Leitsatz (amtlich)
Setzt ein zum (Not- und) Kriegsdienst einberufener Schüler die vorgesehene Schulausbildung nach dem Kriege fort, so ist auch die schulfreie Zeit zwischen kriegsbedingter Schließung und der Wiedereröffnung der Schule eine Ausfallzeit iS von AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b (= RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b).
Normenkette
AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1972-10-16; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
SG Nürnberg (Entscheidung vom 11.07.1978; Aktenzeichen S 6 An 265/76) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 11. Juli 1978 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch der Revisionsinstanz zu erstatten.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob auch die Zeit vom 8. September 1945 bis 21. Januar 1946 als Ausfallzeit vorzumerken ist.
Der am 25. August 1926 geborene Kläger wurde als Schüler der 7. Oberschulklasse im März 1944 notdienstverpflichtet; nach Kriegsdienst und Gefangenschaft kehrte er im September 1945 nach Hause zurück. Mit dem Tage der Wiedereröffnung seiner alten Schule am 22. Januar 1946 besuchte er dort einen Sonderlehrgang als Kriegsteilnehmer und legte im Juni 1947 die Reifeprüfung ab. Die Beklagte lehnte es ab, die Zeit zwischen Heimkehr und Schulbeginn als (weitere) Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) vorzumerken (Bescheid vom 21. Juni 1975, Widerspruchsbescheid vom 5. August 1976).
Der Klage hat das Sozialgericht (SG) insoweit stattgegeben. Im Urteil vom 11. Juli 1978 hat es ausgeführt, es sei unbestritten, daß zur "weiteren Schulausbildung" im Sinne der Vorschrift die Schulferien gehörten, auch wenn sie - zB bei Verhinderung des Schulbetriebes durch höhere Gewalt - länger als üblich dauerten. Gerade im Jahre 1945 hätten viele Schüler infolge des Kriegsgeschehens "verlängerte Schulferien" gehabt, so auch Mitschüler des Klägers. Ihnen gegenüber dürfe der Kläger nicht schlechter gestellt werden, weil er Not- und Kriegsdienst habe leisten müssen; hierdurch habe er seinen Schülerstatus nicht eingebüßt. Das SG hat gegen sein Urteil die Sprungrevision zugelassen.
Die Beklagte hat die Revision eingelegt; sie beantragt (sinngemäß),
das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit sie verpflichtet worden ist, die Zeit vom 8. September 1945 bis 21. Januar 1946 als Ausfallzeit vorzumerken, und die Klage insgesamt abzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung von § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG. Die Zeit ab der Heimkehr des Klägers bis zur Wiederaufnahme des Schulbetriebs sei keine Ausfallzeittatsache. Seine Schulausbildung sei mit der Verpflichtung zum Notdienst im März 1944 beendet gewesen. Nach der Heimkehr sei er nicht automatisch wieder Schüler seines Heimatgymnasiums geworden der 1946 fortgesetzte Schulbesuch stehe mit dem früheren Ausbildungsabschnitt in keinem zeitlich so engen Zusammenhang, daß die Zwischenzeit als Teil einer einheitlichen Schulausbildung betrachtet werden könne.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet; sie hat die Zeit vom 8. September 1945 bis 21. Januar 1946 beim Kläger als Ausfallzeit vorzumerken.
Gemäß § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG sind Ausfallzeiten ua Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebenswahres liegenden "weiteren Schulausbildung" bis zur Höchstdauer von vier Jahren. Diese Vorschrift trifft auf die Zeit zu, die zwischen der Heimkehr des Klägers aus der Kriegsgefangenschaft und der Wiedereröffnung seiner Schule liegt.
Daß mit Einschluß der betreffenden Monate die nach dem Gesetz zulässige Höchstdauer an Ausfallzeit überschritten werde, ist nach dem festgestellten - und nach dem Vorbringen der Beteiligten sowie dem Inhalt der Akten unstreitigen - Sachverhalt auszuschließen. Auch ist der ab Ende Januar 1946 bis Juni 1947 vom Kläger besuchte Sonderlehrgang für Kriegsteilnehmer von der Einrichtung und dem Zweck her "weitere Schulausbildung" gewesen, denn er diente dazu, den Teilnehmern die Erlangung des Reifezeugnisses zu ermöglichen (siehe dazu SozR Nr 23 zu § 1259 RVO, wo eine Abgrenzung zu einem nicht unter § 1259 Abs 1 Nr 4 Buchst b RVO bzw § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG fallenden "Bildungslehrgang" erfolgt ist). Von daher gesehen ist die Zeit des Wartens auf den Lehrgangsbeginn eine Zeit des Wartens auf die weitere Schulausbildung.
Für die Frage, ob eine solche Zeit eine Zeit "weiterer Schulausbildung" darstellt, kann der Senat offenlassen, ob der Status als Schüler fortbestanden hat, nachdem der Kläger die Schule aus kriegsbedingten Gründen verlassen hatte. Wäre er nicht zum Not- und Kriegsdienst herangezogen worden und hätte er stattdessen die Schule bis zu deren Schließung wegen des Kriegsendes weiterbesucht, dann wäre er auch in der Zeit bis zu ihrer Wiedereröffnung Schüler geblieben. Damit würden die "Zwangsferien" infolge des Zusammenbruchs im Jahre 1945 ein Teil der "weiteren Schulausbildung" sein. Denn die Zeit der Schulausbildung, wie § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG sie versteht, umfaßt nicht nur die Unterrichtstage, sie erstreckt sich vielmehr auch auf die unterrichtsfreien Zeiten innerhalb der Schulzeit. Hiervon ist das Bundessozialgericht (BSG) bisher schon mehrfach ausgegangen (SozR Nrn 16 und 47 zu § 1259 RVO).
Demgegenüber geht der Hinweis der Beklagten auf BSGE 21,185 fehl. Daß (für die Gewährung von verlängerter Waisenrente) ein regelmäßiger Schulbesuch zu verlangen ist, der die Zeit und Arbeitskraft des Schülers überwiegend in Anspruch nimmt, gilt nicht für schulfreie Zeiten; dieses Erfordernis bezieht sich nur auf die Unterrichtstage selbst.
Die Rechtsprechung des BSG hat aber nicht nur schulfreie Zeiten innerhalb eines Ausbildungsabschnittes als Ausfallzeiten im Sinne von § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG angesehen, sie hat auch zwischen Schulende und Hochschulbeginn liegende Zeiten als Ausfallzeiten anerkannt, in denen der Betreffende nicht (mehr) den Status des Schülers und (noch) nicht den Status des Studenten hatte (vergleiche SozR Nr 16 zu § 1259 RVO). Hierfür war wesentlich der Gedanke, daß bei einem solchen häufigen und typischen Sachverhalt, wie er sich aus schul- bzw hochschulorganisatorischen Gründen für studierwillige Abiturienten ergibt, die Zwischenzeit regelmäßig für die Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung und für eine Beitragsleistung zur Rentenversicherung ausfällt. Die Übergangszeit von einer Ausbildung zur anderen ist damit einer Ferienzeit vergleichbar.
Diese Gedanken hält der Senat für auf den hier zu beurteilenden Sachverhalt übertragbar. Bei unbefangener Betrachtungsweise stellt sich die Schulausbildung des Klägers, die zur Erlangung des Reifezeugnisses führen sollte, durch die Verpflichtung zum Notdienst und zum Kriegsdienst als (zwangsweise) unterbrochen dar. Hiervon sind auch das SG und die Revision ausgegangen. Mit der Heimkehr des Klägers war diese Unterbrechung beendet. Damit, daß er - nach den tatsächlichen Feststellungen des SG sogleich nach der Heimkehr - zum Ausdruck brachte, er wolle "als Schüler wieder am Schulbetrieb teilnehmen", befand er sich wieder in der Schulausbildung. Während der nun folgenden Zwischenzeit von der Heimkehr an bis zum Schulbeginn hat er sich hiervon nicht gelöst; er war in derselben Lage wie seine nicht im Kriege gewesenen Mitschüler, die - wie er - bis Januar 1946 auf die Fortsetzung der Schulausbildung warten mußten.
Nach allem war, wie geschehen, zu entscheiden, wobei zur Klarstellung noch darauf hingewiesen sei, daß der Senat das Urteil des SG als Verpflichtung der Beklagten zur Vormerkung der streitigen Zeit als Ausfallzeit und nicht zur "Festsetzung" einer Ausfallzeit verstanden hat.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen