Entscheidungsstichwort (Thema)
Waisenrente bzw Kinderzuschuß bis 25. Lebensjahr
Orientierungssatz
1. Die AVG §§ 44 Abs 1 S 2 und 39 Abs 3 S 2 verstoßen weder gegen GG Art 3 Abs 1 noch gegen GG Art 6 Abs 1 iVm GG Art 20, soweit sie die Waisenrente bzw den Kinderzuschuß für ein in der Schul- oder Berufsausbildung befindliches Kind mit der Vollendung des 25. Lebensjahres enden lassen.
2. Ein Widerspruch zu GG Art 3 Abs 1 sowie GG Art 20 Abs 1 ergibt sich auch nicht daraus, daß in anderen vergleichbaren gesetzlichen Regelungen ein späteres Rentenende vorgesehen ist; die unterschiedliche Behandlung der Rentnerwaisen und anderer Waisen auch in dieser Hinsicht ist wegen der Eigenständigkeit des Sozialversicherungsrechts verfassungsrechtlich hinzunehmen.
Normenkette
AVG § 44 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1971-01-25, § 39 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1971-01-25; RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1971-01-25, § 1262 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1971-01-25; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 6 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 20 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 01.06.1978; Aktenzeichen L 5 A 47/77) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 28.02.1977; Aktenzeichen S 6 A 301/75) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 1. Juni 1978 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die im Dezember 1950 geborene Klägerin erhielt ab Oktober 1969 Waisenrente und Kinderzuschuß. Beide Leistungen stellte die Beklagte mit Ablauf Dezember 1975 wegen Vollendung des 25. Lebensjahres ein (Bescheide vom 14. Oktober und 13. November 1975). Die Klägerin begehrt den Kinderzuschuß und die Waisenrente über diesen Zeitpunkt hinaus bis zur Beendigung ihrer Berufsausbildung am 31. August 1976 bzw am 31. August 1977. Sie hält es für einen Verstoß gegen Art 3 Abs 1 sowie Art 6 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 des Grundgesetzes (GG), daß § 44 Abs 1 Satz 2 und § 39 Abs 3 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) anders als vergleichbare Regelungen im Beamten-, Steuer-, Kriegsopfer- und Kindergeldrecht die Waisenrente und den Kinderzuschuß mit der Vollendung des 25. Lebensjahres enden lassen.
Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg (Urteile vom 28. Februar 1977 und 1. Juni 1978). Nach Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) greifen die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht durch; so hätten schon das Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 23. Oktober 1975 (11 RA 164/74) und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Beschluß vom 18. Juni 1975 entschieden.
Mit der - zugelassenen - Revision beantragt die Klägerin (sinngemäß),
die Urteile der Vorinstanzen sowie die angefochtenen Bescheide aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Kinderzuschuß und Waisenrente für die Zeit vom 1. Januar 1976 bis zum 31. August 1976 bzw 31. August 1977 zu verurteilen,
hilfsweise,
eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit von § 44 Abs 1 Satz 2 und § 39 Abs 3 Satz 2 AVG einzuholen.
Ihrer Ansicht nach hat sich das LSG zu Unrecht auf die Entscheidungen des BSG und des BVerfG gestützt. Die letztere betreffe das Rentenende bei gebrechlichen Waisen, bei denen das BVerfG die Beendigung der Zahlung mit dem 25. Lebensjahr nur deshalb für verfassungskonform gehalten habe, weil weitere staatliche Finanzhilfen zur Verfügung stünden. Bei Waisen mit Sozialversicherungsrenten sei dies jedoch nicht der Fall; sie seien dann auf die Hilfe des verwitweten Elternteils angewiesen. Überdies habe das BVerfG in dem Beschluß vom 6. Mai 1975 - -1 BvR 332/72 - zur Kinderzuschußregelung für Enkel eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitsgebots in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip bejaht; die dort angestellten Erwägungen müßten auch in ihrem Falle gelten. Das BSG habe in seinem Urteil vom 23. Oktober 1975 nicht gebührend berücksichtigt, daß etwa zehn Monate zuvor die Bezugsberechtigung für das Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz auf die Vollendung des 27. Lebensjahres heraufgesetzt worden sei. Damit habe man der Erscheinung Rechnung getragen, daß ein großer Teil der Studierenden bis zum 25. Lebensjahr nicht fertig ausgebildet sei. Das treffe auch für die Rentnerwaisen zu. Sie dürften nicht benachteiligt werden, zumal die finanziellen Auswirkungen für die Rentenversicherungsträger gering seien.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nicht begründet.
Nach § 44 Abs 1 Satz 2 AVG wird Waisenrente über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres ua für ein Kind gewährt, das sich in Schul- oder Berufsausbildung befindet; das gleiche trifft gemäß § 39 Abs 3 Satz 2 AVG für den Kinderzuschuß zu. Hiernach besteht kein Anspruch auf Waisenrente (Kinderzuschuß) für die Zeit ab Vollendung des 25. Lebensjahres. Darüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit; die Klägerin macht ausschließlich verfassungsrechtliche Bedenken gegen die in § 44 Abs 1 Satz 2 und § 39 Abs 3 Satz 2 AVG enthaltene zeitliche Begrenzung geltend. Damit kann sie indessen nicht gehört werden; der Senat hat keinen Anlaß, nach Art 100 Abs 1 GG das BVerfG anzurufen.
Wie der Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 23. Oktober 1975 - 11 RA 164/74), ist insoweit ein Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG nicht ersichtlich. Soweit die genannten Vorschriften die Waisenrente (den Kinderzuschuß) mit dem 25. Lebensjahr enden lassen, unterscheiden sie zwischen in der Berufsausbildung stehenden Waisen, die dieses Alter noch nicht erreicht und solchen; die es vollendet haben. Diese Differenzierung findet ihre einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz ausschließende Rechtfertigung schon in finanziellen Erwägungen (BSG aaO); sie bestehen in gleicher Weise fort und sind angesichts der Finanzlage der Rentenversicherungsträger sachlich einleuchtend. Die vom Senat in dem genannten Urteil ferner getroffene Feststellung, daß eine Berufsausbildung erfahrungsgemäß im allgemeinen bei Vollendung des 25. Lebensjahres abgeschlossen sei, hat ihre Gültigkeit mittlerweile ebenfalls nicht verloren. Bei der gebotenen Generalisierung durfte der Gesetzgeber ohne Verstoß gegen den Gleichheitssatz (in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG) von dem Regelfall abweichende Fallgestaltungen unberücksichtigt lassen.
Ein Widerspruch zu Art 3 Abs 1 sowie Art 20 Abs 1 GG ergibt sich auch nicht daraus, daß in vergleichbaren Regelungen im Rahmen anderer Gesetze ein späterer Zeitpunkt als die Vollendung des 25. Lebensjahres vorgesehen ist. Die unterschiedliche Behandlung der "Rentnerwaisen" und anderer Waisen auch in dieser Hinsicht ist wegen der Eigenständigkeit des Sozialversicherungsrechts verfassungsrechtlich hinzunehmen (BVerfG in NJW 1975, 1691 = SozR 2400 § 44 Nr 1). Entgegen der Meinung der Klägerin trifft dies nicht nur für die dritte Fallgruppe des § 44 Abs 1 Satz 2 (§ 39 Abs 3 Satz 2) AVG zu, die zu dem Beschluß des BVerfG aaO Veranlassung gegeben hat. Diese Erwägungen sind vielmehr allgemeiner Natur (vgl die Ausführungen des BVerfG unter IV); sie besitzen innerhalb des § 44 Abs 1 Satz 2 (§ 39 Abs 3 Satz 2) AVG für die Berufsausbildung nach Vollendung des 25. Lebensjahres ebenso Gültigkeit wie für die Rentnerwaisen, die mit 25 oder mehr Jahren ein freiwilliges soziales Jahr leisten.
Auf den Beschluß des BVerfG vom 6. Mai 1975 (NJW 1975, 1771) kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg berufen. Die Entscheidung ist zu der Frage ergangen, ob es gegen den Gleichheitssatz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip verstößt, daß in der (knappschaftlichen) Rentenversicherung ein Kinderzuschuß für Enkel nur gewährt wird, wenn der Rentner sie vor Eintritt des Versicherungsfalles in seinen Haushalt aufgenommen hat oder überwiegend unterhält. Daß das BVerfG dies bejaht hat, läßt keinen Schluß auf die Verfassungswidrigkeit von § 44 Abs 1 Satz 2 (§ 39 Abs 3 Satz 2) AVG in dem hier in Rede stehenden Teil zu. Die Ausführungen im Beschluß vom 6. Mai 1975 aaO zur Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz lassen sich auf den vorliegenden Fall nicht übertragen. Zur sozialen Komponente in der Rentenversicherung, die die Klägerin besonders hervorhebt, hat sich das BVerfG in der - einschlägigen - Entscheidung vom 18. Juni 1975 (NJW 1975, 1692 unter Nr 2, Mitte) im gleichen Sinne geäußert wie im Beschluß vom 6. Mai 1975.
Ist die Regelung des § 44 Abs 1 Satz 2 (§ 39 Abs 3 Satz 2) AVG hiernach mit Art 3 Abs 1 und Art 20 Abs 1 GG vereinbar, so verstößt sie schließlich auch nicht gegen Art 6 Abs 1 GG. Denn aus dem in dieser Verfassungsnorm enthaltenen Gebot positiver Förderung der Familie (so BVerfGE 28, 324, 347) erwachsen keine konkreten Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen; der Staat ist nicht gehalten, jegliche die Familie treffende Belastung auszugleichen oder jeden Unterhaltspflichtigen finanziell zu entlasten (BVerfGE 23, 258, 264; 28, 104, 113).
Hiernach war der Revision der Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen