Entscheidungsstichwort (Thema)
Treu und Glauben im Beitragsrecht
Leitsatz (amtlich)
Nimmt der Versicherungsträger den Versicherten rückwirkend als freiwilliges Mitglied der knappschaftlichen Krankenversicherung auf, so begründet dies keine Beitragspflicht für die Vergangenheit, wenn der Versicherte aufgrund des bisherigen Verhaltens des Versicherungsträgers keine Kenntnis vom bestehenden Versicherungsschutz hatte.
Orientierungssatz
Behandelt ein Krankenversicherungsträger einen Versicherten zunächst als Nichtmitglied, so steht einer späteren Beitragsnachforderung der Einwand von Treu und Glauben (venire contra factum proprium) entgegen.
Normenkette
RVO § 313 Abs 2; BGB § 242 Fassung: 1896-08-18
Verfahrensgang
SG Hannover (Entscheidung vom 03.12.1982; Aktenzeichen S 12 Kn (Kr) 135/81) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger verpflichtet ist, für die Zeit vom 21. Februar bis 31. Dezember 1980 eine Beitragsnachzahlung zur freiwilligen knappschaftlichen Krankenversicherung (KV) in Höhe von DM 890,02 zu leisten.
Der Kläger bezieht seit dem 1. August 1974 Knappschaftsruhegeld und ist infolgedessen Mitglied der knappschaftlichen Krankenversicherung der Rentner (KVdR). Die vorher aufgrund seiner Bergarbeit bestehende Mitgliedschaft in der knappschaftlichen KV setzte er wegen der hohen Beiträge nicht fort, sondern schloß eine Zusatzversicherung mit einer privaten KV ab.
Nachdem der erkennende Senat mit Urteil vom 30. März 1977 (SozR 2600 § 120 Nr 1) entschieden hatte, daß die satzungsmäßig festgesetzten Beiträge für diejenigen Versicherten zu hoch bemessen seien, die zunächst die Leistungen der knappschaftlichen KVdR und nur für den dann noch verbleibenden Rest der Aufwendungen die freiwillige KV in Anspruch nehmen, setzte die Beklagte mit der am 1. Juli 1977 in Kraft getretenen Satzungsänderung die Beiträge für diese Versicherten herab. Des weiteren beschloß der Vorstand der Beklagten am 19. Juni 1980, daß allen Rentnern, die bei Aufgabe der Bergarbeit und Übergang zum Rentenbezug in einem Zeitpunkt nach Inkrafttreten der Satzung der Bundesknappschaft (1. Oktober 1970) auf die freiwillige Weiterführung ihrer Mitgliedschaft verzichtet haben, dann ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zusteht, wenn sie erklären, daß sie seinerzeit die Anzeige zur freiwilligen Weiterversicherung nach § 313 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) wegen der unrechtmäßigen Beitragshöhe unterlassen haben und diese Anzeige bei einem entsprechenden Hinweis auf die bevorstehende Klärung der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Beitragsgestaltung abgegeben hätten, und wenn sie außerdem die Anzeige bis zum 31. Dezember 1977 nachgeholt haben. Ferner beschloß der Vorstand der Beklagten, alle freiwillig versicherten Angestelltenrentner, die einen Herstellungsanspruch vor dem 21. Februar 1980 (Tag der BSG-Entscheidungen 5 RKn 19/78 und 27/78) geltend gemacht und zwischenzeitlich keine Mehraufwendungen an Krankenhauspflegekosten und Zahnersatz angemeldet haben bzw auch nicht nachträglich anmelden werden, zur Beitragszahlung erst ab 21. Februar 1980 heranzuziehen.
Der Kläger beantragte im zweiten Halbjahr 1977 beim Knappschaftsältesten der Beklagten die Aufnahme als freiwilliges Mitglied in die knappschaftliche KV. Dieser nahm den Antrag mit der Begründung nicht an, daß die Frist des § 313 Abs 2 RVO versäumt worden sei. Am 22. Dezember 1980 stelle der Kläger bei der Beklagten erneut einen Antrag auf freiwillige Mitgliedschaft. Nach Kenntnisnahme der Bestätigung des Knappschaftsältesten vom 28. Dezember 1980 über den im 2. Halbjahr 1977 gestellten und abgelehnten Antrag des Klägers sowie dessen Erklärung, 1974 die Anzeige zur freiwilligen Weiterversicherung wegen der unrechtmäßigen Beitragshöhe unterlassen zu haben, nahm die Beklagte den Kläger mit Bescheid vom 4. März 1981 als freiwilliges Mitglied rückwirkend auf. Gleichzeitig forderte sie von ihm für die Zeit vom 21. Februar 1980 bis 31. Dezember 1980 DM 890,02 an Beitragsleistungen. Nachdem der vom Kläger gegen die Nachzahlungsverpflichtung gerichtete Widerspruch von der Beklagten zurückgewiesen wurde (Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 1981), zahlte der Kläger vorsorglich zur Vermeidung künftiger Schwierigkeiten die erhobenen Beiträge.
Auf die gegen die Beitragsnachforderung gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Hannover mit Urteil vom 3. Dezember 1982 die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 4. März 1981 sowie des Widerspruchsbescheids vom 14. Mai 1981 zur Rückerstattung des Nachzahlungsbetrages von DM 890,02 verpflichtet. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Die freiwillige Mitgliedschaft in der knappschaftlichen KV sei erst durch den Antrag vom 18. Dezember 1980 und dessen Annahme vom 4. März 1981 begründet worden. Der 1977 gestellte Antrag sei lediglich als Interessenbekundung zu werten. Ferner sei er durch die Zurückweisung durch den Knappschaftsältesten auch nicht angenommen worden. Auch sei eine Beitragsnachforderung als unbillig anzusehen, weil die Beklagte dann Beiträge für einen Zeitraum erhielte, in dem sie keinerlei Risiko getragen habe.
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil mit Zustimmung des Klägers die vom SG zugelassene Sprungrevision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 313 Abs 2 RVO durch das Erstgericht.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die vom SG zugelassene und mit Zustimmung des Klägers eingelegte Sprungrevision der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.
Die Beklagte hat im Anschluß an die Urteile des erkennenden Senats vom 21. Februar 1980, 5a RKn 19/78 (BSGE 50, 12 = SozR 2200 § 313 Nr 6) und 5 RKn 27/78 (USK 80 131) durch Vorstandsbeschluß vom 19. Juni 1980 allgemein den Versicherten, die nach Inkrafttreten der Satzung der Beklagten am 1. Oktober 1970 "wegen der unrechtmäßigen Beitragshöhe" auf die Weiterversicherung verzichtet hatten, einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch eingeräumt, wenn sie die Anzeige iS des § 313 Abs 2 RVO bis zum 31. Dezember 1977 nachgeholt hatten. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger deshalb - entgegen der Auffassung des SG - bereits durch seinen im zweiten Halbjahr 1977 gestellten "Antrag" kraft Gesetzes freiwilliges Mitglied der knappschaftlichen KV geworden ist (vgl hierzu bejahend Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tage in der Sache 5a RKn 9/82), weil die Beklagte den Kläger jedenfalls mit Bescheid vom 4. März 1981 als freiwilliges Mitglied rückwirkend aufgenommen hat und zwischen den Beteiligten nur streitig ist, ob die Beklagte aufgrund dieser rückwirkenden Aufnahme berechtigt ist, für die Zeit vom 21. Februar 1980 bis 31. Dezember 1980 Beitragszahlungen zu verlangen. Dies ist im angefochtenen Urteil im Ergebnis zutreffend verneint worden.
Dem Anspruch der Beklagten auf die Nachentrichtung von Beiträgen für den streitigen zeitraum steht nämlich der Einwand von Treu und Glauben (venire contra factum proprium) entgegen. Der Rechtsmißbrauch ist darin zu sehen, daß die Beklagte den Kläger bis zur Erteilung des Bescheides vom 4. März 1981 als Nichtmitglied behandelt hat und deswegen der Kläger auch eine Zusatzversicherung mit einer privaten Krankenkasse abgeschlossen hatte. Bereits das Reichsversicherungsamt (RVA) hat für den Bereich der KV den Einwand von Treu und Glauben zugelassen, wenn die unterbliebene Beitragsentrichtung auf das Verschulden der Krankenkasse zurückzuführen war (vgl RVA in AN 17, 396; 37, 73). Dieser Rechtsprechung ist das Bundessozialgericht (BSG) beigetreten (vgl BSGE 17, 173, 176; 21, 52, 55). Die neuere Rechtsprechung des BSG hat ein Verschulden nicht mehr gefordert, sondern entscheidend auf die fehlende Kenntnis von der Möglichkeit des Gebrauchmachens der aus dem Versicherungsverhältnis als Instrument der Daseinsvorsorge erwachsenden Berechtigungen und damit auf die nicht vorhandene Wechselbeziehung von Beitragspflicht und Leistungsansprüchen abgestellt. Sie hat unter diesem Gesichtspunkt die Fälle gleichbehandelt, in denen rückwirkend eine Versicherungspflicht begründet worden ist und die, in denen ein Versicherungsverhältnis von Anfang an bestand (vgl BSGE 39, 235, 236; 51, 90, 97).
Entgegen der Auffassung der Beklagten steht der Nichtverpflichtung zur Beitragsleistung trotz bestehenden Versicherungsschutzes nicht entgegen, daß an sich die Möglichkeit gegeben ist, rückwirkend die dem Kläger erwachsenen Krankheitsaufwendungen zu erstatten. Diese Vergütungsart ist wegen des herrschenden Sachleistungsprinzips systemwidrig. Sie könnte im übrigen auch nicht die dem Kläger entstandenen Kosten für die private Zusatzversicherung abdecken, die der Kläger infolge der früheren Ablehnung seiner freiwilligen Mitgliedschaft durch die Beklagte abgeschlossen hatte. Hinzu kommt, daß sich der Versicherungsschutz nicht nur in der Entlastung von bereits aufgewendeten Krankheitskosten erschöpft, sondern er soll es dem Versicherten auch ermöglichen, alle vorbeugenden Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit zu ergreifen. Dies kann er aber nur dann, wenn ihm sein Versicherungsschutz bekannt ist. Deswegen kann ein Beitragsanspruch auch nur bei entsprechender Kenntnis seitens des Versicherten bestehen (so auch BSGE 51, 90, 98). Diese fehlte dem Kläger aufgrund des bisherigen Verhaltens der Beklagten aber gerade.
Der Sprungrevision der Beklagten muß nach alledem der Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 1659157 |
Breith. 1984, 839 |