Entscheidungsstichwort (Thema)

Rentenversicherungspflicht. Lehrlings-Taschengeld

 

Orientierungssatz

Die neben dem freien Unterhalt einem Lehrling gewährte Barvergütung (Taschengeld) führte in den Jahren 1937 bis 1940 nur dann zu einer kraft Gesetzes eintretenden Invalidenversicherung, wenn sie nicht nur geringfügig war. Die Prüfung, ob die Barvergütung geringfügig war, war durch einen Vergleich mit dem jeweiligen Ortslohn vorzunehmen. Dabei bildete ein Drittel des Ortslohnes keine starre Grenze, diese Marke konnte vielmehr je nach den Umständen des Einzelfalles auch unterschritten werden.

 

Normenkette

RVO § 1226 Abs 1 Nr 4 Fassung: 1924-12-15

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 27.08.1982; Aktenzeichen L 6 J 74/81)

SG Mainz (Entscheidung vom 04.12.1980; Aktenzeichen S 3 J 60/80)

 

Tatbestand

Der am 9. März 1922 geborene Kläger schloß am 1. April 1937 mit dem Bevollmächtigten des Reichsluftfahrtministeriums (BfL) für das Luftfahrtindustriepersonal einen Lehrvertrag über die vom 5. April 1937 bis zum 4. April 1941 dauernde Ausbildung als Metallflugzeugbauer-Lehrling. In § 4 Satz 1 des Vertrages heißt es: "Dem Lehrling wird freie Unterkunft und Verpflegung sowie ein im freien Ermessen des Lehrherrn stehendes Taschengeld von mindestens 0,50 RM je Woche gewährt". Der Kläger wurde in einem Flugzeugwerk in O (B) dem Vertrag entsprechend ausgebildet und bestand im Mai 1940 die Lehrabschlußprüfung. Die Lehrzeit endete nach einer Bescheinigung der Lehrfirma am 31. Mai 1940, nach dem Arbeitsbuch sowie nach der Entlassungsanzeige vom 1. Oktober 1940 dagegen am 30. September 1940. Während der Lehrzeit wurde der Kläger auch als "Militärschüler der technischen Vorschule der Luftwaffe" bezeichnet. Er erhielt nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) neben freier Unterkunft und Verpflegung lediglich ein Taschengeld von 2,00 RM monatlich im ersten, 4,00 RM monatlich im zweiten und 6,00 RM monatlich im dritten Lehrjahr. Ab 15. Oktober 1940 leistete er Kriegsdienst. Von Dezember 1945 an war er bei der Reichsbahn (Bundesbahn) beschäftigt, zuletzt als Technischer Bundesbahn-Betriebsinspektor (Sig).

Der Kläger stellte im August 1958 bei der Beklagten einen Antrag auf Wiederherstellung von Versicherungsunterlagen, in dem er angab, er habe während der vom 5. April 1937 bis zum 30. September 1940 dauernden Lehrzeit außer Kost und Logis einen Barlohn von 3,00 RM im ersten, 6,00 RM im zweiten und 9,00 RM im dritten Lehrjahr erhalten. Die Beklagte erließ am 24. November 1958 einen Feststellungsbescheid, in dem für die Zeit vom 15. Oktober 1940 bis zum 22. November 1945 eine Ersatzzeit des Kriegsdienstes anerkannt wurde.

Mit Bescheid vom 5. Oktober 1973 hob die Beklagte den Feststellungsbescheid vom 24. November 1958 auf und erkannte die Zeiten vom 5. April 1937 bis 30. September 1940 sowie vom 15. Oktober 1940 bis 22. November 1945 als Ersatzzeiten nach § 1251 Abs 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) an.

Im Mai 1979 beantragte der Kläger bei der Beklagten Rente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit. Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 17. August 1979 für die Zeit vom 1. Mai 1979 an eine auf freiwilligen Beiträgen beruhende Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Zeit vom 5. April 1937 bis zum 22. November 1945 sah sie zwar weiterhin als Ersatzzeit an, rechnete sie aber nicht an, weil weder vorher eine Versicherung bestanden habe noch danach eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden sei.

Mit der Klage hat der Kläger beantragt, den Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Lehrzeit als Beitragszeit anzuerkennen und die Rente neu zu berechnen. Das Sozialgericht (SG) Mainz hat mit Urteil vom 4. Dezember 1980 dem Antrag entsprochen. Auf die Berufung der Beklagten hin hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben, die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Der Kläger habe zwar in einem echten Lehrverhältnis gestanden, aber kein invalidenversicherungspflichtiges Entgelt erhalten und deshalb nicht der Beitragspflicht zur Invalidenversicherung unterlegen. Seine Barvergütung habe ein Sechstel des Ortslohnes nicht überschritten.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 1 Ver- sicherungsunterlagen-Verordnung, des § 1226 Abs 2 RVO aF und des § 128 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Er trägt vor: Das LSG habe einen unzutreffenden Entgeltbegriff zugrunde gelegt. Der Betrag von 9,00 RM monatlich habe ein Sechstel des Ortslohnes überschritten. Die Feststellung des LSG über das Taschengeld sei verfahrensfehlerhaft zustandegekommen. Über das Taschengeld im vierten Lehrjahr habe das LSG überhaupt keine Feststellungen getroffen. Er, der Kläger, habe in diesem Zeitraum tatsächlich ein Taschengeld von 12,00 RM monatlich erhalten. Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 4. Dezember 1980 als unbegründet zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Auf ihren Schriftsatz vom 21. Januar 1983 wird Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 17. August 1979 ist, wie das LSG zutreffend entschieden hat, rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine höhere Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Die Beklagte sieht die Zeit der Lehrlingsausbildung als Ersatzzeit an, der Kläger bezeichnet diese Zeit als Beitragszeit, während der eine (Renten-)Versicherung bestanden habe. Das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage ergibt sich daraus, daß der Kläger im Fall des Obsiegens eine höhere Rente bekommen würde. Die Ersatzzeit des militärischen Dienstes und der Kriegsgefangenschaft wäre rentensteigernd anzurechnen, wenn eine Versicherung vorher bestanden hätte. Der Kläger hat jedoch nicht glaubhaft gemacht (§ 1 der Verordnung über die Feststellung von Leistungen aus den gesetzlichen Rentenversicherungen bei verlorenen, unbrauchbar gewordenen oder nicht erreichbaren Versicherungsunterlagen, Versicherungsunterlagen-Verordnung - VuVO - vom 3. März 1960 - BGBl I S 137 -), daß für die Lehrlingszeit nach früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung Beiträge wirksam entrichtet worden sind oder als entrichtet zu gelten hätten.

Die in der Zeit von 1937 bis 1941 geltenden Vorschriften der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung sahen in § 1226 Abs 1 Nr 4 RVO eine Versicherungspflicht für den Fall der Invalidität und des Alters sowie zugunsten der Hinterbliebenen für Gehilfen und Lehrlinge vor, soweit diese nicht nach dem Angestelltenversicherungsgesetz versicherungspflichtig oder versicherungsfrei waren. Voraussetzung der Versicherung war für die in § 1226 Abs 1 unter Nr 1, 3 und 4 RVO bezeichneten Personen, daß sie gegen Entgelt (§ 160 RVO aF) beschäftigt waren (§ 1226 Abs 2 RVO aF). Zum Entgelt im Sinn der RVO gehörten nach § 160 RVO aF neben Gehalt oder Lohn auch Gewinnanteile, Sach- und andere Bezüge, die der Versicherte, wenn auch nur gewohnheitsmäßig, statt des Gehaltes oder Lohnes oder neben ihm von dem Arbeitgeber oder einem Dritten erhielt. Jedoch war eine Beschäftigung, für die als Entgelt nur freier Unterhalt gewährt wurde, versicherungsfrei (§ 1227 RVO aF). Zahlte der Arbeitgeber neben dem freien Unterhalt noch eine Vergütung in bar, so entstand die Frage, ob in derartigen Fällen § 1226 oder § 1227 RVO aF anzuwenden war. Diese Frage war vor allem dann von Bedeutung, wenn der Barbetrag nur eine unbedeutende Höhe gegenüber dem Wert des freien Unterhalts hatte und somit als unselbständige Nebenleistung charakterisiert werden konnte, die das rechtliche Schicksal der Hauptleistung zu teilen hatte.

Das Reichsversicherungsamt (RVA) hat hierzu mehrfach allgemeine Regeln aufgestellt. In dem Bescheid vom 9. August 1927 (EuM 21, 86, Nr 6) und in dem Runderlaß vom 19. Februar 1930 (EuM 26, 507, Nr 54) hat es eine Barvergütung, die neben freiem Unterhalt gewährt wird und ein Drittel des ortsüblichen Tageslohnes nicht übersteigt, als geringfügig und somit als unselbständigen Bestandteil des freien Unterhalts angesehen. Später hat es "im Rechtszuge" grundsätzlich ausgesprochen, daß die bisherige allgemeine Grenze von einem Drittel des Ortslohnes unter Umständen sehr wohl unterschritten werden kann, wenn nicht allein Barvergütung, sondern auch Kost und Wohnung gewährt werden, daß aber die Festsetzung einer Grenze der Entscheidung des Einzelfalles vorbehalten bleiben muß (Grundsätzliche Entscheidung vom 30. März 1933, AN IV 197). Ein Jahr vorher hatte der ständige Ausschuß des Reichsverbandes deutscher Landesversicherungsanstalten in Übereinstimmung mit der Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände und dem Reichsverband des deutschen Handwerks in den Richtlinien vom 1. März 1932 unter Nr 3 ausgeführt: "Ein Lehrling, der neben freiem Unterhalt eine Barvergütung erhält, unterliegt der Invalidenversicherungspflicht, wenn die Barvergütung ein Sechstel des jeweiligen Ortslohnes überschreitet" (Beurskens/Grintsch, AmtlMittLVA Rheinprov 1971, 310, 314, unter IV).

Unter Beachtung dieser Umstände ist davon auszugehen, daß die neben dem freien Unterhalt einem Lehrling gewährte Barvergütung (Taschengeld) in den Jahren 1937 bis 1940 nur dann zu einer kraft Gesetzes eintretenden Invalidenversicherung führte, wenn sie nicht nur geringfügig war. Die Prüfung, ob die Barvergütung geringfügig war, war durch einen Vergleich mit dem jeweiligen Ortslohn vorzunehmen. Dabei bildete ein Drittel des Ortslohnes keine starre Grenze, diese Marke konnte vielmehr je nach den Umständen des Einzelfalles auch unterschritten werden. Für die Entscheidung des Einzelfalles konnten die Richtlinien vom 1. März 1932 und die sich aus diesen ergebende ständige Übung der Invalidenversicherungsträger einen wesentlichen Anhalt geben. Wenn das LSG im Fall des Klägers die Auffassung vertreten hat, daß die Barvergütung ein Sechstel des Ortslohnes überschritten haben muß, um neben dem freien Unterhalt ein invalidenversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis begründen zu können, so ist diese Auffassung nicht zu beanstanden.

Die Barvergütung hat die Grenze nicht überschritten, und zwar selbst dann nicht, wenn der Senat die vom Kläger in der Revisionsbegründung behaupteten Beträge zugrunde legen würde, obwohl der Vortrag im Gegensatz zu den Feststellungen des LSG steht. Selbst wenn der Kläger ein monatliches Taschengeld (= Barvergütung) von 3,00 RM im ersten, 6,00 RM im zweiten, 9,00 RM im dritten und 12,00 RM im vierten Lehrjahr erhalten haben sollte, wäre die Grenze von einem Sechstel des Ortslohnes nicht überschritten.

Der Ortslohn betrug im Kreis O (Bezirk des Oberversicherungsamtes Magdeburg) ab 1. Januar 1933 für männliche Arbeitnehmer im Alter von - 14 bis 16 Jahren 1,65 RM und von - 16 bis 21 Jahren 2,85 RM (vgl Klapdor, Die Bedeutung der Ortslöhne im Kartenersatz- und Wiederherstellungsverfahren, MittLVA BE 1964, 145, 148).

Da der Kläger am 9. März 1938, also im Verlauf des ersten Lehrjahres, das 16. Lebensjahr vollendet hat, ist dem Ortslohn von 1,65 RM bzw dem 0rtslohn-Sechstel von 0,28 RM je Tag ein Taschengeld von - angenommen - 3,00 RM gegenüberzustellen. Teilt man den Betrag von 3,00 RM durch 4,33 (§ 1262 Abs 3 RVO aF) und sodann durch 6 (Arbeitstage; vgl Beurskens/Grintsch, aa0), so ist das Ergebnis 0,12 RM, also weniger als das Ortslohn-Sechstel. Für die weiteren Lehrjahre ist mit dem Ortslohn von 2,85 RM bzw dem 0rtslohn-Sechstel von 0,48 RM ein Taschengeld von - angenommen - höchstens 12,00 RM/Monat bzw 0,46 RM/Tag zu vergleichen; auch dann liegt das Taschengeld unter Ortslohn-Sechstel.

Da sonach das Taschengeld (die Barvergütung) des Klägers selbst bei Zugrundelegung der mit der Revision vorgetragenen Beträge unbedeutend war, konnte es auch in Verbindung mit dem freien Unterhalt keine Versicherungspflicht begründen. Die Revision war als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659253

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