Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz auf Wegen zu oder von der Arbeitsstätte (Unterbrechung wegen einer privaten Besorgung)
Leitsatz (redaktionell)
Eine für den Unfallversicherungsschutz bedeutsame Unterbrechung des Arbeitsweges zu oder von der Arbeitsstätte tritt während einer im Verhältnis zum Gesamtweg zeitlich und räumlich geringfügigen privaten Verrichtung nicht ein, wenn der räumliche Straßenbereich des Weges nicht verlassen wird; unerheblich bleibt, ob die Straßenseite gewechselt und die Fahrbahn überquert wird.
Orientierungssatz
Betriebsweg - öffentlicher Verkehrsraum - Wechsel der Straßenseite
1. Nach den zum Versicherungsschutz auf Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit entwickelten und auch für Betriebswege anwendbaren Grundsätzen ist es unerheblich, wo sich der Versicherte im Bereich des öffentlichen Verkehrsraumes fortbewegt, um einen vom Arbeitgeber aufgetragenen Einkauf zu erledigen.
2. Es kommt nach der Rechtsprechung des BSG nicht darauf an, ob sich der Versicherte nur durch das Wechseln der Straßenseite ggf von dem Endpunkt seines Weges insoweit etwas entfernt, weil dieser auf bzw näher zu der zunächst gegangenen Straßenseite liegt.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 550 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 20.09.1982; Aktenzeichen I UBf 17/82) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 05.02.1982; Aktenzeichen 24 U 504/80) |
Tatbestand
Die bei der Klägerin für den Fall der Krankheit versicherte Beigeladene war in einem Privathaushalt in der Walliser Straße in M als Hausangestellte beschäftigt. Am 15. Dezember 1977 ging sie im Auftrag ihrer Arbeitgeberin zu einer Drogerie an der Ecke Graubündener Straße/Engadiner Straße, um dort einen Entfärber zu kaufen. Nachdem sie dies getan hatte, verließ die Beigeladene die Drogerie durch die an der Graubündener Straße gelegene Tür, überquerte diese Straße und suchte eine auf der anderen Straßenseite an der Ecke Graubündener Straße/Appenzeller Straße befindliche Telefonzelle auf. Nachdem sie diese verlassen hatte und wieder auf die Seite der Graubündener Straße zurückkehren wollte, an der die Drogerie lag, wurde sie von einem Kraftfahrzeug erfaßt und schwer verletzt. Die Beigeladene kann sich wegen einer retrograden Amnesie an Einzelheiten des Unfalls nicht erinnern; sie ist der Meinung, daß sie aus privaten Gründen telefoniert hat. Die Beklagte lehnte gegenüber der Beigeladenen Entschädigungsansprüche ab, weil diese sich zur Zeit des Unfalls auf einem Abweg befunden und dadurch vom Versicherungsschutz gelöst habe (Bescheid vom 26. Februar 1980).
Nach Ablehnung des auf § 1504 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestützte Ersatzanspruches der Klägerin hat das Sozialgericht (SG) Hamburg die Beklagte verurteilt, 64.813,15 DM an die Klägerin zu zahlen (Urteil vom 5. Februar 1982). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 20. September 1982). Da sich die Beigeladene nicht in Richtung auf die Engadiner Straße, sondern in eine von ihrer Arbeitsstätte wegführende Richtung bewegt habe, sei sie auf dem von der Drogerie zur Telefonzelle zurückgelegten Weg nicht versichert gewesen; es habe sich um einen Abweg gehandelt.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Die Beigeladene habe den räumlichen Straßenbereich des Weges zurück zu ihrer Arbeitsstätte nicht verlassen, als sie von der Drogerie aus die Graubündener Straße überquerte, um zu der 10 m nordwestlich gelegenen Telefonzelle zu gelangen. Der Versicherungsschutz sei zwar mit dem Betreten der Telefonzelle unterbrochen worden, sei jedoch mit deren Verlassen wieder aufgelebt. Beim erneuten Überqueren der Fahrbahn habe die Beigeladene wieder unter Versicherungsschutz gestanden. Der Unfall sei daher ein Arbeitsunfall gewesen.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des LSG Hamburg vom 20. September 1982 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Hamburg vom 5. Februar 1982 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bezieht sich auf die in beiden Tatsacheninstanzen eingereichten Schriftsätze. Der öffentliche Verkehrsraum der Graubündener Straße bzw der Gehsteig vor der Drogerie habe nicht zu dem versicherten Verkehrsbereich für die Verletzte gehört, denn die Drogerie sei von der Engadiner Straße her über Privatgrund zu erreichen gewesen. Das angefochtene Urteil bedürfe nur einer Berichtigung insoweit, als sich die Telefonzelle nicht 10 m, sondern 25 m vom Eingang der Drogerie entfernt befinde, wie aus den Lageplänen des Straßenraums ersichtlich sei.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt und sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet.
Ist die Krankheit die Folge eines Arbeitsunfalls, den der Träger der Unfallversicherung zu entschädigen hat, so hat dieser, wenn der Verletzte bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung versichert ist, dem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 1504 Abs 1 RVO die Kosten mit Ausnahme des Sterbegeldes zu erstatten, die nach Ablauf des 18. Tages nach dem Arbeitsunfall entstehen. Ausgenommen sind die Kosten der Krankenpflege (§ 182 Abs 1 Nr 1 RVO). Die Kosten der Krankenhauspflege sind vom ersten Tag an zu erstatten.
Die bei der Klägerin für den Fall der Krankheit versicherte Beigeladene hat am 15. Dezember 1977 einen Arbeitsunfall erlitten. Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Die Beigeladene war aufgrund ihrer Beschäftigung als Hausangestellte nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO gegen Arbeitsunfall versichert. Versicherte stehen nicht nur auf den mit ihrer Tätigkeit zusammenhängenden Wegen auf der Betriebsstätte unter Versicherungsschutz, sondern auch auf Wegen, die sie außerhalb der Betriebsstätte in Ausübung der versicherten Tätigkeit zurücklegen. Diese Wege sind Teil ihrer versicherten Tätigkeit. Die Beigeladene befand sich im Zeitpunkt des Unfalls auf einem mit ihrer Beschäftigung als Hausangestellte zusammenhängenden Betriebsweg. Sie hat im Auftrag ihrer Arbeitgeberin in der Drogerie an der Ecke Graubündener Straße/Engadiner Straße einen Entfärber gekauft. Für den Versicherungsschutz war es dabei nach den vom Senat zum Versicherungsschutz auf Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit entwickelten und auch für Betriebswege anwendbaren Grundsätzen unerheblich, wo sich die Beigeladene im Bereich des öffentlichen Verkehrsraumes fortbewegte, um die Drogerie zu erreichen und nach dem Einkauf des Entfärbers zur Arbeitsstätte zurückzukehren (BSGE 20, 219, 221; 49, 16, 18; BSG SozR 2200 § 550 Nr 20, USK 77196; BSG Urteil vom 31. Oktober 1972 - 2 RU 99/71 - unveröffentlicht).
Das LSG war auch nicht daran gehindert, der angeführten Rechtsprechung zu folgen, weil - wie das LSG meint - die Klägerin, nachdem sie den Einkauf erledigt hatte, sich mit dem Überqueren der Graubündener Straße und dem Aufsuchen der Telefonzelle nicht in Richtung auf ihre Arbeitsstätte, sondern von dieser weg bewegte. Die beiden Urteile des Bundessozialgerichts (BSG), auf die das LSG in diesem Zusammenhang insbesondere hingewiesen hat (SozR 2200 § 550 Nr 20 und USK 77196), besagen nicht anderes. Der 8. Senat des BSG ist auch in seinem Urteil vom 28. Oktober 1976 (SozR aaO) davon ausgegangen, daß eine Unterbrechung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit nicht eintritt, wenn die Straßenseite gewechselt wird. Diese Rechtsprechung des BSG betrifft nicht nur die Fälle, in denen die Straßenseite gewechselt wird, um damit dem Endpunkt des Weges näherzukommen; denn in diesen Fällen war der Versicherungsschutz niemals streitig. Der Senat hat vielmehr, wie bereits das Reichsversicherungsamt -RVA(EuM 30, 321, 322), entschieden, daß ein Fußgänger, der den Heimweg auf der anderen Straßenseite oder nach nochmaligem Überqueren der Fahrbahn auf der bisher benutzten Straßenseite zu Fuß fortzusetzen beabsichtigt, den Versicherungsschutz auch beim - ggf wiederholten - Wechsel der Straßenseite nicht verliert (BSGE 20, 219, 220; BSG SozR Nr 28 zu § 543 RVO aF). Wie insbesondere der Versicherungsschutz auch beim erneuten Wechsel auf die ursprünglich benutzte Straßenseite zeigt, kommt es nach der Rechtsprechung des BSG nicht darauf an, ob sich der Versicherte nur durch das Wechseln der Straßenseite ggf von dem Endpunkt seines Weges insoweit etwas entfernt, weil dieser auf bzw näher zu der zunächst begangenen Straßenseite liegt. Der Hinweis in dem Urteil vom 8. September 1977 (USK 77, 196), daß sich der Kläger "noch auf einer in Richtung zu seiner Wohnung führenden Wegstrecke" befand, betrifft, wie auch den diesem Urteil zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen zu entnehmen ist, nur die Wegstrecke selbst; denn der Kläger hatte danach die Bundesstraße überquert, um sich zu einem "jenseits des Überganges einmündenden Gemeindeweg" zu begeben. In seinem Urteil vom 26. April 1962 (2 RU 19/59 - SozEntsch BSG IV § 543 Nr 58) hat der Senat den Versicherungsschutz nicht deshalb verneint, weil der Betroffene sich aus dem persönlichen Lebensbereich zurechnenden Gründen auf die andere Straßenseite begeben wollte, sondern weil er sich dabei zugleich auf der anderen Straßenseite in entgegengesetzter Richtung zu seiner Wohnung bewegte, die er anschließend aufsuchen wollte. Der Versicherungsschutz der Beigeladenen richtet sich somit danach, ob sie, wenn sie die Graubündener Straße von der Tür der Drogerie aus rechtwinklig überquert hätte, auf dem weiteren Weg zur Telefonzelle an der Ecke Graubündener Straße/Appenzeller Straße sich nicht von ihrer Arbeitsstätte entfernte. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG lag die Telefonzelle "etwa 10 m gegenüber dem Eingang der Drogerie", dh nach dem rechtwinkligen Überqueren der Graubündener Straße hatte die Beigeladene zur Telefonzelle noch etwa 10 m in Richtung auf die Ecke Graubündener Straße/Appenzeller Straße zurückzulegen. Sie bewegte sich dabei im öffentlichen Verkehrsraum der Graubündener Straße in Richtung auf die Engadiner Straße (vgl BSG Urteil vom 26. April 1962 aaO). Die Engadiner Straße hatte die Beigeladene für den Hinweg zur Drogerie benutzt und sie trachtete durch das nochmalige Überqueren der Graubündener Straße offensichtlich diese Straße zu erreichen, als sie verunglückte.
Die Auffassung der Beklagten, daß die Beigeladene bei der Zurücklegung des Weges im öffentlichen Verkehrsraum der Graubündener Straße schon deshalb nicht versichert gewesen sei, weil sie von der Drogerie aus auf einem ca 1,20 m breiten privaten Grundstücksstreifen zur Engadiner Straße hätte gehen können, wird vom Senat nicht geteilt. Die Zurücklegung des Weges neben dem privaten Grundstücksstreifen im öffentlichen Verkehrsraum war allenfalls ein nicht ins Gewicht fallender Umweg. Daß sich die Beigeladene bei der Benutzung des öffentlichen Verkehrsraumes vom Versicherungsschutz gelöst habe, kann ernstlich nicht angenommen werden.
Da die Beigeladene am 15. Dezember 1977 einen Arbeitsunfall erlitten hat, der von der Beklagten zu entschädigen ist, hat die Klägerin Anspruch auf Ersatz der im Schriftsatz vom 4. Februar 1982 im einzelnen dargelegten Kosten in der nicht bestrittenen Höhe von 64.813,51 DM. Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG mußte daher die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG vom 5. Februar 1982 zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen