Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussparung gemäß § 48 Abs 3 SGB 10 bei Rentenanpassungen
Orientierungssatz
Die Verpflichtung der Verwaltung, zu Unrecht bewilligte, aber bestandsgeschützte Leistungen einzufrieren, entsteht nicht nur, wenn die tatsächliche oder rechtliche Veränderung die ursprünglich unrichtig beurteilten Faktoren betrifft, sondern auch dann, wenn sich die Veränderung allein auf die Leistungshöhe bezieht.
Normenkette
SGB 10 § 48 Abs 3; SGB 10 § 48 Abs 1; RVO § 579 Abs 1
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 10.08.1988; Aktenzeichen L 4 U 1/88) |
SG Itzehoe (Entscheidung vom 27.10.1987; Aktenzeichen S 4b U 62/86) |
Tatbestand
Streitig ist, ob die Beklagte die bestandsgeschützte Verletztenrente des Klägers von den jährlich stattfindenden Rentenanpassungen (-erhöhungen) ausnehmen darf.
Der Kläger bezieht wegen der Folgen eines am 8. März 1967 erlittenen Arbeitsunfalles Verletztenrente in Höhe von 20 vH der Vollrente. Bei dem Unfall war es zu einer Quetschung mit Trümmerbruch des linken Daumens gekommen. In der Folgezeit erließ die Beklagte mehrfach Rentenentziehungsbescheide, die einer gerichtlichen Überprüfung jedoch nicht standhielten. In seinem Urteil vom 24. April 1985 gelangte das Landessozialgericht (LSG) zwar zu dem Ergebnis, die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) habe schon seit Beginn des Dauerrentenbezuges lediglich 10 bis maximal 15 vH betragen, so daß die Rente zu Unrecht gewährt werde. Aus Rechtsgründen könne die Rente aber nicht entzogen werden.
Die Beklagte erließ daraufhin den streitigen Bescheid vom 28. Mai 1986, mit welchem sie es ablehnte, die Verletztenrente des Klägers an Rentenanpassungen teilnehmen zu lassen, und zwar weder an der durch das Rentenanpassungsgesetz 1986 zum 1. Juli 1986 vorgesehenen Anpassung, noch - bis auf weiteres - an zukünftigen Rentenanpassungen. Diese Aussparung von der Dynamisierung sei nach § 48 Abs 3 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) vorzunehmen, weil der rechtswidrige Verwaltungsakt weder nach § 48 Abs 1 noch nach § 45 SGB X zurückgenommen werden könne.
Das Sozialgericht (SG) hat diesen Bescheid mit Urteil vom 22. Oktober 1987 aufgehoben, weil die Voraussetzungen des § 48 Abs 3 SGB X nicht gegeben seien. Das LSG hat die dagegen gerichtete Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 10. August 1988). Es hat ausgeführt, der Kläger beziehe die Verletztenrente zwar zu Unrecht, weil seine Erwerbsfähigkeit seit 1968/69 nicht wenigstens um 20 vH gemindert sei. Die Veränderung des Anpassungsfaktors stelle auch eine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse zu Gunsten des Klägers iS von § 48 Abs 1 SGB X dar. Weil aber die bestandsgeschützte MdE von dieser Änderung nicht betroffen sei, könne § 48 Abs 3 SGB X keine Anwendung finden (vgl Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 24. März 1987, SozR 1300 § 48 Nr 33). Die Beklagte habe die Verletztenrente deshalb nicht von der Rentenanpassung 1986 ausnehmen dürfen. Soweit der angefochtene Bescheid auch eine Aussparung von zukünftig stattfindenden Rentenanpassungen betreffe, sei dies nicht Gegenstand des Rechtsstreits, weil es sich bei dieser Aussage der Beklagten nicht um eine verbindliche Regelung im Sinne eines Verwaltungsaktes, sondern lediglich um eine Ankündigung handele, die den Kläger nicht beschwere.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 48 Abs 3 SGB X iVm § 579 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Das LSG habe verkannt, daß eine Aussparung von Rentenerhöhungen nach diesen Vorschriften auch dann vorzunehmen sei, wenn sich die wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse - hier die Rentenanpassung - nicht auf den Leistungsgrund oder einzelne Berechnungsgrößen der Rente beziehe, sondern allein die Leistungshöhe betreffe. Nur eine solche Interpretation des § 48 Abs 3 SGB X entspreche dem Sinn der Vorschrift, der darin bestehe, künftige Erhöhungen einer rechtswidrigen Leistung zu verhindern, soweit diese durch einen bindenden und nicht mehr rücknehmbaren Bescheid bewilligt worden sei. Dagegen gehe es nicht um die Korrektur einzelner Elemente des rechtswidrigen Leistungsbescheides. Dem LSG könne auch darin nicht gefolgt werden, daß der Streitgegenstand auf die Aussparung von der Rentenanpassung für das Jahr 1986 zu begrenzen sei; vielmehr enthalte der angefochtene Bescheid auch eine konkrete Regelung für zukünftige Rentenanpassungen. Insoweit könne sich das LSG auch nicht auf das Urteil des BSG vom 15. Februar 1966 (BSGE 24, 236) berufen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 10. August 1988 sowie das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 22. Oktober 1987 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet.
Zu Unrecht hat das LSG die Auffassung vertreten, § 48 Abs 3 SGB X sei im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Die Beklagte hat die Verletztenrente des Klägers vielmehr zu Recht auf den Betrag von monatlich 338,20 DM "eingefroren".
Nach § 48 Abs 3 SGB X darf, wenn ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 SGB X nicht zurückgenommen werden kann und eine wesentliche Änderung nach Abs 1 oder 2 des § 48 SGB X zugunsten des Betroffenen eingetreten ist, die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt.
Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt. Nach den vom LSG getroffenen und von den Beteiligten nicht in Abrede gestellten tatsächlichen Feststellungen betrug die durch die Daumenverletzung bedingte MdE bereits seit 1968/69 nur noch 10 bis maximal 15 vH, so daß dem Kläger keine Dauerrente hätte gewährt werden dürfen (vgl § 581 Abs 1 Nr 2 RVO). Die ab 1. Juli 1968 gewährte Rente konnte die Beklagte nach Ablauf der in § 45 Abs 3 SGB X geregelten Fristen nicht mehr zurücknehmen. Eine wesentliche Änderung zugunsten des Klägers iS von § 48 Abs 1 SGB X lag ebenfalls vor. Sie ist in der durch das Rentenanpassungsgesetz 1986 bestimmten allgemeinen Rentenerhöhung (Festlegung des Anpassungsfaktors - § 579 Abs 2 RVO -) zu sehen. Davon geht auch das LSG aus.
Im Gegensatz zur Auffassung des LSG ist diese Änderung im Rahmen des § 48 Abs 3 SGB X auch zu beachten. Die Verpflichtung der Verwaltung, zu Unrecht bewilligte, aber bestandsgeschützte Leistungen einzufrieren, entsteht nicht nur, wenn die tatsächliche oder rechtliche Veränderung die ursprünglich unrichtig beurteilten Faktoren betrifft, sondern auch dann, wenn sich die Veränderung allein auf die Leistungshöhe bezieht. Dies hat der 9. Senat des BSG in seinem Urteil vom 15. September 1988 (9/4b RV 15/87) bereits entschieden und ausgeführt, eine Beschränkung des Anwendungsbereiches folge weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn des § 48 Abs 3 SGB X: "Es soll vielmehr verhindert werden, daß die zu hohe Zahlung, die durch irgendeinen Fehler entstanden ist, durch irgendeine Veränderung zu Gunsten des Betroffenen immer noch höher wird". Dieser - ebenfalls zur Aussparung von Rentenanpassungen - ergangenen Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an. Ihr steht - wovon schon das Urteil des BSG vom 15. September 1988 ausgeht - das vom LSG zitierte Urteil des BSG vom 24. März 1987 (SozR 1300 § 48 Nr 33) nicht entgegen; denn soweit das BSG in jener Entscheidung die Meinung vertreten hat, § 48 Abs 3 SGB X sei nach wohl überwiegender Ansicht nicht anwendbar, wenn sich die Änderung nur auf die Leistungshöhe beziehe, handelte es sich bei dieser Aussage ausdrücklich nur um ein "obiter dictum".
Die Beklagte hat die Verletztenrente des Klägers deshalb zu Recht von der Rentenanpassung ausgenommen. Dies gilt nicht nur für den durch das Rentenanpassungsgesetz 1986 festgelegten Anpassungsfaktor, sondern auch für die zukünftigen Anpassungen. Insoweit handelte es sich bei der Aussage des angefochtenen Bescheides nicht lediglich um eine unverbindliche Ankündigung, sondern um eine Verfügung zur Regelung eines Einzelfalles mit unmittelbarer Rechtswirkung nach außen (§ 31 Satz 1 SGB X). Die Beklagte hat in dem zwischen ihr und dem Kläger bestehenden Versicherungsverhältnis entschieden, daß die Verletztenrente auch in Zukunft nicht an Rentenanpassungen teilnehmen werde. Diese Entscheidung ist inhaltlich auch hinreichend bestimmt iS von § 33 Abs 1 SGB X. Aus dem zweiten Teil des Bescheides geht eindeutig hervor, wie der Zusatz - "bis auf weiteres" - zu verstehen ist, nämlich a) bis zu einer eventuell eintretenden wesentlichen Verschlimmerung der Unfallfolgen, b) bis zum eventuell eintretenden Fall einer Stützrentengewährung und c) bis zu dem Zeitpunkt, zu welchem die fiktiv nach einer MdE von 10 vH errechnete Verletztenrente infolge der zukünftigen Rentenanpassungen den jetzt bestandsgeschützten Betrag erreicht haben wird. Das vom LSG zur Stützung seiner gegenteiligen Ansicht zitierte Urteil des BSG vom 15. Februar 1966 (BSGE 24, 236) ist insoweit nicht einschlägig.
Der Revision war daher stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen