Entscheidungsstichwort (Thema)

Mangelnde Sachaufklärung. Ablehnung eines Beweisantrags. psychische Störungen. Unfallfolge

 

Orientierungssatz

1. Auch psychische Reaktionen können durch ein Unfallereignis "verursacht" worden, dh Unfallfolgen im Rechtssinne sein, es sei denn, sie beruhen im wesentlichen auf wunschbedingten Vorstellungen (vgl BSG vom 29.1.1986 9b RU 56/84 = HV-INFO 1986, 433). Dabei ist ua zu prüfen, ob das Unfallereignis und seine organischen Auswirkungen ihrer Eigenart und Stärke nach unersetzlich, dh zB nicht mit anderen alltäglich vorkommenden Ereignissen austauschbar sind, oder ob eine entsprechende psychische Anlage so leicht "ansprechbar" war, daß sie gegenüber den psychischen Auswirkungen des Unfallereignisses die rechtlich allein wesentliche Ursache ist.

2. Hatte das Gericht ua darüber zu befinden, ob die beim Kläger bestehenden psychischen Störungen durch den Arbeitsunfall (mit)verursacht worden sind, dann ist die Rüge mangelnder Sachaufklärung berechtigt, wenn das im angefochtenen Urteil zur Stütze seiner Beurteilung überwiegend verwertete Sachverständigengutachten im Streitverfahren des Klägers wegen der Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente erstattet worden ist und sich naturgemäß nicht mit der Frage der Kausalität zwischen dem Arbeitsunfall und dem psychischen Zustand befaßt hatte.

 

Normenkette

RVO §§ 580-581; SGG § 164 Abs 2 S 3, § 160 Abs 2 Nr 3

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 20.05.1987; Aktenzeichen L 2 U 1625/85)

SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 27.03.1985; Aktenzeichen S 9 U 2754/82)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt wegen der Folgen eines am 23. Februar 1981 erlittenen Arbeitsunfalls die Gewährung von Verletztenrente und die Bewilligung eines stationären Heilverfahrens.

Der im Jahre 1930 geborene Kläger war bei der Bundeswehr im zivilen Arbeitsverhältnis als Kraftfahrer beschäftigt. Er erlitt am 23. Februar 1981 einen Arbeitsunfall (Verkehrsunfall), bei dem es zu einer Stauchung der Halswirbelsäule sowie Prellungen der Brustwirbelsäule und des Hüftgelenks rechts gekommen war.

Die Beklagte lehnte die Gewährung einer Verletztenrente ab, weil der Arbeitsunfall eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in messbarem Grade nach Wegfall der Arbeitsunfähigkeit iS der Krankenversicherung nicht hinterlassen habe (Bescheid vom 27. September 1982 und Widerspruchsbescheid vom 24. November 1982). Den weiteren Antrag des Klägers, ihm ein Heilverfahren in einer Rheumaklinik zu bewilligen, lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, wegen der Unfallfolgen sei ein solches Heilverfahren nicht erforderlich (Bescheid vom 5. Januar 1983 und Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 1983).

Die gegen die Ablehnung einer Verletztenrente und eines Heilverfahrens erhobenen Klagen hat das Sozialgericht (SG) Freiburg zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Es hat nach Beiziehung ua der Personalakten des Klägers und Einholung eines orthopädischen Sachverständigengutachtens gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. März 1985).

Im Berufungsverfahren hat der Kläger vorgetragen, die bei ihm bestehenden psychischen Störungen seien durch den Arbeitsunfall vom 23. Februar 1981 (mit)verursacht worden; deswegen sei ein psychiatrisches Sachverständigengutachten einzuholen. Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 20. Mai 1987). Zur Begründung hat es ausgeführt: Die unmittelbar durch den Unfall erlittenen Gesundheitsstörungen (Schleudertrauma, erhebliche Stauchung der Halswirbelsäule mit Contusio spinalis und/oder Wurzelläsion C7/C8 sowie Prellungen der Brustwirbelsäule und des Hüftgelenks rechts) seien abgeklungen. Die vom Kläger angegebenen pulsierenden vasomotorischen Kopfschmerzen und der morgendliche Schwindel beruhten auf einer unfallunabhängigen Kreislauflabilität. Bei dem psychischen Erscheinungsbild des Klägers handele es sich um eine durch die Primärpersönlichkeit geprägte Konversionsneurose (Umwandlung von Affekten in körperliche Symptome). Für diesen Leidenszustand stelle der Arbeitsunfall jedenfalls nur eine unwesentliche Mitursache dar. Daher seien weder eine Rente noch ein Heilverfahren zu gewähren.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt der Kläger, das angefochtene Urteil beruhe auf Verfahrensmängeln. Er macht ua geltend, das LSG habe seine ihm nach § 103 SGG obliegende Sachaufklärung verletzt und seinem Antrag vom 30. Juli 1985 (wiederholt in der mündlichen Verhandlung am 20. Mai 1987), ein Sachverständigengutachten der Klinik O.     (Fachklinik für psychogene Erkrankungen) einzuholen, ohne hinreichende Begründung nicht stattgegeben. Ferner habe das LSG seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und sei zudem von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) abgewichen.

Der Kläger beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen und die Bescheide der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm aus Anlaß des Arbeitsunfalls vom 23. Februar 1981 Verletztenrente zu gewähren und ein Heilverfahren in einer neurologisch-orthopädischen Fachklinik zu bewilligen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Für eine Entscheidung über das Begehren des Klägers, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 23. Februar 1981 Dauerrente und ein Heilverfahren zu gewähren, fehlen in dem Urteil ausreichende Tatsachenfeststellungen. Das Berufungsurteil beruht auf dem vom Kläger formgerecht gerügten Verfahrensfehler der mangelnden Sachaufklärung (§ 162 iVm §§ 103, 164 Abs 2 SGG).

Die begehrte Gewährung einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung setzt voraus, daß der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls in der Regel um mindestens 20 vH in seiner Erwerbsfähigkeit über die 13. Woche nach dem Arbeitsunfall gemindert ist (§§ 580, 581 der Reichsversicherungsordnung -RVO-). Das LSG hat dies im wesentlichen mit der Begründung verneint, die unmittelbar durch den Unfall erlittenen Stauchungen und Prellungen seien abgeklungen. Für das beim Kläger bestehende psychische Erscheinungsbild (Konversionsneurose bei zwanghaft hysterischer Persönlichkeitsstruktur) sei der Unfall nur eine unwesentliche Mitursache im Rahmen der depressiven Symptomatik des Klägers gewesen. Mit dem Beweisantrag, dem das LSG nicht gefolgt ist, möchte der Kläger bei nach seiner Meinung noch nicht aufgeklärtem Sachverhalt geklärt wissen, ob das bei ihm bestehende psychische Beschwerdebild im wesentlichen auf den Unfall vom 23. Februar 1981 zurückzuführen ist.

Das Begehren des Klägers auf Verletztenrente könnte schon dann erfolgreich sein, wenn die vom LSG bindend festgestellte psychische Fehlhaltung (§ 163 SGG) mit erheblichem Krankheitswert, die nach seiner Darlegung auch zum Verlust seines Arbeitsplatzes geführt hatte, mit Wahrscheinlichkeit auf den Unfall ursächlich zu beziehen wäre. Auch psychische Reaktionen können durch ein Unfallereignis "verursacht" worden, dh Unfallfolgen im Rechtssinne sein, es sei denn, sie beruhen im wesentlichen auf wunschbedingten Vorstellungen (BSGE 18, 173, 175 = SozR Nr 61 zu § 542 RVO aF; BSG SozR 2200 § 581 Nr 26; BSG Urteil vom 29. Januar 1986 - 9b RU 56/84 -; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 489 ff mvN; Ecker in Venzlaff, Psychiatrische Begutachtung, 1986, S 535 ff). Dabei ist ua zu prüfen, ob das Unfallereignis und seine organischen Auswirkungen ihrer Eigenart und Stärke nach unersetzlich, dh zB nicht mit anderen alltäglich vorkommenden Ereignissen austauschbar sind, oder ob eine entsprechende psychische Anlage so leicht "ansprechbar" war, daß sie gegenüber den psychischen Auswirkungen des Unfallereignisses die rechtlich allein wesentliche Ursache ist. Dabei ist von Bedeutung, ob vor dem Unfallereignis eine völlig latente "Anlage" bestand oder ob diese sich bereits in Symptomen manifestiert hatte, deren Entwicklung durch das Unfallereignis - dauernd oder nur vorübergehend - beeinflußt worden ist (BSGE 18, 173, 176).

Unter Beachtung dieser Grundsätze kam es dem LSG nach seiner materiell-rechtlichen Auffassung (s BSG SozR 1500 § 103 Nr 24) darauf an, die beim Kläger über die 13. Woche nach dem Arbeitsunfall noch bestehenden Unfallfolgen und ggfs eine unfallbedingte MdE festzustellen. Dabei hatte es ua darüber zu befinden, ob die beim Kläger bestehenden psychischen Störungen durch den Arbeitsunfall (mit)verursacht worden sind. Das Berufungsgericht hat diese Frage verneint. Mit Recht jedoch rügt die Revision, daß das im angefochtenen Urteil zur Stütze seiner Beurteilung überwiegend verwertete Sachverständigengutachten von Dr. R.     vom 2. Juli 1985 insofern nicht ausreicht, als dieser sein Gutachten im Streitverfahren des Klägers wegen der Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente erstattet und sich naturgemäß nicht mit der Frage der Kausalität zwischen dem Arbeitsunfall und dem psychischen Zustand befaßt hatte. Die von ihm erhobenen Befunde und die ärztlichen Beurteilungen gestatten es jedenfalls ohne fachärztliche Begutachtung nicht, den Kausalzusammenhang abzulehnen, wie vor allem die Ausführungen auf den Seiten 9 bis 11 des Gutachtens zeigen. Der Beweisantrag des Klägers, ein Sachverständigengutachten von der Klinik O.      (Dr. R.    ) einzuholen, dient dazu, diesen durch Dr. R.     und den im erstinstanzlichen Verfahren gehörten Orthopäden Dr. B.   bisher unerörtert gebliebenen Fragenkomplex der Kausalität abzuklären. Dazu hätte sich das LSG veranlaßt sehen müssen, zumal aus dem von ihm eingeholten Bericht der behandelnden Ärztin Dr. M.      vom 9. Juli 1986 zu entnehmen ist, daß die Beschwerden (Schmerzsyndrome) seit dem Unfall vom 23. Februar 1981 bestehen sollen (s BSG Urteil vom 29. Januar 1986 aaO).

Das Berufungsgericht wird infolgedessen eine eingehende neurologisch-psychiatrische Begutachtung über Art und Umfang der psychischen Erkrankung sowie der ursächlichen Bedeutung des Unfalls vom 23. Februar 1981 im Sinne der Wahrscheinlichkeit nachzuholen haben. Da nicht auszuschließen ist, daß das LSG bei Durchführung dieser weiteren Sachaufklärung zu einem anderen Ergebnis im Bezug auf die Gewährung einer Verletztenrente gelangt wäre, beruht das angefochtene Urteil auf der mit der Revision gerügten unzulänglichen Aufklärung des Sachverhalts. Die Sache war allein schon aus diesen Gründen unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Ob die weiteren vom Kläger gerügten Verfahrensfehler vorliegen, kann ungeprüft bleiben, da die Entscheidung schon allein durch die Verletzung der dem Berufungsgericht obliegenden Sachaufklärungspflicht getragen wird (s Urteil des Senats vom 30. April 1986 - 2 RU 65/85 -).

Nichts anderes gilt für den vom Kläger ferner geltend gemachten Anspruch auf Bewilligung eines berufsgenossenschaftlichen Heilverfahrens im Rahmen der Heilbehandlung. Auch hier kommt es zunächst auf den oben erörterten Fragenkomplex der Kausalität zwischen Arbeitsunfall und der psychischen Erkrankung an.

Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666916

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