Leitsatz (redaktionell)
Der Unfall, den ein Versicherter in einem Teil des Gebäudes (Treppe) erleidet, der rechtlich wesentlich auch den Zwecken des im Gebäude betriebenen Geschäfts dient, ist versicherungsrechtlich geschützt.
Normenkette
RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. August 1964 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin beansprucht Entschädigung für die Folgen eines Unfalls vom 31. Dezember 1962. Über den Hergang des Unfalls enthält das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts (LSG) folgende Feststellungen:
"Die Klägerin betreibt mit ihrem Ehemann in S., M., ein Friseurgeschäft. Die Wohnung befindet sich im 1. Stock dieses Hauses. Die zur Wohnung gehörende Toilette ist auf halber Höhe der zur Wohnung führenden Treppe gelegen. Am 31. Dezember 1962 stürzte die Klägerin beim Verlassen der Toilette, als sie wieder in das Geschäft zurückkehren wollte, auf der Treppe, wobei sie einen Magendurchbruch zum Zwerchfell erlitt (Auskunft der S., F., vom 21. März 1963 - Bl 3 der Akten der Beklagten)."
Die Beklagte lehnte die Entschädigungsansprüche durch Bescheid vom 20. Juni 1963 mit der Begründung ab, es handele sich nicht um einen Arbeitsunfall im Sinne des Dritten Buches der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Zur Begründung dieser Auffassung ist im Bescheid ua ausgeführt: Der Versicherungsschutz erstrecke sich nur auf solche Tätigkeiten, die dem Friseurbetrieb dienlich seien. Da Arbeitsstätte und Wohnung sich in einem Hause befänden, beginne und ende der Versicherungsschutz an der Tür des Friseurgeschäfts. Da das Verrichten der Notdurft eine persönlichen Belangen dienende Tätigkeit sei, könne der Weg von und zur Toilette nicht als Betriebsweg aufgefaßt werden. Eine Ausnahme bestehe lediglich für einen Arbeitnehmer, weil er infolge der Arbeit gezwungen sei, seinem persönlichen Bedürfnis an der Betriebsstätte nachzukommen, und dabei einem fremden Gefahrenbereich ausgesetzt sei. Die im Unfallzeitpunkt benutzte Toilette gehöre aber dem häuslichen Bereich an.
Mit der hiergegen erhobenen Klage hat die Klägerin in tatsächlicher Beziehung ua vorgetragen: Die im Halbstock befindliche Toilette müsse gemeinsam von den Angestellten, der Kundschaft und den Betriebsinhabern benutzt werden, da sich in der Wohnung keine besondere Toilette befinde. Das Sozialgericht (SG) Wiesbaden hat die Klage durch Urteil vom 11. Dezember 1963 abgewiesen. Die Berufung der Klägerin gegen dieses Urteil ist vom Hessischen LSG durch Urteil vom 19. August 1964 zurückgewiesen worden. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Das SG habe zutreffend ausgesprochen, daß es sich nicht um einen Weg von und nach der Arbeitsstätte (§ 543 RVO aF, § 550 RVO) handele, weil sich Arbeitsstätte und Wohnung in demselben Haus befinden. Der Entschädigungsanspruch könne aber auch nicht auf § 542 RVO aF (§ 548 RVO) gestützt werden. Zu den Tätigkeiten, die dem Betrieb dienlich sind, gehörten zwar auch die Betriebswege. Das Verrichten der Notdurft sei aber eine den persönlichen Belangen dienende Tätigkeit und könne nicht dem Betrieb zugerechnet werden. Das gelte selbst dann, wenn der Versicherte die Toilette aufsuchen müsse, um überhaupt seine Arbeit fortsetzen zu können. Eine Lösung der Beziehung zur versicherten Tätigkeit würde nur dann nicht eintreten, wenn der Unfall durch betriebsbedingte Gefahren verursacht wäre. Das Bundessozialgericht (BSG) habe den Versicherungsschutz auch dann als gegeben angesehen, wenn der Versicherte einen Weg nach oder von der Arbeitsstätte unterbrechen müsse, um sich seines Bedürfnisses zu entledigen. Die Treppe, auf der die Klägerin gestürzt sei, gehöre aber zu ihrem häuslichen Wirkungskreis und nicht zum Betriebsbereich. Daran ändere auch der Umstand nichts, daß die Klägerin die Treppe während der Geschäftszeit benutzt habe und daß sie sowohl vom Personal als auch von Kunden gelegentlich begangen werde, wenn sie die ihnen ebenfalls zur Verfügung stehende einzige Toilette aufsuchen. Das Reichsversicherungsamt (RVA) habe in Ausnahmefällen das Verrichten der Notdurft als versichert angesehen. Diesen Entscheidungen habe jedoch der Gedanke zugrunde gelegen, daß der Versicherte infolge der Arbeit gehalten gewesen sei, seinem Bedürfnis an der Betriebsstätte nachzukommen, und dabei einem fremden Gefahrenbereich ausgesetzt gewesen sei. Im vorliegenden Fall hätten sowohl die Toilette als auch die Treppe zum häuslichen Bereich der Klägerin gehört und Handlungen in diesem Bereich unterlägen nicht dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Ein selbständiger Gewerbetreibender wäre allerdings beim Verrichten der Notdurft dann versichert, wenn er diesem Bedürfnis im Zusammenhang mit seiner Arbeit auf einem Betriebsweg nachkommen müsse und sich dabei außerhalb seines häuslichen Bereiches befinde.
Das Urteil des LSG ist am 22. September 1964 mit eingeschriebenen Brief an den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin zur Post gegeben worden. Die Klägerin hat dagegen am 21. Oktober 1964 Revision eingelegt mit dem Antrag,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils und unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten diese zu verpflichten, die Klägerin für den Arbeitsunfall vom 31. Dezember 1962 zu entschädigen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Am 21. November 1964 hat die Klägerin die Revision begründet. Sie trägt ua vor: Ein Weg nach und von der Arbeitsstätte könne begrifflich auch gegeben sein, wenn sich Wohnung und Arbeitsstätte in einem Haus befinden. Genauso wie der Weg an der Haustür beginne und ende, wenn sich Wohnung und Arbeitsstätte in verschiedenen Häusern befinden, müsse hier der Weg an der Wohnungstür beginnen. Entscheidend sei allein, daß zwischen Wohnung und Arbeitsstelle ein gewisser räumlicher Zwischenraum bestehe. Hier sei der häusliche Bereich bereits verlassen gewesen. Das Aufsuchen der Toilette könne nicht dem Gebiet der eigenwirtschaftlichen Tätigkeit zugerechnet werden, da die Klägerin die eigentlichen Betriebsräume verlassen habe und der Gang unmittelbar zur Aufrechterhaltung und im Interesse der Fortsetzung ihrer Tätigkeit erfolgt sei. Die Treppe gehöre nicht mehr zum häuslichen Wirkungsbereich, zumindest aber in demselben Ausmaß auch zu dem geschäftlichen Wirkungsbereich.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden und somit zulässig (§ 162 Abs 1 Nr 1, § 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie hatte auch Erfolg.
Das LSG hat als erwiesen angesehen, die Klägerin habe sich - nach Aufsuchen der Toilette im Zwischengeschoß des Grundstücks M. - ... in S. - wieder in das von ihr und ihrem Ehemann betriebene Friseurgeschäft im Erdgeschoß des Gebäudes begeben wollen, als sie am 31. Dezember 1962 auf der Treppe vom Zwischengeschoß zum Erdgeschoß gestürzt sei.
Diese Feststellung greift die Beklagte mit der Rüge an, sie stehe in offensichtlichem Widerspruch zum Akteninhalt. Diese Rüge ist nicht geeignet, die Bindung des Revisionsgerichts an diese tatsächliche Feststellung (vgl § 163 SGG) zu beseitigen. Es trifft zwar zu, daß die Klägerin in der Unfallanzeige vom 15. April 1963 als Uhrzeit des Unfallherganges "6 Uhr" und als Beginn und Ende der Arbeitszeit "1 Uhr" und "6 Uhr" angegeben hat und daß diese Angaben als 13.00 Uhr und 18.00 Uhr zu verstehen sind. Jedoch ist es keineswegs ungewöhnlich, daß am Nachmittag vor dem Silvesterabend und Neujahrstag in einem Friseurgeschäft, insbesondere in einem Unternehmen mit Damenkundschaft, Kundinnen auch über das eigentliche Ende der Geschäftszeit hinaus noch vor dem Feiertag bedient werden. Besonders gilt das von der Tätigkeit der Geschäftsinhaberin selbst. Die Beklagte hat auch nicht vorgetragen, daß sie in dieser Hinsicht in den Tatsacheninstanzen Zweifel geäußert hätte, die das LSG hätten veranlassen müssen, die Glaubwürdigkeit der Angaben der Klägerin durch Beweiserhebungen über den Unfallzeitpunkt und die beabsichtigte Tätigkeit im Friseurgeschäft nachzuprüfen.
Entgegen der Auffassung der Revision ist auf dem Weg der Klägerin vom Zwischengeschoß zum Erdgeschoß die Sondervorschrift für den Versicherungsschutz der Wege nach und von der Arbeitsstätte (§ 543 RVO aF, jetzt § 550 RVO) nicht anwendbar. Auch der erkennende Senat hat sich in ständiger Rechtsprechung der bereits vom RVA vertretenen Auffassung angeschlossen, daß hierfür kein Raum ist, wenn sich Wohnung und Arbeitsstätte - wenn auch, wie im vorliegenden Fall, räumlich getrennt - innerhalb desselben Gebäudes befinden. Im einzelnen wird hierzu auf die Urteile vom 29. Januar 1960 und 24. Mai 1960 (BSG 11, 267; 12, 165) Bezug genommen. Die Frage, welche Besonderheiten sich aus der baulichen Gestaltung moderner Hochbauten ergeben können (vgl BSG 2, 239, 244), bedarf im vorliegenden Fall keiner Erörterung.
Das LSG hat die Frage des Versicherungsschutzes mit Recht unter den Gesichtspunkten des § 542 RVO aF (jetzt § 548 RVO) geprüft und ist hierbei zutreffend davon ausgegangen, daß das Verrichten der Notdurft zu den zahlreichen anderen Verrichtungen gehört, ohne die zwar eine ordnungsgemäße Arbeitstätigkeit nicht möglich ist, die aber trotzdem grundsätzlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen sind (vgl zB das Urteil des erkennenden Senats vom 30. August 1963, SozR Nr 45 zu § 543 RVO aF, vollständig abgedruckt BG 1964 S 252; vgl auch BSG 7, 255; 9, 222; 11, 267).
Die Erwägungen, die dazu geführt haben, den Versicherungsschutz für das Verrichten der Notdurft während der Arbeitszeit auf der Betriebsstätte im Regelfall zu bejahen (vgl zB das Urteil vom 30. August 1963 in BG 1964 S 253, auch BSG 16, 73, 76 sowie RVA in EuM 23, 417), treffen im vorliegenden Fall, wie das LSG im Ergebnis zutreffend ausgeführt hat, nicht zu; denn die Klägerin war durch die Anwesenheit an der Betriebsstätte nicht gezwungen, die Notdurft an einem anderen Ort zu verrichten, als sie das von ihrem häuslichen Bereich aus getan haben würde.
Das schließt aber, wie das LSG nicht verkannt hat, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit der Klägerin und dem Weg, auf dem sich der Unfall ereignet hat, nicht aus. Das Zurücklegen dieses Weges stand zwar mit dem unversicherten persönlichen Lebensbereich insofern in Zusammenhang, als das Aufsuchen der Toilette diesem Bereich zuzurechnen ist, andererseits war aber nach den Feststellungen des LSG der Rückweg zum Erdgeschoß notwendig, weil die Klägerin dort noch im Friseurgeschäft betriebliche Tätigkeiten verrichten wollte. Wie der Senat in den in BSG 11, 267; 12, 165 veröffentlichten Urteilen näher dargelegt hat, gewinnt ein solcher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit erst dann rechtliches Gewicht, wenn der dem unversicherten persönlichen Leben zuzurechnende räumliche Bereich verlassen und der den Zwecken des Unternehmens dienende Bereich erreicht ist.
Entgegen der Auffassung des LSG ist diese Voraussetzung im vorliegenden Fall gegeben. Der erkennende Senat sieht es - abweichend vom LSG - als wesentlich an, daß die Treppe zwischen dem Erdgeschoß und dem Zwischengeschoß nicht nur den Zugang zur Wohnung im ersten Obergeschoß bildet, sondern, weil die Toilette im Zwischengeschoß auch für das Friseurgeschäft benutzt werden muß, zu diesem Zweck auch von dem Personal des Friseurgeschäfts und dessen Kunden begangen werden muß. Deshalb kann nach der Auffassung des erkennenden Senats diese Treppe nicht mehr dem ausschließlich persönlichen Lebensbereich der Eheleute F. zugerechnet werden. Die Klägerin hatte vielmehr im Unfallzeitpunkt einen Teil des Gebäudes erreicht, der rechtlich wesentlich auch den Zwecken des Friseurgeschäfts dient. Sie stand im Unfallzeitpunkt bereits wieder unter Versicherungsschutz, so daß die Beklagte verpflichtet ist, ihr für die Folgen des Unfalls Entschädigung nach den Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Die Revision der Klägerin ist somit insoweit begründet, als das LSG das Vorliegen eines unter Versicherungsschutz stehenden Unfalles verneint hat. Der Senat ist jedoch nicht in der Lage, in der Sache selbst zu entscheiden. Da sowohl die Beklagte als auch das SG gleichfalls das Vorliegen eines Arbeitsunfalles verneint haben, sind weder im Verwaltungsverfahren noch in den beiden Tatsacheninstanzen Beweise darüber erhoben worden, in welchem Umfang der Sturz der Klägerin für ihre Erwerbsfähigkeit bedeutsame Folgen verursacht hat. Die Beklagte hat in der Revisionserwiderungsschrift zutreffend hervorgehoben, daß die im Tatbestand des angefochtenen Urteils erwähnte Auskunft der S. - ... nicht ausreiche, um als bewiesen anzusehen, daß die in dieser Auskunft angegebene Erkrankung an "Magendurchbruch zum Zwerchfell" mit dem Unfallereignis in einem ursächlichen Zusammenhang steht. Das LSG hat auch, weil das von seinem Rechtsstandpunkt aus nicht erforderlich war, eine derartige Feststellung nicht getroffen. Infolgedessen fehlt es an Feststellungen, die genügen, um es ausreichend wahrscheinlich zu machen, daß ein Entschädigungsanspruch in einer Mindesthöhe gegeben ist (vgl SozR Nr 3 zu § 130 SGG). Der Senat war deshalb nicht in der Lage, die Beklagte auch nur dem Grunde nach zur Entschädigungsleistung zu verurteilen. Er hat vielmehr das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen, das auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.
Fundstellen