Orientierungssatz

Anwendbarkeit von § 4 des Gesetzes über die Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung (NVG) nach Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungsneuregelungsgesetzes (ArVNG):

Für eine Weitergeltung des NVG § 4 Abs 3 neben dem nunmehr gültigen RVO § 1251 Abs 1 Nr 4 ist kein Raum. Um einen Ausgleich für einen durch die Berechnungsweise des neuen Rechts nicht gedeckten Schaden herbeiführen zu können, gelten jedoch die NVG § 4 Abs 4 und 5 sinngemäß weiter.

 

Normenkette

NVG § 4 Abs. 3-5; ArVNG Art. 3 § 2; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 07.06.1967)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 04.11.1966)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. Juni 1967 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger war im Oktober 1933, aus rassischen Gründen vom Nationalsozialismus verfolgt, aus Deutschland geflohen. Zur Rentenversicherung waren für ihn zuletzt Beiträge der Kl. 6 entrichtet worden. Bei Bewilligung des Altersruhegeldes vom 1. April 1964 an berücksichtigte die Beklagte (Bescheid vom 29. März 1966) die der Auswanderung bis Ende 1949 folgenden Jahre als Ersatzzeiten, und zwar als Zeiten des durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufenen Auslandsaufenthalts (§ 1251 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Mit der Klage hat der Kläger eine ihm günstigere Rentenberechnung in der Weise gefordert, daß die Ersatzzeiten nicht lediglich als anrechnungsfähige Versicherungszeiten, sondern bei Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage wie mit Beiträgen der Kl. 6 zurückgelegte Zeiten zu bewerten seien. Eine Probeberechnung habe ergeben, daß die Rente dann - abgestellte auf den 1. Januar 1966 - monatlich DM 200,80 statt der tatsächlich bewilligten DM 188,60 betragen würde.

Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat mit Urteil vom 4. November 1966 der Klage entsprochen; das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat sie dagegen durch Urteil vom 7. Juni 1967 abgewiesen. Es hat angenommen, die Vorschrift, auf die sich der Kläger stütze, nämlich § 4 Abs. 1 und 3 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung vom 22. August 1949 (WiGBl S. 263) - VerfolgtenG - sei nicht mehr geltendes Recht. Infolgedessen seien für Ersatzzeiten nicht mehr, wie es nach jenem Gesetz vorgesehen war, Steigerungsbeträge nach der Klasse des vor den Ersatzzeiten entrichteten letzten Beitrags zu gewähren. Für § 4 VerfolgtenG sei neben der - in sich abgeschlossenen und erschöpfenden - Neuregelung des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO kein Platz. Diese Vorschrift sei infolgedessen gemäß Art. 3 § 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) außer Kraft getreten. - Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat das Rechtsmittel eingelegt und beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben sowie die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen oder den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, sowie den Großen Senat anzurufen. Er meint, die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Auffassung sei mit der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Behandlung von Verfolgten-Ersatzzeiten unvereinbar. Darüber hinaus widerspreche die Entscheidung der Verpflichtung, welche die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtsverbindlich im Vierten Teil des Vertrages zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen vom 26. Mai 1952 (BGBl 1955, II 301, 405, 431; Zustimmungsgesetz vom 24. März 1955 - BGBl III 213 -) eingegangen sei. Darin habe die Bundesrepublik zugesagt, daß sie die seinerzeit gültigen Regelungen auch künftig nicht zum Nachteil der Berechtigten ändern werde. Dieser internationalen Vereinbarung werde allein die Ansicht gerecht, daß § 4 VerfolgtenG gegenwärtig noch in vollem Umfang rechtsbeständig sei.

Die Beklagte hat die Zurückweisung der Revision beantragt. Sie weist ergänzend darauf hin, daß dem Kläger kein Schaden in der Sozialversicherung entstanden sein könne. Er sei, wie er selbst angegeben und wie die Ermittlungen im Verwaltungsverfahren ergeben hätten, lange vor dem Beginn jeglicher Verfolgung aus dem Kreis unselbständiger, versicherungspflichtiger Personen ausgeschieden. Von 1920 bis 1926 sei er in der Landwirtschaft und danach bis 1929 in einer Tabakgroßhandlung als Arbeiter beschäftigt gewesen. Später habe er sich bis zu seiner Auswanderung im Jahre 1933 als selbständiger Kaufmann betätigt. Es entfalle mithin die Möglichkeit, daß der Kläger durch Verfolgungsmaßnahmen aus einer besser bezahlten Arbeitnehmerstellung verdrängt oder an dem Aufstieg in einer solchen Position gehindert worden sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision hat ... Erfolg.

Den Ausführungen des Berufungsgerichts zum Verhältnis des § 4 VerfolgtenG zu § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO vermag der erkennende Senat nur zum Teil zu folgen. Er pflichtet der Auffassung bei, daß § 4 Abs. 3 VerfolgtenG durch das ArVNG außer Kraft gesetzt worden ist (Art. 3 § 2 ArVNG). § 4 Abs. 3 VerfolgtenG kann deshalb auf Versicherungsfälle aus der Zeit nach 1956 - um einen solchen Fall handelt es sich im gegenwärtigen Rechtsstreit - nicht mehr angewendet werden. Das hat das BSG bereits wiederholt entschieden (SozR Nrn 8, 9, 11 und 12 zu VerfolgtenG Allg). In dem Urteil 4 RJ 127/64 vom 29. November 1967 hat das BSG sich besonders mit der Frage auseinandergesetzt, ob seiner Rechtsprechung die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik aus dem sogenannten Überleitungsvertrag entgegensteht. Das BSG hat dies verneint, weil der Forderung nach einer "angemessenen Entschädigung" der Verfolgten die Ersatzzeitenregelung des neuen Rechts in einer dem § 4 Abs. 3 VerfolgtenG entsprechenden Weise gerecht wird. Nach früherem Recht wirkten sich Ersatzzeiten nur dann leistungssteigernd aus, wenn für sie - wie nach den Absätzen 1 und 3 des § 4 VerfolgtenG - Steigerungsbeträge gutzubringen waren. Nach der seit 1957 geltenden Rentenberechnungsformel wird ein vergleichbarer Effekt dadurch erzielt, daß Ersatzzeiten die Zahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre vermehren (§ 1258 Abs. 1 RVO). In Verbindung mit dieser Wirkung erfüllt also § 2151 Abs. 1 Nr. 4 RVO die gleiche Funktion, die vorher § 4 Abs. 3 i. V. m. Absatz 1 VerfolgtenG wahrnahm. Von einem Nebeneinander der beiden Vorschriften ist sonach nicht auszugehen, weil es dem Gesetzgeber der Rentenversicherungsreform des Jahres 1957 erklärtermaßen darum zu tun war, die in verschiedenen Sondergesetzen enthaltenen Normen über Ersatzzeiten zusammenzufassen und den Eigentümlichkeiten des neuen Rechts zu unterwerfen (Begründung des RegEntw. zu § 1256, Bundestagsdrucks. II 2437 S. 71).

Andererseits ist dem Vereinheitlichungswillen des Reformgesetzes dort eine Schranke gesetzt, wo dem bislang anerkannten Bedürfnis nach Ausgleich eines weitergehenden Verfolgungsschadens im neuen Recht nicht entsprochen wird. Diesem weitergehenden Ausgleichsbedürfnis genügen nur die Absätze 4 und 5 des § 4 VerfolgtenG . Infolgedessen sind diese Absätze auch auf spätere Versicherungsfälle sinngemäß anzuwenden (BSG SozR Nrn 11, 12 zu Verfolgten G Allg). In diesem Punkt stimmt mithin der erkennende Senat dem Berufungsgericht, das § 4 VerfolgtenG in seiner Gesamtheit als aufgehoben angesehen hat, nicht zu.

Der Versicherte vermag nach dem vorher Gesagten einen Nachteil, der ihm in der Rentenversicherung durch Ausfall, Entgang oder Minderung von Arbeitsentgelt während der Verfolgungszeiten entstanden ist und nicht ohnehin schon durch die Gewährung von Ersatzzeiten ausgeglichen wird, geltend zu machen. In diesen Richtungen hat das Berufungsgericht, weil es dazu von seinem Rechtsstandpunkt her keine Veranlassung sah, den Sachverhalt nicht geprüft. Das Berufungsurteil muß deshalb aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

Der Senat folgt nicht der Anregung der Revision, den Großen Senat mit der Frage der Anwendbarkeit des § 4 Abs. 3 VerfolgtenG auf einen Fall wie den vorliegenden zu befassen. Für eine Anrufung des Großen Senats bietet § 43 SGG - nur diese Vorschrift kommt hier in Betracht - keine Handhabe, da weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Großen Senats erfordert.

Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG in seinem abschließenden Urteil mitzubefinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2375160

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