Leitsatz (amtlich)
Zur Frage des inneren Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit, wenn jemand während des Zurücklegens eines Betriebswegs eine private Besorgung unternimmt, sich hierbei durch in hohem Maße vernunftwidriges Verhalten in Gefahr begibt und dieser erliegt.
Normenkette
RVO § 542 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 10. Dezember 1963 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte den Tod des Ehemannes der Klägerin, des am 29. September 1959 an den Folgen eines Verkehrsunfalls verstorbenen Bauarbeiters R J (J.), zu entschädigen hat.
Über den Unfallhergang enthält das Urteil des Berufungsgerichts folgende Feststellungen:
J. war bei einer Straßenbaufirma als Bauarbeiter tätig. Auf deren Baustelle in H befand sich seine Unterkunft. Am 29. September 1959 mußte J. mit zwei Arbeitskollegen, dem Steinmetzmeister Sch und dem Hilfsarbeiter B, auf Weisung des Arbeitgebers bei F Straßenschäden beheben. Nach Auskunft des Arbeitgebers begann und endete die bezahlte Arbeitszeit in H. Die Arbeiter fuhren mit dem Pkw des Steinmetzmeisters Sch zunächst auf der Autobahn, die von H ins Rheinland führt; an der Ausfahrt Bad E verließen sie diese und fuhren weiter nach F. Gegen 18,00 Uhr war ihre Arbeit beendet. Für die Rückfahrt benutzten sie dieselbe Wegstrecke. Als sie die Autobahnauffahrt Bad E erreicht hatten, hielt Sch an und stellte den Pkw auf dem neben der dortigen Tankstelle gelegenen Parkplatz ab, um die Bereifung und Beleuchtung des Wagens - es dämmerte inzwischen - zu überprüfen. Diese Pause nutzten der Ehemann der Klägerin und B dazu, um sich auf die andere Seite der Autobahn zu begeben. B wollte dort unter Zuhilfenahme einer Wasserwaage feststellen, ob die Fahrbahn noch Gefälle habe; bei der Hinfahrt war es darüber zu einer Meinungsverschiedenheit gekommen. J. wollte sich in der - auf der anderen Seite befindlichen - Raststätte Zigaretten kaufen. Sie gingen zunächst 100 - 150 m am äußeren Rand der rechten Fahrbahn vorwärts in Richtung H etwa bis zur Stelle, wo unter der Autobahn eine Straße hindurchführt, damit die in Richtung H fahrenden Fahrzeuge zur Raststätte gelangen können. Sie wählten diese Stelle, weil hier die Autobahn etwas ansteigt und nach ihrer Meinung einen besseren Überblick über die Autobahn ermöglicht. Von hier aus überquerten sie beide Fahrbahnen der Autobahn. Bei ihrer Rückkehr wurden sie noch auf der jenseitigen Fahrbahn von einem - in Richtung K fahrenden - Pkw erfaßt. Dieser überschlug sich. Die Insassen des Pkw sowie B und J. wurden verletzt, dieser so schwer, daß er zwei Stunden später im Krankenhaus starb.
Die Beklagte versagte mit Bescheid vom 19. Januar 1960 die begehrte Hinterbliebenenentschädigung, weil im Zeitpunkt des Verkehrsunfalls die unfallgeschützte Heimfahrt aus persönlichen Gründen unterbrochen gewesen sei.
Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts Stade vom 24. April 1962, Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Niedersachsen vom 10. Dezember 1963).
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Berufungsgericht hat seine (in der Breithaupt-Sammlung 1964, S. 469 veröffentlichte) Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet:
Der Ehemann der Klägerin und seine Arbeitskollegen hätten sich auf der Rückfahrt nach H auf einem nach § 542 der Reichsversicherungsordnung (in der vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes geltenden Fassung - RVO aF -) versicherten Betriebsweg befunden. Dieser sei an der Autobahnauffahrt Bad E jedoch von J. zu privatem Zweck unterbrochen worden. Die Besorgung von Zigaretten stelle eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit dar. Ausnahmegründe, die für diese in den unversicherten Lebensbereich fallende Tätigkeit den Versicherungsschutz gerechtfertigt hätten, hätten nicht vorgelegen. J. habe den Pkw nicht gesteuert, seine Arbeit sei an diesem Tage beendet gewesen. Die Unterbrechung der Heimfahrt sei auch nicht geringfügiger Natur gewesen. Um die Raststätte aufzusuchen habe J., wenn er sich verkehrsgerecht verhalten hätte, eine von dem Weg zur Unterkunft abweichende, in andere Richtung führende Straße benutzen müssen. Auch unter Berücksichtigung des Umstandes, daß J. sich in der Raststätte nur kurz aufgehalten habe, liege eine eindeutige rechtserhebliche Unterbrechung des Betriebswegs vor weil J. sich in einen anderen fremden Gefahrenbereich begeben habe. Im Zeitpunkt des Verkehrsunfalls sei die - unversicherte - Unterbrechung des Betriebswegs noch nicht beendet gewesen, weil J. die Fahrbahn, auf der die Heimfahrt hätte fortgesetzt werden sollen, noch nicht wieder erreicht habe. Die Autobahn werde durch einen Grünstreifen in zwei getrennte, jeweils nur in einer Richtung benutzbare Fahrbahnen mit selbständigem Gefahrenbereich aufgeteilt. Da der Versicherungsschutz schon aus diesem Grunde entfalle, könne dahingestellt bleiben, ob J. völlig unvernünftig gehandelt habe, indem er die Fahrbahn ohne zwingenden Grund überschritten habe, er somit einer selbst geschaffenen Gefahr erlegen sei, die der versicherten Tätigkeit nicht zugerechnet werden könne.
Die Klägerin hat Revision eingelegt und diese durch ihren Prozeßbevollmächtigten im wesentlichen wie folgt begründen lassen:
Ihr Ehemann sei am Tag des Unfalls über das Normale hinaus zeitlich und körperlich beansprucht gewesen. Die Rückfahrt sei, wie nicht bestritten werden könne, nach vollendeter Tagesarbeit besonders anstrengend und ermüdend gewesen. Wenn J. unter diesen Umständen eine auf der Rückfahrt eingelegte Pause dazu ausgenutzt habe, um sich mit Zigaretten zu versorgen, könne man dies in Übereinstimmung mit der herrschenden Rechtsprechung grundsätzlich nicht als Unterbrechung des Versicherungsschutzes betrachten. Außerdem hätten J. und sein Arbeitskamerad B sich an Ort und Stelle davon überzeugen wollen, ob die Autobahn an einer bestimmten Stelle wirklich noch Gefälle habe. Aus diesem Grund und wegen der Kürze der Pause hätten sie den Umweg durch die Unterführung nicht benutzt. Es sei nichts Ungewöhnliches, daß Straßenbauarbeiter derartige Überlegungen anstellten und durch Erörterung im Kameradenkreis ihre beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen erweiterten. Es dürfe ferner nicht übersehen werden, daß Straßenbauarbeiter gegen die Gefahren des fließenden Straßenverkehrs abgestumpft seien und sie sich nichts Besonderes dabei dächten, eine Autobahn zu überqueren. Es sei auch sehr fraglich, ob das Überschreiten einer Autobahn gefährlicher sei als das Überqueren einer Landstraße. Auf Landstraßen werde auch schnell gefahren. Ein Fußgänger müsse auf einer solchen Straße seine Aufmerksamkeit sogar beiden Fahrtrichtungen zuwenden, während dies bei einer Autobahn wegen des Grünstreifens nicht erforderlich sei. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts könne daher nicht angenommen werden, daß der Ehemann der Klägerin in einen anderen Gefahrenbereich gelangt sei, solange er sich auf der Gegenfahrbahn aufgehalten habe.
Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sie ist außerdem der Meinung, daß der Ehemann der Klägerin einer selbst geschaffenen Gefahr erlegen sei, Versicherungsschutz somit auch aus diesem Grunde nicht gegeben sei.
Die Klägerin beantragt,
die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides zu verurteilen, Hinterbliebenenentschädigung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden; die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) liegen vor.
Die Revision ist nicht begründet.
Mit Recht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß die vom Ehemann der Klägerin und dessen Arbeitskollegen nach Arbeitsschluß mit dem Pkw des Steinmetzmeisters Sch angetretene Rückfahrt gemäß § 542 RVO aF grundsätzlich unter Versicherungsschutz gestanden hat. Im Ergebnis zutreffend hat das LSG ferner angenommen, daß der Versicherungsschutz jedoch im Zeitpunkt des Verkehrsunfalls des Ehemannes der Klägerin nicht gegeben gewesen ist, die Beklagte somit nicht verpflichtet ist, Unfallentschädigung zu gewähren.
Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Ehemann der Klägerin die von dem Fahrer des Pkw eingelegte Pause dazu benutzt, um in der auf der anderen Seite der Autobahn gelegenen Raststätte Zigaretten zu kaufen. Der von J. zu diesem Zweck zurückgelegte Weg ist, wie das LSG mit Recht entschieden hat, nicht gemäß § 542 RVO aF unfallgeschützt gewesen. Für den Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift hat das Berufungsgericht den von der Revision vorgetragenen Gesichtspunkt, der Ehemann der Klägerin sei nach einer langen Arbeitszeit während der anschließenden Heimfahrt sehr müde gewesen, zutreffend als nicht rechtserheblich angesehen. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG 12, 254, 256) kann ein zum Besorgen von Tabakwaren unternommener Weg zwar nach Lage des Einzelfalls beim Nachweis besonderer Umstände mit der versicherten Tätigkeit insbesondere dann zusammenhängen, wenn das Rauchen für den Versicherten eine unabweisbare Notwendigkeit bedeutet, beispielsweise um damit betrieblich bedingten die Leistungskraft des Versicherten beeinträchtigenden besonderen Belastungen entgegenzuwirken oder einen drohenden Leistungsabfall bis zum Ende der Beschäftigung hinauszuschieben. Derartige Umstände hat das Berufungsgericht indessen mit Recht verneint, denn der Ehemann der Klägerin mußte den Pkw nicht steuern und seine Arbeit war an diesem Tag beendet. Mit dem Nikotingenuß wollte er nur ein - nach einem langen Arbeitstag verständliches - gewohntes persönliches Bedürfnis befriedigen.
Zwar schließt nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats der Umstand, daß ein Versicherter in das Zurücklegen eines Betriebswegs eine privaten Zwecken dienende Verrichtung einschiebt, den Versicherungsschutz unter gewissen Voraussetzungen und in bestimmten Grenzen nicht aus (vgl. BSG 20, 219; Urteile des Senats vom 28.2.1964 - 2 RU 149/63, 2 RU 104/59). Der nach § 542 RVO aF erforderliche innere Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit ist indessen nicht mehr gegeben, wenn ein Beschäftigter sich bei einer während einer Betriebsfahrt unternommenen privaten Besorgung derart sorglos und vernunftwidrig verhält, daß für einen im Laufe dieser Besorgung eingetretenen Unfall nicht mehr die betriebliche Tätigkeit, sondern die selbst geschaffene Gefahr als die rechtlich wesentliche Ursache anzusehen ist. Eine solche vom Versicherten durch sein in hohem Grade unvernünftiges Verhalten herbeigeführte Gefährdung ist seiner persönlichen Sphäre zuzurechnen und läßt deshalb nach der Rechtsprechung des Senats, die vom Schrifttum geteilt wird, den Versicherungsschutz entfallen (SozR Nr. 53 zu § 542 RVO aF; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 52 zu § 548 RVO nF).
Der erkennende Senat hat zwar in ständiger Rechtsprechung den Begriff der "selbst geschaffenen Gefahr" stets nur mit größter Vorsicht gehandhabt (vgl. BSG 6, 164, 169; 14, 64, 67). Nach den vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen kann jedoch nicht verneint werden, daß für den Unfall des Ehemannes der Klägerin eine in dessen persönlichen Bereich fallende selbst geschaffene Gefahr ursächlich gewesen ist. Der Ehemann der Klägerin hat - zusammen mit einem Arbeitskollegen - zu rein privatem Zweck beide Fahrbahnen einer Autobahn überschritten. Es ist allgemein bekannt, daß für den hier allein zugelassenen motorisierten Verkehr in der Regel keine Geschwindigkeitsbegrenzungen vorgeschrieben sind. Es kommt hinzu, daß es bei Beginn der von den Fahrtteilnehmern eingelegten Pause bereits dämmerte und, als J. von der Raststätte zurückkehrte, es dunkel wurde. Trotzdem hat der Ehemann der Klägerin, bei dem als Straßenbauarbeiter vorausgesetzt werden kann, daß er über die einem Fußgänger auf einer Autobahn drohenden Gefahren in besonderem Maße im Bilde war, zu einer für den Verkehr auf der Autobahn gefährlichsten Tageszeit, in der entgegenkommende Fahrzeuge nur schwer zu erkennen sind und in der sich deren Geschwindigkeit kaum abschätzen läßt, die Autobahn überquert. Dabei hätte es nahegelegen, die - wie sich aus den Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt - nur wenig mehr Zeit in Anspruch nehmende Unterführung unter der Autobahn zu benutzen, um verhältnismäßig ungefährdet zur Raststätte zu gelangen. Nach alldem kann das Verhalten des Ehemannes der Klägerin nicht mehr als nur unachtsam und leichtsinnig angesehen, es muß vielmehr als in hohem Maße sorglos und vernunftwidrig bezeichnet werden. Dieses zur Erreichung eines betriebsfremden Zwecks an den Tag gelegte, unter den gegebenen Umständen höchst unvernünftige Verhalten ist für den Unfall ursächlich gewesen. Der in diesem Zeitpunkt gegebene, vom Ehemann der Klägerin selbst geschaffene Gefahrenbereich kann seiner versicherten Tätigkeit nicht mehr wesentlich zugerechnet werden.
Der Senat weicht, indem er vorliegendenfalls den Versicherungsschutz verneint, nicht von seinem Urteil vom 14.12.1965 (2 RU 8/64) ab. Hier hatte ein Beschäftigter, um nach beendeter Arbeit schneller nach Hause zu kommen, den Bahnkörper überschritten und war dabei von einem Zug erfaßt worden. Der Senat hat in dieser Streitsache entscheidend darauf abgestellt, daß bei einem besondere Gefahren heraufbeschwörenden Verhalten auf Wegen nach und von der Arbeitsstätte der selbst geschaffene Gefahrenbereich noch wesentlich der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist, wenn ein solches grob fahrlässiges Verhalten allein dem - nach § 543 RVO aF grundsätzlich unter Versicherungsschutz stehenden - Bestreben entspringt, das Ziel des Weges rascher zu erreichen. Derselbe Rechtsgedanke ist für das Urteil des erkennenden Senats vom 25.5.1965 (2 RU 122/64) bestimmend gewesen; hier war über die Frage des Versicherungsschutzes auf einem Weg zur Arbeitsstätte, auf dem der Verletzte sich ziemlich leichtsinnig verhalten hatte und dadurch zu Schaden gekommen war, zu entscheiden. Im Unterschied dazu hat sich der Verkehrsunfall des Ehemannes der Klägerin auf einem - während einer grundsätzlich versicherten Betriebsfahrt - zu privatem Zweck unternommenen Weg ereignet. Zusätzlich zu diesem betriebsfremden Motiv hat sich der Ehemann der Klägerin durch Zurücklegen dieses Weges aus Beweggründen, für die keine betriebliche Notwendigkeit bestanden hatte, in Gefahr begeben und hierbei einen Unfall erlitten. Der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit ist dadurch ein so entfernter geworden, daß er nicht mehr als rechtlich wesentlich angesehen werden kann.
Die Revision ist deshalb schon aus diesem Grunde nicht begründet, so daß dahingestellt bleiben kann, ob der Begründung des Berufungsgerichts, das den Versicherungsschutz aus einem anderen Grunde verneint hatte, zu folgen ist.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten stützt sich auf § 193 SGG.
Fundstellen