Orientierungssatz
Anwendbarkeit von § 4 des Gesetzes über die Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung (NVG) nach Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungsneuregelungsgesetzes (ArVNG):
NVG § 4 Abs 1 und 3 sind durch ArVNG Art 3 § 2 außer Kraft gesetzt worden und können deshalb auf Versicherungsfälle aus der Zeit nach 1956 nicht mehr angewandt werden (vgl BSG 1967-08-30 4 RJ 317/65, BSG 1967-11-29 4 RJ 127/64).
Hingegen gilt NVG § 4 Abs 4 sinngemäß weiter und ermöglicht es, einen Ausgleich für einen durch die Berechnungsweise des neuen Rechts nicht gedeckten Schaden herbeizuführen.
Normenkette
NVG § 4 Abs. 1, 3-4; ArVNG Art. 3 § 2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 29.03.1967) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. März 1967 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Klägerin ist die Witwe des im November 1961 verstorbenen jüdischen Geschäftsinhabers Paul S (S). Dieser hatte bis 1915 in Hamburg zur deutschen Invalidenversicherung Beiträge für 27 Monate (105 Wochenbeiträge der Klasse II und 11 Wochenbeiträge der Klasse V) entrichtet. Nachdem er von 1915 bis Ende 1918 Kriegsdienst geleistet hatte, war er von 1919 bis 1924 im H Geschäft seines Vaters als Geschäftsführer - ohne Zugehörigkeit zur Rentenversicherung - und anschließend bis 1938 als Mitinhaber tätig. Dann wanderte er, vom Nationalsozialismus verfolgt, in die USA aus. Dort war er zunächst Angestellter und von 1943 bis 1961 Geschäftsinhaber.
Durch Bescheid vom 25. Mai 1966 bewilligte die beklagte Landesversicherungsanstalt der Klägerin Witwenrente vom 1. Juli 1965 an, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965. Der Rentenberechnung liegen neben den Beitragszeiten und einer Ausfallzeit von 17 Monaten die Wehrdienstzeit von 42 Monaten und eine Verfolgungszeit von 135 Monaten als Ersatzzeiten zugrunde. Die Ersatzzeiten hat die Beklagte lediglich in die Zahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre einbezogen, Werteinheiten dafür nicht eingesetzt.
Mit der Klage hat die Klägerin anfänglich die Vorverlegung des Rentenbeginns auf den 1. November 1961 und die Einfügung von Werteinheiten für die Verfolgungszeit erstrebt. Das erste dieser Begehren hat sie, nachdem sie damit vom Sozialgericht (SG) abgewiesen worden war (Urteil des SG Düsseldorf vom 4. November 1966), nicht mehr weiterverfolgt, dem zweiten hat das SG entsprochen; es hat die Beklagte verurteilt, "die Rente der Klägerin auch noch so zu berechnen und zu zahlen, daß für die verfolgungsbedingte Ersatzzeit vom 10. Oktober 1938 bis 31. Dezember 1949 Werteinheiten im Sinne von § 1255 der Reichsversicherungsordnung (RVO) angesetzt werden, die den nach § 4 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung ( VerfolgtenG ) in Frage kommenden Beitrags- oder Gehaltsklassen oder Arbeitsverdiensten entsprechen". Auf die Berufung der Beklagten hin hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 29. März 1967 die Klage auch insoweit abgewiesen. Es hat seine Entscheidung damit begründet, daß die Vorschriften der §§ 3, 4 VerfolgtenG über die Gewährung von Steigerungsbeträgen für Verfolgungszeiten gemäß Art. 3 § 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) außer Kraft getreten und die Voraussetzungen, unter denen nach der Übergangsregelung des Art. 2 § 42 ArVNG die rentenerhöhende Berücksichtigung der Verfolgungszeit des Versicherten nach der früheren Regelung für Ersatzzeitensteigerungsbeträge möglich gewesen wäre, nicht gegeben seien.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat das Rechtsmittel eingelegt und zu seiner Begründung die Verletzung materiellen und formellen Rechts gerügt. In materiell-rechtlicher Hinsicht stellt sie sich auf den Boden der Entscheidung des erkennenden Senats vom 29. Juni 1967, bestätigt durch Urteil vom 29. November 1967 (SozR Nrn. 11 und 13 zu VerfolgtenG Allg.), wonach § 4 Abs. 3 VerfolgtG seit dem 1. Januar 1957 außer Kraft getreten, § 4 Abs. 4 dieses Gesetzes aber weiterhin - sinngemäß - anzuwenden ist. Sie meint, danach könne das angefochtene Urteil keinen Bestand haben, weil die Voraussetzungen des § 4 Abs. 4 VerfolgtenG im vorliegenden Falle gegeben seien. Hierzu führt sie aus: Bei der Ermittlung des ihrem Ehemann durch seine Verfolgung entstandenen Schadens in der Sozialversicherung müsse davon ausgegangen werden, daß der Versicherte im Jahre 1938, wenn er nicht hätte auswandern müssen, in Deutschland unselbständig tätig geworden wäre und - entsprechend seinem späteren Arbeitseinkommen in den USA, glaubhaft gemacht durch Bescheid der Hamburger Entschädigungsbehörde vom 31. März 1959 - soviel verdient hätte, daß für ihn Versicherungsbeiträge der Klasse X entrichtet worden wären. Näheres hierzu werde sie - nach Zurückverweisung der Streitsache - in der Tatsacheninstanz vortragen.
Die Klägerin beantragt in erster Linie,
den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen,
hilfsweise,
das Urteil des LSG vom 29. März 1967 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen die erstinstanzliche Entscheidung zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie führt aus: Ein Schadensausgleich für den Versicherten auf Grund des § 4 Abs. 4 und 5 VerfolgtenG setze einen tatsächlichen, aus Verfolgungsgründen erwachsenen Schaden in der Rentenversicherung voraus. Ein solcher Schaden sei in der Regel zu verneinen, wenn der Versicherte schon vor dem Einsetzen der Verfolgung durch Übernahme einer versicherungsfreien Beschäftigung oder durch Aufgabe einer Tätigkeit überhaupt aus dem Kreis der unselbständig versicherungspflichtig tätigen Personen ausgeschieden sei. In diesen Fällen habe die später einsetzende Verfolgung dem Betroffenen auf dem Gebiet der Sozialversicherung keinen Schaden verursacht, der über das Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) hinaus auch in der Sozialversicherung eine besondere, von den sonstigen Ersatzzeiten abweichende Regelung für die Rentenberechnung erforderlich machen müßte. Ein solcher Sachverhalt liege hier vor; denn der Versicherte sei nach 1915 nicht mehr versicherungspflichtig beschäftigt gewesen und hätte seinen versicherungsfreien Beruf ohne Verfolgungsmaßnahmen auch nach 1938 weitergeführt. Infolgedessen sei die Höhe des Verdienstes, den er nach seiner Auswanderung in den USA erzielt habe, ohne rechtliche Bedeutung für die Höhe seiner der Berechnung der Witwenrente zugrunde zu legenden persönlichen Bemessungsgrundlage.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist zulässig und begründet; sie führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz.
Dem LSG ist darin beizupflichten, daß die Klägerin nicht auf dem Wege über eine Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 42 ArVNG zu einer höheren als der ihr bewilligten Witwenrente kommen kann. Eine Berechnung der Rente nach dem vor dem 1. Januar 1957 geltenden Recht auf Grund der angeführten Übergangsvorschrift ist nicht durchzuführen, weil weder die Anwartschaft zum 31. Dezember 1956 erhalten war noch vom 1. Januar 1957 an für jedes Kalenderjahr vor dem im Jahre 1961 eingetretenen Versicherungsfall für mindestens neun Monate Beiträge entrichtet worden sind. Gegen die insoweit zutreffende Begründung des angefochtenen Urteils hat die Klägerin auch keine Einwände erhoben.
Ebenso wenig läßt sich das Begehren der Klägerin auf Erhöhung ihrer Rente aus § 4 Abs. 1 und 3 VerfolgtenG rechtfertigen. Diese Vorschriften sind, wie bereits vier Senate des Bundessozialgerichts (BSG) übereinstimmend entschieden haben, durch Art. 3 § 2 ArVNG außer Kraft gesetzt worden und können deshalb auf den hier in Rede stehenden Versicherungsfall als einen solchen aus der Zeit nach 1956 nicht mehr angewandt werden (vgl. SozR Nrn. 8, 9, 11 bis 13 zu VerfolgtenG Allg.). An dieser Rechtsprechung hält der erkennende Senat fest; ihr ist die Klägerin im Revisionsverfahren auch nicht mehr entgegengetreten.
In den angeführten Entscheidungen ist jedoch weiter ausgesprochen worden, daß § 4 Abs. 4 VerfolgtenG wie das BSG aus dem diesem Gesetz innewohnenden Wiedergutmachungsgrundsatz gefolgert hat, sinngemäß über den 31. Dezember 1956 hinaus anzuwenden ist. Auf diesem Wege läßt sich ein durch die Berechnungsweise des neuen Rechts nicht gedeckter Schaden des Verfolgten auf dem Gebiet der Rentenversicherungen ausgleichen.
Ob sich für die Klägerin aus § 4 Abs. 4 VerfolgtenG tatsächlich eine höhere als die ihr von der Beklagten zugebilligte Rente ergibt, läßt sich bei dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht abschließend beurteilen. Den Beteiligten muß zunächst Gelegenheiten gegeben werden, das ihnen für die rechtliche Beurteilung nach den vorstehenden Entscheidungsgründen wesentlich erscheinende Vorbringen einer Tatsacheninstanz zu unterbreiten. Alsdann wird der der Rechtsfindung zugrunde zu legende Sachverhalt festzustellen sein. Da das Revisionsgericht hierzu nicht berufen ist, muß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).
Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG in seinem abschließenden Urteil mit zu befinden haben.
Fundstellen