Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit

 

Orientierungssatz

Zur Verweisung eines Facharbeiters auf zumutbare Tätigkeiten.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 07.02.1977; Aktenzeichen L 2 J 160/76)

SG Speyer (Entscheidung vom 28.09.1976; Aktenzeichen S 15 J 211/74)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. Februar 1977 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Rente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.

Der am 16. August 1924 geborene Kläger ist gelernter Autolackierer; er hat in diesem Beruf von 1947 bis 1972 versicherungspflichtig gearbeitet. Nach einer anschließenden Zeit der Arbeitslosigkeit war er als Bandarbeiter, Korbwagenschieber und Reiniger von Hof, Arbeitsräumen und Kantine tätig.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 31. Juli 1974 den Rentenantrag des Klägers vom 17. Mai 1974 ab, weil der Kläger noch nicht berufsunfähig sei. Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte am 28. September 1976, dem Kläger vom 1. Mai 1974 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Das Landessozialgericht (LSG) hat am 7. Februar 1977 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe den erlernten Beruf eines Autolackierers wegen der Erfrierungsfolgen an den Händen aufgeben müssen und könne ihn nicht mehr ausüben. Gleichwohl sei er nicht berufsunfähig, denn er sei noch in der Lage, körperlich leichte Arbeiten in trockenen und warmen Räumen zu verrichten. Das Bundessozialgericht (BSG) habe für einen Facharbeiter zB das weite Feld der Revisions- und Überwachungsarbeiten, der Anlagenkontrolle, Meßwart- und Schalttafeltätigkeiten, mechanisierte Produktionsarbeiten mittels Bedienen von Apparaten sowie die Tätigkeiten eines Verwiegers, Tafelführers, Apparatewärters und einfachen Maschinisten für zumutbar gehalten. Unter Berücksichtigung der beruflichen Qualifikation des Klägers würden seine Kenntnisse und Fähigkeiten durch die genannten Tätigkeiten, unter denen es viele gebe, die körperlich leicht, in geschlossenen und warmen Räumen zu leisten seien und die nicht eine uneingeschränkte Greiffunktion beider Hände verlangten, nicht überfordert. Außerdem kämen für den Kläger rein aufsichtsführende Tätigkeiten in großen Kraftfahrzeugwerkstätten oder in Autowerken in Betracht. Der Kläger müsse noch in der Lage sein, die genannten qualifizierten Verweisungstätigkeiten nach angemessener durchschnittlicher Einarbeitungszeit zu verrichten. Da nach der ständigen Rechtsprechung des BSG für Vollzeitarbeitskräfte der Arbeitsmarkt nicht als praktisch verschlossen angesehen werden könne, sei er nicht berufsunfähig und habe keinen Anspruch auf die begehrte Rente.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Er ist der Ansicht, nach der Rechtsprechung des BSG könne auch bei Vollzeitarbeitskräften in besonders gelagerten Ausnahmefällen der Arbeitsmarkt als verschlossen angesehen werden. Der Kläger sei ein derartiger Ausnahmefall, denn seine Einsatzfähigkeit sei außergewöhnlich stark eingeschränkt und er habe bisher keine zumutbare Verweisungstätigkeit finden können. Die nach der Rentenantragstellung ausgeübten Tätigkeiten habe er sich selbst gesucht, um den Lebensunterhalt seiner Familie sicherzustellen. Sie seien ihm wegen des bestehenden Berufsschutzes als Facharbeiter nicht zumutbar. Da ihm weder das Arbeitsamt noch die Beklagte eine geeignete zumutbare Arbeitsstelle hätten nachweisen können, sei entsprechend der Rechtsprechung des BSG zu den Teilzeitarbeitskräften davon auszugehen, daß der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei, so daß er einen Anspruch auf die Rente wegen Berufsunfähigkeit habe.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger vom 1. Mai 1974 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen wird. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Das LSG ist bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit des Klägers nach § 1246 Abs 2 RVO zutreffend von der Tätigkeit eines gelernten Autolackierers ausgegangen, von der sich der Kläger nicht gelöst hat, weil er sie aus gesundheitlichen Gründen aufheben mußte. Dem Kläger sind nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats nur solche Tätigkeiten zumutbar, die entweder zu den sonstigen Ausbildungsberufen (angelernte Tätigkeiten) gehören oder aber wegen der ihnen anhaftenden Qualitätsmerkmale aus dem Kreis der ungelernten Tätigkeiten herausragen und ebenso wie sonstige Ausbildungsberufe bewertet werden, was am zuverlässigsten aus der tariflichen Eingruppierung erkennbar ist (vgl insbesondere SozR 2200 Nrn 11, 16 und 17 zu § 1246). Ob die vom Berufungsgericht genannten Tätigkeiten (Revisions- oder Überwachungsarbeiten, Anlagenkontrolle, Meßwart- und Schalttafeltätigkeiten, mechanisierte Produktionsarbeiten mittels Bedienen von Apparaten, Verwieger, Tafelführer, Apparatewärter und einfache Maschinisten) diese Voraussetzungen erfüllen, geht aus dem angefochtenen Urteil nicht hervor, denn es enthält keinerlei Feststellungen zu den Qualitätsmerkmalen dieser Tätigkeiten und ihrer tariflichen Einstufung.

Darüber hinaus läßt das angefochtene Urteil die Feststellung vermissen, welche dieser genannten Tätigkeiten der Kläger gesundheitlich und nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten noch verrichten kann. Das LSG hat lediglich festgestellt, unter den genannten Tätigkeiten gebe es viele, bei denen der Kläger gesundheitlich nicht überfordert würde. Welche das sind, geht aus dem Urteil nicht hervor.

Zu Unrecht hat das Berufungsgericht den Kläger auf rein aufsichtsführende Tätigkeiten in großen Kraftfahrzeugwerkstätten oder in Autowerken verwiesen. Solche Tätigkeiten erfordern im allgemeinen eine längere Einarbeitung und Bewährung im speziellen Arbeitsbereich. Darüber hinaus bestehen Bedenken, einen Versicherten, der bis dahin nicht aufsichtsführend tätig gewesen ist, ohne weiteres auf Tätigkeiten zu verweisen, deren charakteristisches Merkmal die Beaufsichtigung, Einteilung und Führen von Menschen ist; die hierfür erforderlichen besonderen Qualitäten können bei einem Facharbeiter nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Hinzu kommt, daß es sich dabei regelmäßig um Beförderungsstellen handelt, die im Bedarfsfalle nach besonderer Auswahl vergeben werden (vgl hierzu Urteile des erkennenden Senats vom 15. September 1964 - 5 RKn 35/62 - in Mitteilungen der Ruhrknappschaft 1965, 54, 56 und vom 25. April 1978 - 5 RKn 2/77 -). Im übrigen hat das LSG festgestellt, der Kläger könne die qualifizierten Verweisungstätigkeiten nach angemessener durchschnittlicher Einarbeitungszeit verrichten, ohne zu sagen, welche Einarbeitungszeit es als angemessen und durchschnittlich ansieht. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats kann ein Versicherter nicht auf solche Tätigkeiten verwiesen werden, deren Ausübung den Erwerb neuer Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzt, die erst in mindestens dreimonatiger Einweisung und Einarbeitung erworben werden können (vgl SozR Nr 40 zu § 45 RKG). Ob die vom LSG genannten Verweisungstätigkeiten eine Einarbeitungszeit von mehr oder weniger als drei Monaten erfordern, geht aus dem angefochtenen Urteil nicht hervor.

Das LSG wird die erforderlichen Tatsachenfeststellungen nachzuholen haben. Dabei ist zu beachten, daß insbesondere die vom LSG genannten Revisions- und Überwachungsarbeiten unterschiedlicher Art sein können. Revisions- und Überwachungsarbeiten einfacher Art, die auch ohne Vorkenntnisse von jedem Arbeitnehmer nach kurzer betrieblicher Einweisung verrichtet werden können, kommen als Verweisungstätigkeiten nur dann in Betracht, wenn ihre Bedeutung durch andere Merkmale wie zB Verantwortungsbewußtsein, Zuverlässigkeit, Wendigkeit usw so hervorgehoben sind, daß sie den sonstigen Ausbildungsberufen (angelernte Tätigkeiten) gleichstehen und ebenso wie diese tariflich eingestuft sind. Soweit es sich um Revisions- und Überwachungstätigkeiten höherer Art handelt, wird das LSG zu prüfen haben, ob der Kläger die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten mitbringt.

Der Senat hat auf die danach begründete Revision des Klägers das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen an das LSG zurückverwiesen. Sollte dabei das LSG wiederum zu dem Ergebnis kommen, daß es für den Kläger noch im Sinne von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbare Vollzeittätigkeiten gibt, so kann auf diese die Rechtsprechung des Großen Senats des BSG zur Frage, ob der Arbeitsmarkt für Teilzeitarbeitskräfte offen oder verschlossen ist, grundsätzlich nicht angewendet werden (vgl SozR 2200 § 1246 Nr 19).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652118

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