Entscheidungsstichwort (Thema)
gesetzliche Unfallversicherung. Wegeunfall. betrieblicher Zusammenhang. haftungsbegründende Kausalität. alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit. BAK
Orientierungssatz
Zur Nichtanerkennung eines Wegeunfalles gem § 550 RVO wegen alkoholbedingter absoluter Fahruntüchtigkeit eines tödlich verunglückten Versicherten.
Normenkette
RVO § 550
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 13.03.1974) |
Tenor
Die Revision der Klägerinnen gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13. März 1974 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Ehemann bzw. Vater der Klägerinnen, R R (R.), war u. a. Inhaber des Restaurants "R" in S. Nachdem R. sich am 14. Mai 1970 abends zu diesem Restaurant begeben und dort etwa zwischen 3.00 und 4.00 Uhr am Morgen des 15. Mai 1970 mit dem Zeugen S ein geschäftliches Gespräch geführt hatte, beendete er seine Tätigkeit gegen 4.30 Uhr und machte sich auf den Weg nach W, um dort zu übernachten. Etwa um 4.50 Uhr prallte R. mit seinem Kraftwagen gegen einen neben der Fahrbahn stehenden Baum. Er starb an den dabei erlittenen Verletzungen am 16. Mai 1970. Eine am 15. Mai 1970 um 6.28 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,19 0 / 00 (Widmark-Verfahren) und 1,23 0 / 00 (ADH-Methode).
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 9. Februar 1971 die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab. Bei R. habe nach dem Gutachten des Prof. Dr. S, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität M, vom 18. Januar 1971 zur Unfallzeit eine BAK von 1,42 0 / 00 bestanden. Die dadurch bedingte Fahruntüchtigkeit sei die allein wesentliche Unfallursache gewesen. R. habe deshalb zur Unfallzeit nicht unter Versicherungsschutz gestanden. Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteile des Sozialgerichts - SG - München vom 10. April 1972 und des Bayerischen Landessozialgerichts - LSG - vom 13. März 1974). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: R. sei während der zum Unfall führenden Fahrt infolge Alkoholgenusses absolut fahruntauglich gewesen. Die BAK habe zur Unfallzeit 1,42 0 / 00 betragen, vorausgesetzt, daß R. während der Nacht vom 14./15. Mai 1970 ungefähr gleichmäßig Alkohol getrunken habe. Für die Behauptung der Klägerinnen, daß R. vor Antritt der Fahrt noch eine größere Menge Alkohol getrunken habe, der zur Unfallzeit noch nicht resorbiert gewesen sei und deshalb die BAK zur Unfallzeit unter 1,19/1,23 0 / 00 gelegen habe, seien keine Anhaltspunkte vorhanden. Der Zeuge S habe nicht bestätigt, daß sich R., kurz bevor der Zeuge fortgegangen sei, Bacardi und Coca-Cola eingeschenkt habe. Es müsse daher in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Prof. Dr. S davon ausgegangen werden, daß R. während der Nacht bis unmittelbar vor Antritt der Fahrt ungefähr gleichmäßig alkoholische Getränke zu sich genommen habe. Ein anderer - atypischer - Geschehensablauf würde einer natürlichen und lebensnahen Betrachtungsweise widersprechen. Seine Nichterweislichkeit gehe zu Lasten der Klägerinnen. Unerheblich sei, daß der Zeuge S R. während der Nacht überhaupt nicht habe Alkohol trinken sehen. Da R. zur Unfallzeit infolge Alkoholgenusses absolut fahruntauglich gewesen sei - der Grenzwert liege bei einer BAK von 1,3 0 / 00 - und sonstige Unfallursachen nicht hätten festgestellt werden können, müsse aufgrund der Lebenserfahrung davon ausgegangen werden, daß die alkoholbedingte absolute Fahruntauglichkeit die rechtliche allein wesentliche Unfallursache gewesen sei. Damit fehle es an dem für die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit (§ 550 Reichsversicherungsordnung - RVO -) und dem Unfallereignis. An diesem Ergebnis würde sich auch nichts ändern, wenn R. vor Antritt der Fahrt eine größere Menge Alkohol getrunken hätte. Nach dem Gutachten des Prof. Dr. S hätte mit Rücksicht auf die verstärkte Wirkung des Alkohols während der Anflutungsphase auch dann absolute Fahruntauglichkeit bestanden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerinnen haben dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Das LSG habe einen gleichmäßigen Alkoholgenuß des Verstorbenen während der ganzen Nacht als typischen Geschehensablauf angenommen, ohne daß dieser Geschehensablauf erwiesen sei. Auf dieser Annahme basiere die Schlußfolgerung, daß der Verstorbene infolge Alkoholgenusses und einer BAK von 1,42 0 / 00 im Unfallzeitpunkt absolut fahruntauglich gewesen sei. Es gebe jedoch keinen allgemeinen Erfahrungssatz, daß ein Gastwirt gleichmäßig über den gesamten Abend hinweg Alkohol zu sich nehme. Überdies gehe nicht Nichterweislichkeit des nach Ansicht des Gerichts atypischen Geschehensablaufs, daß der Verstorbene erst kurz vor der Abfahrt eine größere Menge Alkohol getrunken habe, nicht zu Lasten der Klägerinnen. Das LSG sei insofern von einer unrichtigen Beweislastverteilung ausgegangen. Die Ausführungen des LSG über das Trinkverhalten des Verstorbenen beruhten auch auf einer fehlerhaften Beweiswürdigung. Daraus, daß der Zeuge S R. in der Zeit ab 22.00 Uhr nicht habe trinken sehen, er nach der Polizeistunde mit dem Kellner abgerechnet habe, dann ab 3.00 Uhr mit dem Zeugen verhandelt und dieser ihm vor seinem Fortgang eine Flasche Bacardi und eine Flasche Coca-Cola gebracht habe, ergebe sich die sehr große Wahrscheinlichkeit, daß R. nach dem Gespräch mit dem Zeugen S Alkohol getrunken habe. Eine von der Beweiswürdigung des Gerichts abweichende Beweiswürdigung sei nicht nur denkbar, sondern darüber hinaus den Tatsachen angemessen. Abgesehen davon, daß eine BAK von 1,3 0 / 00 und mehr nicht habe als nachgewiesen angesehen werden können, lasse sich auch nicht ausschließen, daß sonstige Umstände, wie etwa technische Mängel des Kraftfahrzeuges, physiologische Ermüdungserscheinungen, eine augenblickliche Unaufmerksamkeit, Wildwechsel oder ähnliches den Unfall verursacht hätten. Die Unmöglichkeit des Nachweises dieser Umstände gehe zu Lasten der Beklagten. Die Annahme des LSG, eine absolute Fahruntauglichkeit habe mit Rücksicht auf die verstärkte Wirkung des Alkohols während der Anflutungsphase auch dann vorgelegen, wenn R. erst vor Antritt der Fahrt eine größere Menge Alkohol genossen habe, weiche von der bisherigen Rechtsprechung ab, wonach erst bei einer BAK von 1,3 0 / 00 oder mehr absolute Fahruntauglichkeit anzunehmen sei. Der medizinische Sachverständige habe ausgeführt, daß bei einer erst kurz vor Abfahrt genossenen größeren Menge Alkohol sich nicht ausschließen lasse, daß zu keiner Zeit eine BAK von 1,3 0 / 00 erreicht oder überschritten worden sei.
Die Klägerinnen beantragen,
die Urteile des Bayerischen LSG vom 13. März 1974 sowie des SG München vom 10. April 1972 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 9. Februar 1971 zu verurteilen, ihnen Witwen- und Waisenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Es müsse schon in medizinischer Hinsicht bezweifelt werden, daß es überhaupt eine Rolle spiele, ob die 98 Minuten nach dem Unfall festgestellte Alkoholmenge bereits in die Blutbahn des Verstorbenen eingetreten gewesen sei. Selbst wenn sie noch nicht in die Blutbahn eingetreten gewesen sei, habe sie bei R. zumindest einen solchen Schock hervorgerufen, daß er dieselbe Wirkung wie eine BAK von 1,42 0 / 00 gehabe habe. Auf dieses Problem komme es aber nicht an. Entscheidend sei, daß auch die festgestellte BAK von 1.19 0 / 00 bei der Entstehung des Unfalls eine Rolle gespielt habe. Da andere betriebsbezogene Unfallursachen nicht erwiesen seien, könne den Klägerinnen keine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung gewährt werden.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten zugestimmt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Revision ist nicht begründet.
Das LSG hat zu Recht einen Anspruch der Klägerinnen auf Witwen- und Waisenrente verneint, weil R. den Versicherungsschutz nach § 550 RVO infolge alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit, durch die der Unfall rechtlich allein wesentlich verursacht worden ist, verloren hatte.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist der Fahrer eines Kraftwagens bei einer auf nicht betriebsbedingtem Alkoholgenuß beruhenden BAK von 1,3 0 / 00 und mehr - unabhängig von sonstigen Beweisanzeichen - absolut fahruntüchtig (BSG 34, 261 im Anschluß an BGHSt 21, 157). Das LSG hat als bewiesen angesehen, daß bei R. zur Unfallzeit eine BAK von 1,42 0 / 00 bestanden hat. Soweit das LSG dabei von einer BAK von 1,19 0 / 00 (Widmark-Verfahren) und 1,23 0 / 00 (ADH-Methode) in der 98 Minuten nach dem Unfall von R. entnommenen Blutprobe ausgegangen ist, hat die Revision keine Einwendungen erhoben. Sie rügt jedoch eine Überschreitung der gesetzlichen Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) durch das LSG, soweit es als bewiesen angesehen hat, daß R. während der Nacht vom 14. zum 15. Mai 1970 bis unmittelbar vor Antritt der zum Unfall führenden Fahrt ungefähr gleichmäßig alkoholische Getränke zu sich genommen habe und daher die BAK im Augenblick des Unfalls höher - nämlich 1,42 0 / 00 - als zur Zeit der Entnahme der Blutprobe gewesen sei. Da eine Hochrechnung der BAK vom Zeitpunkt der Entnahme der Blutprobe auf den Unfallzeitpunkt nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. in der mündlichen Verhandlung am 13. März 1974 davon abhing, daß der von R. vor dem Unfall genossene Alkohol bis zum Unfall aus dem Magen-Darmkanal in die Blutbahn gelangt und seine Verteilung im Organismus abgeschlossen war, hatte das LSG das Trinkverhalten des R. festzustellen. Die Klägerinnen hatten behauptet, daß R. erst kurz vor Antritt der zum Unfall führenden Fahrt größere Mengen Alkohol zu sich genommen habe. Der Zeuge S mit dem R. während der Nacht ein geschäftliches Gespräch geführt hatte, würde ihrer Meinung nach bekunden, daß sich R. nach Beendigung des Gesprächs Bacardi und Coca Cola eingeschenkt habe und dann allein im Lokal zurückgeblieben sei. Nachdem der Zeuge bei seiner Vernehmung am 13. März 1974 ausgesagt hatte, er habe nicht gesehen, wie sich R. Rum eingeschenkt und getrunken habe, konnte das LSG, ohne die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung zu überschreiten, zu dem Ergebnis gelangen, daß R. keine größeren Mengen Alkohol erst kurz vor Antritt der Fahrt getrunken hatte. Es konnte damit von einem Trinkverhalten des R. ausgehen, bei dem der aufgenommene Alkohol zur Zeit des Unfalls bereits resorbiert war, so daß eine Hochrechnung der BAK von den Werten zur Zeit der Entnahme der Blutprobe auf den Unfallzeitpunkt vorgenommen werden durfte. In diesem Sinne sind die Ausführungen des LSG zu verstehen, es gehe davon aus, daß R. während der Nacht bis unmittelbar vor Antritt der Fahrt ungefähr gleichmäßig alkoholische Getränke zu sich genommen habe. Das LSG hat trotz seiner mißverständlichen Formulierungen über das Trinkverhalten des R. weder aufgrund eines Erfahrungssatzes entschieden noch ist es zu einem non liquet gekommen, das Anlaß für eine Entscheidung über die Beweislastverteilung gegeben hätte. Es ist vielmehr aufgrund der BAK der nach dem Unfall entnommenen Blutprobe, der Aussagen der Zeugen S und des Sachverständigen Prof. Dr. S zu einer eindeutigen tatsächlichen Feststellung über das Trinkverhalten des R. in der Nacht vor dem Unfall und der BAK zur Zeit des Unfalls gelangt. Die in diesem Zusammenhang vorgebrachten Rügen von Verfahrensmängeln erachtet das Gericht nicht für begründet (§ 170 Abs. 3 SGG).
Zutreffend hat das LSG entschieden, daß R. mit einer BAK von 1,42 0 / 00 zur Zeit des Unfalls absolut fahruntüchtig war und die Fahruntüchtigkeit die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen ist. Läßt sich ein klares Beweisergebnis über die Ursachen eines Unfalls, der einen unter Alkoholeinfluß stehenden Kraftfahrer getroffen hat, nicht erzielen, sind also sonstige Unfallursachen nicht erwiesen, so spricht nach der Auffassung des erkennenden Senats die Lebenserfahrung dafür, daß die auf Alkoholbeeinflussung beruhende Fahruntüchtigkeit den Unfall verursacht hat (Beweis des ersten Anscheins -vgl. BSG 8, 245; 10, 46, 50; 12, 242, 246). Nach Meinung der Klägerinnen kommen als Unfallursachen Mängel am Kraftfahrzeug, physiologische Ermüdungserscheinungen, eine augenblickliche Unaufmerksamkeit oder Wildwechsel in Betracht. Erwiesen ist von den behaupteten Mitursachen des Unfalls jedoch keine. In Bezug auf das Kraftfahrzeug hat das LSG, ohne daß insoweit begründete Verfahrensrügen vorgebracht worden wären, festgestellt, daß sich das Fahrzeug in einem verkehrssicheren Zustand befunden habe. Für eine Ermüdung hat es keine Anhaltspunkte gesehen. Die genannten sonstigen Mitursachen werden von den Klägerinnen lediglich behauptet, ohne daß sich aus dem Sachverhalt der geringste Hinweis dafür ergeben hat, daß sie vorgelegen haben könnten. Sind aber sonstige Unfallursachen nicht erwiesen, kann bei einer absoluten Fahruntüchtigkeit, wie sie hier vorliegt, aufgrund der Lebenserfahrung davon ausgegangen werden, daß sie für den Unfall die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen ist (BSG 12, 242, 246).
Damit fehlte es zur Zeit des Unfalls an dem ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis als Voraussetzung für eine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl. BSG 35, 216, 218).
Die Revision mußte daher zurückgewiesen werden, ohne daß es noch einer Prüfung bedurfte, ob der Versicherungsschutz - wie das LSG meint - auch entfallen wäre, wenn R. erst kurz vor Antritt der zum Unfall führenden Fahrt eine größere Menge Alkohol zu sich genommen und sich in der Anflutungsphase befunden hätte. Der erkennende Senat hat bisher noch nicht entschieden, ob es mit Rücksicht auf die Anflutungswirkung des Alkohols für die Annahme einer absoluten Fahruntüchtigkeit genügt, daß der Kraftfahrer zur Zeit des Unfalls eine Alkoholmenge im Körper hat, die zu einer BAK von 1,3 0 / 00 und darüber führt (vgl. BGHSt 25, 246).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen