung (RVO) entstehe aber dann kein Anspruch gegen den Rentenversicherungsträger, wenn die Tbc auf einer Berufskrankheit beruhe. Deshalb sei die Klägerin zur Heilbehandlung und auch endgültigen Kostentragung verpflichtet gewesen. Zuständig solle der Leistungsträger sein, der am schnellsten für die Heilung des Kranken und den Schutz vor Ansteckung sorgen könne. Insoweit habe die Klägerin auch zumindest bis zur Erstattung des Gutachtens durch Dr. med. Z. keine Bedenken hinsichtlich ihrer Verantwortlichkeit gegenüber der Versicherten gehabt. Deshalb entfalle auch ein Anspruch gegen die Beigeladene.
Mit der - vom SG zugelassenen - Sprungrevision macht die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts durch das SG geltend. Die Vorinstanz habe nicht beachtet, daß § 1244a Abs 7 Satz 1 RVO die Leistungszuständigkeit des Unfallversicherungsträgers nur begründe, wenn die Tbc auf einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit beruhe. Dies müsse festgestellt sein. Der bloße Verdacht eines solchen Ursachenzusammenhangs reiche, anders als in den vom Bundessozialgericht (BSG) zuungunsten des Rentenversicherungsträgers entschiedenen Fällen, nicht aus, weil Abs 7 des § 1244a RVO eine Ausnahmevorschrift sei.
Die Klägerin, die ihren Hilfsantrag gegen die Beigeladene während des Revisionsverfahrens hat fallen lassen, beantragt, das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 9. Oktober 1981 aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung von 5.229,55 DM zu verurteilen.
Die Beklagte und die Beigeladene beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist unbegründet; das SG hat deren Kostenerstattungsanspruch zu Recht verneint.
Nicht zu prüfen brauchte der Senat, ob ein Anspruch gegen die Beigeladene besteht. Zwar kann gemäß § 75 Abs 5 SGG ein nicht verklagter Versicherungsträger nach Beiladung verurteilt werden, ohne daß es eines entsprechenden Antrags bedarf. Dies gilt aber dann nicht, wenn der Kläger ausdrücklich keine Verurteilung des Beigeladenen erstrebt (BSGE 9, 67, 70 und 15, 197, 202, 203). So liegt es hier: die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 16. November 1981 ihre Revisionsanträge nochmals formuliert und dabei erklärt, daß sie den Hilfsantrag gegen die Beigeladene nicht mehr stelle.
Die Klägerin hat keine Rechtsnorm genannt, auf die sie sich unmittelbar stützen könnte; eine solche besteht auch nicht. Das die Beziehungen der Versicherungsträger zueinander und zu anderen Verpflichteten regelnde 5. Buch der RVO enthält in seinem ersten Abschnitt, Unterabschnitt III (Unfallversicherung und Rentenversicherung der Arbeiter, §§ 1522 ff RVO) nur Bestimmungen, die sich mit der umgekehrten Sachlage befassen, daß der Rentenversicherungsträger Ansprüche gegen den Träger der Unfallversicherung erheben kann.
Als Anspruchsgrundlage kommt für die Klägerin lediglich ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch (Ersatzanspruch, Abwälzungsanspruch) in Betracht. Dieser setzt voraus, daß ein nichtverpflichteter Träger des öffentlichen Rechts einem berechtigten Dritten anstatt eines verpflichteten Trägers Leistungen erbracht hat (zB BSG, Urteil vom 22. Januar 1981 - 8/8a RK 12/79 = BSGE 51, 112, 113 = SozR 2200 § 507 Nr 3); er hat zum Ziel, eine mittelbare rechtsgrundlose Vermögensverschiebung zwischen zwei Trägern öffentlicher Verwaltung unmittelbar auszugleichen (BSG, Urteil vom 16. Dezember 1976 - 10 RV 201/75 = SozR 3100 § 18c Nr 3; vgl auch § 6 Absätze 2, 3 des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation -RehaAnglG- vom 7. August 1974 und § 43 des Sozialgesetzbuchs, Allgemeiner Teil, -SGB I-, deren Anwendung hier schon deshalb ausscheidet, weil beide Vorschriften zum Zeitpunkt der Erhebung des Anspruchs noch nicht galten).
Die Klägerin macht geltend, nicht sie, sondern die Beklagte sei der Versicherten gegenüber nach § 1244a RVO zu der im W. durchgeführten stationären Behandlung und damit zur Tragung der dadurch entstandenen Kosten verpflichtet gewesen. Das trifft indessen nicht zu.
§ 1244a RVO räumt Versicherten und Rentnern, die an aktiver behandlungsbedürftiger Tbc erkrankt sind, Ansprüche auf Maßnahmen nach §§ 1236 ff RVO ein; nach § 1244a Abs 1 iVm Abs 3 RVO ist der Rentenversicherungsträger - beim Vorliegen der obigen Voraussetzungen - für eine stationäre Behandlung leistungspflichtig. Allerdings hat, worauf die Klägerin insoweit zutreffend hinweist, das BSG wiederholt entschieden, daß Sinn und Zweck der Tbc-Hilfe eine weite Auslegung des § 1244a Abs 1 RVO gebieten. Das folgt aus dem Charakter der Tbc-Hilfe, die - auch - der Seuchenbekämpfung dient und deshalb nicht zum typischen, eigentlichen Aufgabenbereich der gesetzlichen Rentenversicherung gehört. Worin generell die Aufgaben der Tbc-Hilfe bestehen, läßt sich aus §§ 48 ff des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) entnehmen. Danach soll einerseits die Heilung Tbc-Kranker gefördert und gesichert, zum anderen aber auch die Umgebung der Kranken gegen die Übertragung der Tbc geschützt werden (§ 48 Abs 1 BSHG). Dies erfordert beim Auftreten einer solchen Erkrankung unverzügliche Maßnahmen der zuständigen Behörden, zu denen als "sonstige zur Tbc-Bekämpfung verpflichtete Stellen" auch die Träger der Sozialversicherung gehören (vgl 13. Abschnitt des BSHG, Überschrift des 2. Unterabschnittes und § 132 BSHG). Deshalb muß nach dem Urteil des erkennenden Senats vom 24. November 1971 - 4 RJ 275/71 (= BSGE 33, 225 = SozR Nr 24 zu § 1244a RVO) der Rentenversicherungsträger die Kosten für eine von ihm durchgeführte stationäre Heilbehandlung wegen aktiver behandlungsbedürftiger Tbc auch tragen, wenn sich die entsprechende, vom Amtsarzt zunächst gestellte und vom ärztlichen Dienst des Rentenversicherungsträgers bestätigte Diagnose später als unrichtig erweist. Im Urteil vom 29. März 1973 - 4 RJ 73/73 (= BSGE 35, 285 = SozR Nr 32 aa0) ist im gleichen Sinn der Fall entschieden worden, daß von Anfang an nur ein Tbc-Verdacht bestand, der hernach nicht bestätigt werden konnte. Schließlich hat der Senat im Urteil vom 26. April 1977 - 4 RJ 81/76 (= BSGE 43, 279 = SozR 2200 § 1244a Nr 10) ausgeführt, der Rentenversicherungsträger sei zwar zur Tbc-Behandlung schon verpflichtet, wenn entweder der vom Rentenversicherungsträger bestellte Arzt oder der Amtsarzt beim Gesundheitsamt den Verdacht auf eine aktive behandlungsbedürftige Tbc diagnostiziert hat; gleichzeitig hat aber der Senat hervorgehoben, daß es nicht genügt, wenn irgendein behandelnder Arzt des Versicherten eine derartige Verdachtsdiagnose stellt. Der Senat hält an diesen von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen fest.
Danach scheitert der von der Klägerin gegen die Beklagte geltend gemachte Anspruch auch deshalb, weil jedenfalls nicht der Beklagten die Verpflichtung zur Behandlung und Kostentragung obgelegen hat. Es ist weder von der Klägerin behauptet noch vom SG festgestellt worden noch sonst dem Sachverhalt, der sich dem Senat darbietet, zu entnehmen, daß der ärztliche Dienst der Beklagten oder der Amtsarzt beim Gesundheitsamt die aktive Erscheinungsform einer behandlungsbedürftigen Tbc diagnostiziert habe. Die Beklagte hat keinerlei Einfluß auf die Behandlung der Versicherten nehmen können. Sie ist auch vom Amtsarzt (Gesundheitsamt) nicht dazu angehalten worden, sich in irgendeiner Form einzuschalten. Bestand aber für einen Leistungsträger keine Möglichkeit der Einflußnahme, so soll dieser grundsätzlich auch zu den Kosten nichts beizutragen haben (vgl BSG, Urteil vom 5. Juli 1978 - 1 RA 51/77 = BSGE 47, 7, 10 = SozR 2200 § 1244a Nr 13).
Für das somit gewonnene Ergebnis spricht auch, daß die Klägerin als Trägerin der Unfallversicherung die größere Sachnähe zu der Leistung hat, die der Versicherten erbracht worden ist. Auch die Unfallversicherungsträger gehören zu den sonstigen zur Tbc-Bekämpfung verpflichteten Stellen iS des § 132 BSHG. Im Verhältnis zur Unfallversicherung enthält § 1244a Abs 7 RVO eine Abgrenzungsvorschrift, wonach (Satz 1) "die vorstehenden Vorschriften", also Absätze 1 bis 6, ua nicht gelten, wenn die Tbc auf einer Berufskrankheit beruht. Nun hat bei der Versicherten - jedenfalls nach Ansicht der Klägerin - überhaupt keine Tbc bestanden, so daß, folgte man dieser Auffassung, weder eine Leistungspflicht des Rentenversicherungsträgers nach § 1244a RVO noch - mangels Anerkennung als Berufskrankheit - eine solche des Unfallversicherungsträgers eingetreten wäre (vgl § 556 Abs 2 RVO). Damit entfiele aber jedenfalls auch eine Leistungspflicht der Beklagten. Genügt aber für die Leistungspflicht der bloße Verdacht auf Vorliegen einer aktiven Tbc, ungeachtet der Frage, ob sich dieser Verdacht später bestätigt oder nicht, so greift die Abgrenzung zwischen Rentenversicherungs- und Unfallversicherungsträger nach § 1244a Abs 7 RVO auch schon dann ein, wenn der Verdacht auf die Tbc im Zusammenhang mit einer Berufskrankheit steht. Im Verhältnis dieser beiden Träger zueinander kann jedoch aufgrund der nicht nur vom Hausarzt, sondern auch vom Chefarzt Dr. H. im W. gestellten Diagnose einer aktiven Siliko-Tbc allein die Leistungspflicht der Unfallversicherung - und nicht der Rentenversicherung - in Betracht kommen. Denn es ist auch nach dem Vorbringen der Klägerin keine (Verdachts-) Diagnose einer "normalen" aktiven Tbc gestellt worden. Die Abgrenzungsvorschrift des § 1244a Abs 7 RVO muß hier umso eher zu Lasten des Unfallversicherungsträgers eingreifen, als bei der Versicherten eine Silikose (III. Grades) bereits als Berufskrankheit anerkannt war und zudem die Zusammenhänge zwischen Silikose und Siliko-Tbc in der Unfallversicherung stets ein Rolle gespielt haben (zur Problematik im einzelnen vgl Brackmann, Handbuch der SV, Stand: Juni 1982 S 491 s I, s II, t und u). Vermutlich hat sich die Klägerin auch deshalb gegenüber dem W. mit der Kostenübernahme einverstanden erklärt. Die damit - jedenfalls zunächst - anerkannte sachliche Zuständigkeit, die nach § 49 Abs 2 Nr 2 BSHG auch die stationäre Beobachtung zur Klärung diagnostischer Fragen umfaßt, soll dem in § 135 Abs 1 BSHG zum Ausdruck gebrachten allgemeinen Grundsatz zufolge bis zur Beendigung der Heilbehandlung bestehen bleiben.
Aus diesen Gründen kann weder aus der Sicht zum Zeitpunkt der Einweisung der Versicherten in das W. noch im nachhinein eine Verpflichtung der Beklagten angenommen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen