Leitsatz (amtlich)
Vorbereitungshandlungen, die im engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit der Tätigkeit eines ehrenamtlichen Ratsherren in den Rats- und Ausschußsitzungen stehen, sind versichert.
Normenkette
RVO § 539 Abs 1 Nr 13 Fassung: 1963-04-30, § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-20, § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01; GemO NW § 30 Abs 6 S 3; GemOVwV NW § 30 Nr 3 Fassung: 1975-04-14
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 27.03.1979; Aktenzeichen L 5 U 74/77) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 18.05.1977; Aktenzeichen S 18 U 321/76) |
Tatbestand
I
Streitig sind Hinterbliebenenansprüche der Klägerin aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach ihrem tödlich verunglückten Ehemann.
Der Ehemann der Klägerin (dM.) gehörte im Jahre 1971 als Mitglied des Rates der Stadt M a.d. R dem Planungsausschuß des Rats der Stadt als ordentliches Mitglied an. Seine erste Vertreterin im Planungsausschuß war die Ratsherrin K (K.).
dM. hatte wegen eines Kuraufenthaltes an drei Sitzungen des Planungsausschusses im Februar und März 1971 nicht teilgenommen. In den Sitzungen am 26. Februar und 12. März 1971 hatte ihn Frau K. und in der Sitzung vom 26. März 1971 Herr J vertreten. An den weiteren Sitzungen am 21. und 23. April 1971 hatte er wieder teilgenommen.
Am 21. Mai 1971 vereinbarte dM. mit Frau K., sie gegen 11.00 Uhr in ihrer Wohnung aufzusuchen. Auf dem Weg dorthin wurde er gegen 11.00 Uhr beim Überqueren einer Straße von einem Kraftwagen erfaßt und tödlich verletzt. Der Beklagte lehnte die Entschädigung des Unfalls gegenüber der Klägerin ab, weil der Weg zur Frau K. aus eigener Initiative und ohne Auftrag zurückgelegt worden sei, weshalb kein ursächlicher Zusammenhang mit der den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit bestehe (Bescheid vom 26. Oktober 1976).
Das Sozialgericht Duisburg (SG) hat den Beklagten unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides für verpflichtet erklärt, den Wegeunfall des Versicherten dM. am 21. Mai 1971 als gesetzlich geschützten Arbeitsunfall anzuerkennen und den damaligen Klägerinnen, der jetzigen Klägerin und ihrer Tochter A S, Hinterbliebenenleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren (Urteil vom 18. Mai 1977). Das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG) hat, nachdem der Beklagte seine Berufung zurückgenommen hatte, soweit sie sich gegen die Tochter A gerichtet und Sterbegeld, Überführungskosten und Überbrückungsgeld betroffen hatte, die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 27. März 1979).
Der Beklagte hat Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung der §§ 539 Abs 1 Nr 13, 550 Reichsversicherungsordnung (RVO) und eine Verletzung der Aufklärungspflicht.
Der Beklagte beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 27. März 1979 und des Sozialgerichts Duisburg vom 18. Mai 1977 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuverweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Der Ehemann der Klägerin war, als er tödlich verunglückte, in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. Die Klägerin hat deshalb Anspruch auf alle weiteren Hinterbliebenenleistungen, soweit sie ihr nicht schon rechtskräftig mit dem Urteil des SG zuerkannt worden sind.
Nach den Feststellungen des LSG befand sich dM. im Unfallzeitpunkt auf dem unmittelbaren Weg zur Wohnung von Frau K. Er hatte die Absicht, sich von ihr über den Verlauf der Sitzungen des Planungsausschusses vom 26. Februar und 12. März 1971 und der diesen vorausgegangenen Vorbesprechungen der Fraktionsmitglieder sowie über die darin zum Ausdruck gekommenen Meinungen und Argumente informieren zu lassen. Diese Information hielt er für erforderlich, weil auf der Tagesordnung der Sitzung am selben Tage um 16.00 Uhr ein Punkt zur Beschlußfassung anstand, der in einer der Sitzungen vom 26. Februar und 12. März 1971 zur Erörterung angestanden hatte. Gleichzeitig wollte er die schriftlichen Unterlagen zurückholen, die er Frau K. vor Antritt seiner Kur zum Zweck seiner Vertretung überlassen hatte. Gegen diese Feststellungen bringt der Beklagte keine durchgreifenden Verfahrensrügen vor. Das LSG hat sie insbesondere nach den Bekundungen der von ihm selbst vernommenen Frau K. getroffen, die ihm glaubhaft und überzeugend erschienen. Der Beklagte legt nicht dar, weshalb das LSG sich hätte gedrängt fühlen müssen, Frau K. noch zu weiteren Punkten zu vernehmen, zumal sie auch nach seiner Auffassung im Einklang mit ihren Angaben vom 12. Februar 1976 gegenüber einem Mitarbeiter des Beklagten stehen. Einem klärungsbedürftigen Widerspruch in diesen Angaben zeigt der Beklagte mit der Revisionsbegründung nicht auf.
Nach den Feststellungen des LSG ist dM. auf einem Weg zu einer versicherten Tätigkeit verunglückt (§ 550 Abs 1 der RVO). Als Ratsherr und Mitglied des städtischen Planungsausschusses war er bei dieser Tätigkeit versichert (§ 548 Abs 1 iVm § 539 Abs 1 Nr 13 RVO). Es war eine ehrenamtliche Tätigkeit für die Stadtgemeinde, für die er keine laufende Entschädigung zur Sicherstellung seines Lebensunterhalts erhielt.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der Versicherungsschutz des § 539 Abs 1 Nr 13 RVO nicht ausschließlich auf die Teilnahme an Veranstaltungen der Gremien selbst beschränkt, denen der Betroffene als Mitglied angehört. Schon der Gesetzestext enthält, anders als etwa § 539 Abs 1 Nr 14a und b RVO ("während des Besuchs" von Kindergärten oder Schulen), keine solche Einschränkung. Die für den Umfang des Versicherungsschutzes von Schülern und Kindern in Kindergärten von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze können daher nicht, wie der Beklagte meint, zur Auslegung des § 539 Abs 1 Nr 13 RVO herangezogen werden.
Inhalt und Umfang des Versicherungsschutzes bestimmen sich allein nach den Vorschriften der RVO. Entscheidend ist daher nicht, ob ein Ehrenamt in seiner gesetzlichen Gestaltung in anderen Vorschriften den Tatbeständen des § 539 Abs 1 Nr 13 RVO entspricht. Die Bewertung einer Tätigkeit etwa in der einschlägigen Gemeindeordnung oder dazu erlassenen Verwaltungsordnungen kann jedoch wesentliche Anhaltspunkte für die Auslegung bieten (BSGE 34, 163, 166; 40, 139, 142). Es würde dem Sinn und Zweck des Unfallversicherungsschutzes für ehrenamtlich tätige Personen widersprechen, wollte man ihre Tätigkeit unabhängig davon beurteilen, wie sie insbesondere für öffentlich- rechtliche Körperschaften gesetzlich umschrieben ist. § 539 Abs 1 Nr 13 RVO spricht insoweit nur von "für den Bund, ein Land" usw "ehrenamtlich Tätigen", enthält also keine eigene Umschreibung der Tätigkeit selbst, setzt diese vielmehr in der Form voraus, in der sie im Einzelfall tatsächlich oder gesetzlich ausgestaltet ist. Sowohl der 2. als auch der 8. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) haben deshalb in ihren Entscheidungen (BSGE 34, 163; 40, 139; SozR 2200 § 539 Nr 4) kirchenrechtliche Regelungen zur Beurteilung der Frage herangezogen, ob ein Kirchenamt ein Ehrenamt iS von § 539 Abs 1 Nr 13 RVO ist. Das LSG hat daher zutreffend auf die Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen und die hierzu erlassene Verwaltungsverordnung vom 14. April 1975 (MBl NRW 1975, S 762) hingewiesen. Insbesondere in § 30 Abs 6 Satz 3 der Gemeindeordnung ist ua bestimmt, daß Ratsmitglieder, die in einem Dienstverhältnis oder Arbeitsverhältnis stehen, für ihre Tätigkeit freizustellen sind. Nr 3 zu § 30 der Verwaltungsverordnung bestimmt hierzu, daß der Begriff "Tätigkeit" in § 30 Abs 6 Satz 3 der Gemeindeordnung nicht nur die Teilnahme an Ratssitzungen oder Ausschußsitzungen umfaßt, sondern alle Tätigkeiten, die sich aus der Wahrnehmung des Mandats ergeben. Diese Umschreibung der Tätigkeit eines Ratsmitgliedes steht im Einklang mit dem Tatbestandsmerkmal der Tätigkeit eines ehrenamtlich Tätigen in § 548 Abs 1 iVm § 539 Abs 1 Nr 13 RVO.
Lediglich die Teilnahme an Ratssitzungen oder Ausschußsitzungen selbst als versicherte Tätigkeit anzusehen, würde den Aufgaben von Ratsmitgliedern nicht ausreichend gerecht. Jedenfalls sind Vorbereitungshandlungen, die mit solchen Sitzungen in engem zeitlichem und sachlichem Zusammenhang stehen, ebenfalls versicherte Tätigkeiten. Sie dienen der unmittelbaren Wahrnehmung des Mandats in den Sitzungen und stehen deshalb damit in einem engen inneren Zusammenhang.
Die Rechtsprechung hat wiederholt Verrichtungen, die der Aufnahme der Betriebstätigkeit vorausgingen, als versichert angesehen, so etwa die Beschaffung von Arbeitskleidung, die dem Schutz des Versicherten dient oder für die betriebliche Tätigkeit erforderlich oder üblich ist (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand August 1979, Bd II, S 480 y, 481). In seinem Urteil vom 21. September 1967 (SozR Nr 3 zu § 550 RVO) hat der 2. Senat des BSG die Teilnehme an Übungsstunden eines Werkschores deshalb als versichert angesehen, weil sie der Vorbereitung betrieblicher Gemeinschaftsveranstaltungen dienten und deshalb damit im engen sachlichen Zusammenhang standen (vgl zum Versicherungsschutz von Tätigkeiten, die nicht unmittelbare Betriebstätigkeiten sind BSGE 31, 203 = Abwicklung eines nicht mehr bestehenden Betriebes; RVA in EuM 21, 207 = Vorbereitungshandlung).
Nicht anders ist die beabsichtigte Tätigkeit des Ehemanns der Klägerin am Unfalltage, nämlich der Besuch bei Frau K. zu bewerten. Er diente wesentlich der Vorbereitung der Sitzung des Planungsausschusses am selben Tag um 16.00 Uhr, weil dM. sich bei Frau K. über die Beratungen informieren wollte, die zu einem auf der Tagesordnung stehenden Punkt in einer Sitzung stattgefunden hatten, an der er nicht teilgenommen hatte. Diese Information war für ihn sachgerecht; sie diente der Vorbereitung seiner eigenen Entscheidung in der Sitzung. Daß Frau K. ihn auch über die Überlegungen und Beratungen in der Fraktion unterrichten sollte, steht nicht entgegen; auch diese hatte er möglicherweise in seine Willensbildung einzubeziehen. Schließlich stand es auch mit seiner ehrenamtlichen Tätigkeit in engem sachlichen Zusammenhang, wenn er sich Unterlagen für seine Ausschußtätigkeit zurückholen wollte, die er Frau K. für die Zeit überlassen hatte, in der sie ihn vertreten hatte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen