Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufstellung des Lohnnachweises durch Berufsgenossenschaft. Konzept des Sozialrechts im Gegensatz zum Steuerrecht und allgemeinen Verwaltungsrecht

 

Leitsatz (amtlich)

§ 44 Abs 1 S 2 SGB 10 gibt der Behörde nur dann das Recht, die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes für die Vergangenheit abzulehnen, wenn die Unrichtigkeit des Verwaltungsaktes auf einem positiven Tun des Betroffenen beruht; die Verweigerung von Angaben genügt nicht.

 

Orientierungssatz

1. Die Vorschriften, die die Berufsgenossenschaft ermächtigen, den Lohnnachweis selbst aufzustellen, berechtigen nicht dazu, das säumige Mitglied durch einen bewußt zu hoch angesetzten Beitrag zu bestrafen. Sie sollen auch nicht als eine unanfechtbare Grundlage für die Berechnung des Beitrages des säumigen Unternehmers gelten, sondern die Berufsgenossenschaft nur so stellen, als hätte der Unternehmer selbst den Lohnnachweis erbracht.

2. Das Sozialrecht ist so konzipiert, daß dem Bürger in einem weitestgehenden Maße Hilfe bei der Verwirklichung seiner sozialen Rechte zuteil wird. Das Steuerrecht will zuvörderst den Steueranspruch des Staates sicherstellen.

3. Im Sozialrecht demgegenüber ist eine dem § 51 VwVfG entsprechende Vorschrift nicht enthalten. Dies läßt erkennen, daß der Gesetzgeber dem Berechtigten nach dem SGB 10 eine stärkere Rechtsposition bei der Änderung bestandskräftiger nicht begünstigender Verwaltungsakte zu seinen Gunsten angedeihen lassen wollte. Bestätigt wird dies auch dadurch, daß die dem § 44 SGB 10 in etwa vergleichbare Vorschrift des § 48 VwVfG deutliche Unterschiede aufweist. § 48 VwVfG räumte der Behörde lediglich ein Handlungsermessen ein, ob sie ihren rechtswidrigen Verwaltungsakt zurücknimmt (... kann ... zurückgenommen werden), wo hingegen § 44 SGB 10 dem Betroffenen einen Rechtsanspruch auf Berichtigung des rechtsverbindlichen Verwaltungsakts zuerkennt. Zudem erstreckt sich das Handlungsermessen der Verwaltungsbehörde nach § 48 VwVfG gerade darauf, ob die Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zu geschehen hat. Statt dessen stellt § 44 Abs 1 S 1 SGB 10 grundsätzlich auf die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts für die Vergangenheit ab und läßt nur ausnahmsweise (Abs 1 S 2) eine solche lediglich für die Zukunft zu.

 

Normenkette

SGB 10 § 44 Abs 1 S 2; RVO § 743; SGB 1 § 2 Abs 2 Halbs 2; AO § 173; SGB 10 § 48 Abs 2; SGB 4 § 26 Abs 1; RVO § 734 Abs 2, § 741 Abs 1, § 747 Abs 2 S 2, § 749; VwVfG § 51 Abs 1, § 48 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 17.12.1986; Aktenzeichen L 3 U 145/85)

SG Trier (Entscheidung vom 26.06.1985; Aktenzeichen S 3 U 3/85)

 

Tatbestand

Die klagende Firma begehrt die nachträgliche Ermäßigung der für die Jahre 1981 und 1983 bestandskräftigen Beitragsbescheide.

Die Klägerin reichte die Lohnnachweise für das Jahr 1980, nicht aber auch diejenigen für die Jahre 1981 bis 1983 ein, obwohl sie hierzu von der beklagten Berufsgenossenschaft (BG) wiederholt aufgefordert worden war. Daraufhin erstellte die Beklagte die Lohnnachweise selbst anhand der Auskünfte der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) für den Kreis D    E     und erteilte auf dieser Basis die Umlagebescheide. Die von der Beklagten im Jahre 1984 durchgeführte Lohnprüfung ergab, daß den Beitragsbescheiden für die Jahre 1980 und 1982 zu niedrige und für die Jahre 1981 und 1983 zu hohe Lohnsummen zugrunde gelegt worden waren. Mit Bescheid vom 3. Oktober 1984 berichtigte die Beklagte nur die zu niedrig in Ansatz gebrachten Lohnsummen und erhob 2.145,99DM nach. Außerdem legte die Beklagte dem Geschäftsführer der Klägerin mit Bescheid vom 16. November 1984 eine Geldbuße von 200,-- DM auf. Den Widerspruch der Klägerin, der sich dagegen richtet, daß entgegen ihrem Antrag vom 24. August 1984 die Beklagte bei der Beitragsforderung die zu hoch festgesetzten Beiträge nicht berücksichtigt habe, wies die Beklagte zurück. Gleichzeitig stellte die Beklagte fest, daß der aufgestellte Lohnnachweis für das Jahr 1981 um 8.473,-- DM und für das Jahr 1983 um 23.843,-- DM zu hoch in Ansatz gebracht worden sei (Widerspruchsbescheid vom 3. Dezember 1984).

Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteile des Sozialgerichts vom 26. Juni 1985 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 17. Dezember 1986). Das LSG hat zur Begründung ua ausgeführt: Nach § 44 Abs 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X) könne die Bestandskraft nicht durchbrochen werden, wenn der unanfechtbar gewordene Verwaltungsakt auf Angaben beruhe, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht habe. Diese Rechtsfolge trete nach Lauterbach, Unfallversicherung, 3.Aufl 1987, § 743 RVO RdNr 4 auch ein, wenn der Unternehmer es pflichtwidrig unterlassen habe, die Lohnnachweise einzureichen. Dieser Ansicht sei mit einem differenzierenden Vorbehalt beizupflichten. Gedankliche Hilfe sei dem Steuerrecht zu entnehmen. § 173 Abgabenordnung (AO) gestatte eine Verminderung der zu hoch angesetzten Steuerfestsetzung nur, wenn den Betroffenen kein grobes Verschulden daran treffe, daß Tatsachen und Beweismittel erst nachträglich bekannt würden. Der Klägerin sei ein grobes Verschulden an dem Zustandekommen der zu hohen Lohnnachweise anzulasten. Auf ein Verschulden komme es nur dann nicht an, wenn die Tatsachen und Beweismittel für eine niedrigere Abgabe in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit solchen zu hohen Abgaben stünden, so etwa, wenn eine falsche zeitliche Verbuchung stattfinde. Darauf könne die Klägerin sich nicht berufen.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 743, 744 und 749 Reichsversicherungsordnung (RVO) sowie § 44 SGB X. Die Beklagte sei nach § 743 RVO nicht befugt gewesen, allein auf der Grundlage des bei der AOK gemeldeten Beitragsaufkommens die Lohnsumme zu ermitteln. Die Beklagte hätte vielmehr die Lohnnachweise nach Einsichtnahme der Geschäftsunterlagen durch den Rechnungsbeamten selbst aufstellen müssen (§ 744 RVO). Ebensowenig sei § 749 Nr 3 RVO zu entnehmen, daß die Beitragserstattung zugunsten des Beitragsschuldners ausgeschlossen sei. Diese Vorschrift befasse sich nur mit Beitragsänderungen zu Ungunsten eines Beitragsschuldners. § 44 Abs 1 Satz 2 SGB X stehe der Aufhebung eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts für die Vergangenheit nicht entgegen. Die Klägerin habe nicht vorsätzlich unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht. Der in § 44 Abs 1 Satz 2 SGB X enthaltene Ausschlußtatbestand beziehe sich nur auf ein positives Tun und sei einem gänzlichen oder teilweisen Unterlassen von Angaben entgegen Lauterbach (aaO) nicht gleichgestellt; auch sei ein bedingter Vorsatz selbst dann zu verneinen, wenn der Beitragsschuldner der Aufforderung zur Einreichung von Lohnnachweisen nicht nachkomme. Ebenso sei es nicht erlaubt, den Grundgedanken des § 173 AO auf das Sozialrecht zu übertragen.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des LSG Rheinland-Pfalz vom 17. Dezember 1986 und des SG Trier vom 26. Juni 1985 sowie den Bescheid der Beklagten vom 3. Oktober 1984 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 1984 aufzuheben mit dem Bestreben, eine Erstattung der für die Jahre 1981 und 1983 zu hoch festgesetzten Beiträge zu erlangen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet. Entgegen den Entscheidungen der Vorinstanzen ist die Beklagte verpflichtet, die Beitragsbescheide für die Jahre 1981 und 1983 insoweit nachträglich zu berichtigen, als auf der Grundlage zu hoher Lohnnachweise überhöhte Beiträge festgestellt worden sind; die überzahlten Beiträge sind der Klägerin zu erstatten.

Streitgegenstand ist nicht - wovon das LSG zutreffend ausgeht - die mit Bescheid vom 3. Oktober 1984 erfolgte Nacherhebung von Beiträgen für die Jahre 1980 und 1982. Vielmehr ist mit dem LSG davon auszugehen, daß die Klägerin die Erstattung der für die Jahre 1981 und 1983 zu hoch entrichteten Beiträge begehrt und damit eine Berichtigung der bestandskräftigen Beitragsbescheide zu erreichen sucht. Die Beklagte lehnte dies nicht ausdrücklich ab; sie wies lediglich den Widerspruch gegen den Nacherhebungsbescheid zurück. Den Gründen des Widerspruchsbescheides zufolge fand die Beklagte sich allerdings nicht bereit, die begehrte Verrechnung mit den zu erwartenden Gutschriften unter Hinweis auf § 44 Abs 1 Satz 2 SGB X vorzunehmen. Damit versagte sie incidenter der Klägerin die beantragte Beitragserstattung und als Voraussetzung dafür letztendlich eine Berichtigung der Beitragsbescheide für die Jahre 1981 und 1983.

Rechtsgrundlage für die Neufeststellung der Beiträge mit Wirkung für die Vergangenheit zugunsten der Klägerin ist § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein die Beiträge zu Unrecht erhebender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Diese Vorschrift ist, wie der erkennende Senat in seinem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 26. Januar 1988 - 2 RU 5/87 - entschieden hat, auf Beitragsbescheide der BG anzuwenden, weil der Gesetzgeber des SGB X im Gegensatz zu anderen Rechtsbereichen bewußt auf Sonderregelungen verzichtet hatte. In der genannten Entscheidung hat der Senat im einzelnen ausgeführt, daß weder § 734 Abs 2 RVO noch § 749 RVO den Regelungsbereich des § 44 SGB X in bezug auf Beitragsbescheide berührt. Ebensowenig stehen allgemeine Grundsätze im Beitragsrecht der Rechtsanwendung des § 44 SGB X entgegen.

Die Beklagte stellte anhand der im Jahre 1984 durchgeführten Lohnprüfung fest, daß die von ihr selbst erstellten Lohnnachweise, die Grundlage für die Beitragsbescheide für die Jahre 1981 und 1983 waren, zu hoch in Ansatz gebracht worden waren. Aufgrund dessen leistete die Klägerin - was unbestritten ist - überhöhte Beiträge. Die fraglichen Beitragsbescheide sind somit rechtswidrig (zur Rechtswidrigkeit iS des § 44 SGB X: BSG SozR 2200 § 1251 Nr 102). Das Berufungsgericht meint allerdings, eine Berichtigung der Beitragsbescheide zu Gunsten der Klägerin mit der Folge einer nach § 26 Abs 1 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV) vorzunehmenden Beitragserstattung (Urteil des Senats vom 26. Januar 1988 aaO) komme nicht in Betracht, weil die Klägerin den zu hohen Beitragsansatz selbst zu verantworten habe. Diese Annahme findet im Gesetz keine Stütze.

Es ist zwar richtig, daß die Klägerin ihrer gesetzlichen Verpflichtung, die Lohnnachweise einzureichen (§ 741 Abs 1 RVO), trotz wiederholter Aufforderung nicht nachgekommen ist. Daraufhin machte die Beklagte von ihrem nach § 743 RVO zugestandenen Recht Gebrauch, die Lohnnachweise selbst zu erstellen. Die Verhaltensweise der Klägerin, die die Vorinstanzen als schuldhaftes Verhalten gewertet haben, rechtfertigt es jedoch nicht, von einer Berichtigung abzusehen. Der Ausnahmetatbestand des § 44 Abs 1 Satz 2 SGB X, der der Beklagten allein die Berechtigung hätte geben können, von einer Berichtigung für die Vergangenheit Abstand zu nehmen, liegt nicht vor. Aufgrund dessen kann dahinstehen, ob der Rüge der Klägerin zuzustimmen ist, die Beklagte sei nach §743 RVO nicht befugt gewesen, allein nach dem bei der AOK gemeldeten Beitragsaufkommen die Lohnsumme zu ermitteln.

Nach § 44 Abs 1 Satz 2 SGB X ist ein rechtswidriger nicht begünstigender und unanfechtbar gewordener Verwaltungsakt nicht für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Nach dem klaren Gesetzeswortlaut ist allein darauf abzustellen, ob der Verwaltungsakt auf die falschen Angaben des Betroffenen zurückzuführen ist. Davon geht auch das Bundesverwaltungsgericht aus (BVerwGE 71, 220, 227). Dieses gesetzliche Erfordernis eines positiven Tuns, das die Rücknahme eines Verwaltungsaktes für die Vergangenheit verbietet, ist nicht - wie das LSG meint - dem schuldhaften Unterlassen der Klägerin gleichzuerachten, das die Beklagte darin sieht, daß die Klägerin trotz wiederholter Aufforderung keine Lohnnachweise zum Zwecke der Berechnung der Umlage eingereicht hatte (§§ 740, 741 Abs 1 RVO).

Das Gesetzgebungsverfahren bestätigte diese Interpretation. § 44 Abs 1 Satz 2 SGB X stellt als Ausnahmetatbestand auf die Angaben des Betroffenen ab. Der Regierungsentwurf schloß zunächst die Rücknahme eines nicht begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit aus (§ 42 Abs 1 Satz 2, nunmehr § 44 SGB X), wenn die Voraussetzungen des § 43 Abs 2 Satz 3 Nrn 1 oder 3 SGB X (nunmehr § 45 SGB X) vorlagen, oder der Betroffene den Verwaltungsakt durch Angaben erwirkt hatte, deren Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit er erkannt hatte oder hätte erkennen müssen. § 43 Abs 2 Satz 3 Nr 1 des Entwurfs befaßte sich mit dem Erwirken eines Verwaltungsaktes durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung, während es nach Nr 3 dieser Vorschrift auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des rechtswidrigen Verwaltungsaktes ankommen sollte (BT-Drucks 8/2034 S 15 und 34). Mithin erstreckte sich hiernach die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit auf die Fälle, in denen der Betroffene die falsche Tatsachengrundlage nicht zu vertreten hatte (so Begründung der Bundesregierung zu § 42 in BT-Drucks 8/2034 S 34). Demgegenüber sah der Bundesrat in seiner Stellungnahme (BT-Drucks 8/2034 zu Art 1 §§ 42 - 48 S 49) den mit der Neukonzeption dieser Vorschrift verfolgten Zweck, die Rücknahme-, Widerrufs-, Aufhebungs- und Erstattungsregelungen übersichtlicher und klarer zu gestalten, in der vorliegenden Fassung als nicht erreicht an und regte aufgrund dessen eine Überprüfung an. Dem trug der Beschluß des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß) insofern Rechnung, als er die nunmehr in § 44 Abs 1 Satz 2 SGB X enthaltene Fassung vorschlug (BT-Drucks 8/4022 § 42 Abs 1 Satz 2, S 28). In der Begründung hierzu ist ausgeführt: "Die Änderung von Abs 1 Satz 2 dient der Vereinfachung. Es wird nunmehr nur noch der wichtigste Fall erfaßt." (BT-Druck 8/4022 zu § 42 S 82).

Neumann-Duesberg (BKK 1981 S 6, 17, Fußn 59) teilt diese Auffassung. Sinn des § 44 Abs 1 Satz 2 SGB X sei es, den Betroffenen von der Nachzahlung auszuschließen, weil er die Verwaltung bewußt oder grob fahrlässig auf die falsche Fährte geführt habe. Eine ähnlich falsche Zielangabe fehle, wenn der Betroffene trotz Rechtspflicht sich nicht äußere. Eine entsprechende Anwendung der Ausnahmevorschrift komme deshalb nicht in Betracht. Die Rechtspflicht zur richtigen Offenbarung könne im Einzelfall nur als Ordnungswidrigkeit geahndet oder im Zwangswege durchgesetzt werden. Schneider-Danwitz (SGB-SV-Gesamtkommentar, Anm 26 zu § 44 SGB X), scheint auf die vorsätzlich unrichtige Angabe abzuheben. Er verweist darauf, daß der Gesetzgeber lediglich aus Gründen der Vereinfachung die Regelung auf den praktisch wichtigen Fall der unrichtigen Angabe eingeschränkt habe, der damit beispielhaft gemeint sei. Ebenso heben Schroeder-Printzen/Engelmann/Wiesner/von Wulffen, SGB X, § 44 Anm 7 in der Kommentierung des Abs 1 Satz 2 auf vorsätzlich unrichtige Angaben ab und halten Fahrlässigkeit für unschädlich. Siebert (SdL 1984, 374, 377) nimmt eine Mittelmeinung ein. Er geht zwar von bewußt falschen Angaben aus, hält es aber nach dem sozialen Sinngehalt des § 44 Abs 1 Satz 2 SGB X für angezeigt, dem das Unterlassen gleichzusetzen, wobei er an das sanktionsfähige Schweigen dieselben Anforderungen (Vorsatz) wie an das aktive Tun stellt.

Demgegenüber meinen Lauterbach/Watermann (Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl § 743 RdNr 4; im Ergebnis auch Hauck/Haines, SGB X, 1, 2, § 44 RdNrn 21 und 22), worauf das LSG seine Entscheidung stützt, der Grundgedanke des § 44 Abs 1 Satz 2 SGB X lasse es zu, diese Vorschrift auch dann anzuwenden, wenn der Betroffene entscheidungserhebliche Angaben bewußt verschweige; befolge der Betroffene die Aufforderung der BG zur Einreichung der Lohnnachweise nicht, handele er regelmäßig mindestens bedingt fahrlässig, so daß dann der Tatbestand des § 44 Abs 1 Satz 2 SGB X gegeben sei. Diese Vorschrift sei nun geeignet, zu einer von der Auffassung des BSG in Bd 22 S 271, 272 f (= SozR Nr 1 zu § 752 aF RVO; kritisch dazu ua Wolber BG 1966, 312/313; Seidenfaden BG 1966, 154) abweichenden Regelung zu gelangen.

Dem vermag der Senat nicht zuzustimmen. Der BG steht nach wie vor bei der Aufstellung eines Lohnnachweises nach § 743 RVO kein Handlungsermessen zu (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl 1987 S 544 b). Die Beweiswürdigung, die sie hierbei anzustellen hat, kann nur zu einem richtigen Ergebnis führen. Dieser Findungsprozeß ist im sozialgerichtlichen Verfahren im vollen Umfang nachprüfbar. Auch sind die nachträglich vom Unternehmer gemachten Angaben nicht unberücksichtigt zu lassen. Die Vorschriften, die die BG ermächtigen, den Lohnnachweis selbst aufzustellen, berechtigen nicht dazu, das säumige Mitglied durch einen bewußt zu hoch angesetzten Beitrag zu bestrafen. Sie sollen auch nicht als eine unanfechtbare Grundlage für die Berechnung des Beitrages des säumigen Unternehmers gelten, sondern die BG nur so stellen, als hätte der Unternehmer selbst den Lohnnachweis erbracht. So hindert beispielsweise im umgekehrten Fall die Selbstberechnung des Beitrags durch den Unternehmer (§ 747 Abs 1 RVO) die BG nicht, Unrichtigkeiten zu berichtigen (§ 747 Abs 2 Satz 2 RVO). Aufgrund dessen kann der von der BG aufgestellte Lohnnachweis kein Hinderungsgrund sein, berechtigte Einwendungen des Unternehmers zu unterbinden. § 44 SGB X gibt der materiellen Gerechtigkeit den Vorrang. Er stellt sicher, daß die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden (§ 2 Abs 2 Halbs 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - SGB I). Infolgedessen kann es nach § 44 SGB X nicht darauf ankommen, ob der Verwaltungsakt unanfechtbar geworden ist, weil der Betroffene ihn nicht bzw erfolglos angefochten hat (Brackmann, aaO S 232 d III).

Ebensowenig ist entgegen dem LSG gedankliche Hilfe im Steuerrecht zu finden. Die unterschiedliche Gesetzessystematik und nicht zuletzt der gegensätzliche Gesetzeszweck verbietet dies. Das Sozialrecht ist so konzipiert, daß dem Bürger in einem weitestgehenden Maße Hilfe bei der Verwirklichung seiner sozialen Rechte zuteil wird. Das Steuerrecht will zuvörderst den Steueranspruch des Staates sicherstellen. § 173 AO verdeutlicht dies. Nach dessen Ziff 1 sind Steuerbescheide zu Lasten des Steuerpflichtigen aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Eine Änderung zu Gunsten des Steuerpflichtigen ist hingegen nur zulässig (Ziff 2), wenn Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und außerdem den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Das unausgewogene Verhältnis einer nachträglichen Steuerfestsetzung zu Ungunsten und zu Gunsten des Steuerpflichtigen ist somit offenkundig; Steuernachforderungen können stets, Steuerermäßigungen nur dann erfolgen, wenn den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden an der ursprünglichen Steuerfestsetzung trifft. Schließlich kann die Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheides zu Gunsten des Steuerpflichtigen nicht einmal dann bewirkt werden, wenn die höchstrichterliche Rechtsprechung sich nachträglich ändert (BFH, Großer Senat, Beschluß vom 23. November 1987 - GrS 1/86 - BB 1988, 470). Im Gegensatz hierzu ist kraft ausdrücklicher gesetzlicher Regelung in § 48 Abs 2 SGB X der Verwaltungsakt für die Zukunft aufzuheben, wenn nach höchstrichterlicher Rechtsprechung das Recht anders ausgelegt wird als von der Behörde bei Erlaß des Verwaltungsakts. Unter bestimmten Voraussetzungen ist bei Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung ein nicht begünstigender Verwaltungsakt nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X sogar für die Vergangenheit zurückzunehmen (BSGE 57, 209, 210 = SozR 1300 § 44 Nr 13; BSGE 58, 27, 30 f = SozR 1300 § 48 Nr 12 mwN).

Eine dem § 173 AO vergleichbare Vorschrift findet sich im Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG), weshalb es für das LSG - wenn überhaupt - näher gelegen hätte, darauf zurückzugreifen. § 51 VwVfG behandelt das Wiederaufgreifen des Verfahrens. Er regelt die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts bei nachträglicher Änderung der Sach- und Rechtslage (Abs 1 Ziff 1), beim Vorliegen neuer Beweismittel zur Herbeiführung einer günstigen Entscheidung für den Betroffenen (Abs 1 Ziff 2) sowie beim Vorhandensein von Wiederaufnahmegründen entsprechend § 580 Zivilprozeßordnung (Abs 1 Ziff 3). Die Zulässigkeit des Antrags zum Wiederaufgreifen des Verfahrens seitens des Betroffenen ist allerdings davon abhängig (Abs 2), daß der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen.

Im Sozialrecht demgegenüber ist eine dem § 51 VwVfG entsprechende Vorschrift nicht enthalten. Bereits dies läßt erkennen, daß der Gesetzgeber dem Berechtigten nach dem SGB X eine stärkere Rechtsposition bei der Änderung bestandskräftiger nicht begünstigender Verwaltungsakte zu seinen Gunsten angedeihen lassen wollte. Bestätigt wird dies auch dadurch, daß die dem § 44 SGB X in etwa vergleichbare Vorschrift des § 48 VwVfG deutliche Unterschiede aufweist. § 48 VwVfG räumte der Behörde lediglich ein Handlungsermessen ein, ob sie ihren rechtswidrigen Verwaltungsakt zurücknimmt (... kann ... zurückgenommen werden), wo hingegen § 44 SGB X dem Betroffenen einen Rechtsanspruch auf Berichtigung des rechtsverbindlichen Verwaltungsakts zuerkennt (BSG SozR 2200 § 1251 Nr 102; 1300 § 44 Nr 15; Kopp, VwVfG, 4. Aufl, § 48 RdNrn 35, 36, 61). Zudem erstreckt sich das Handlungsermessen der Verwaltungsbehörde nach § 48 VwVfG gerade darauf, ob die Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zu geschehen hat (Kopp aaO § 48 RdNrn 74 f). Statt dessen stellt § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X grundsätzlich auf die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts für die Vergangenheit ab und läßt nur ausnahmsweise (Abs 1 Satz 2) eine solche lediglich für die Zukunft zu.

Bereits diese Rechtsvergleiche machen offenkundig, daß es sich bei § 44 Abs 1 SGB X um eine dem Sozialrecht immanente und eigenständige Vorschrift handelt, die es jedenfalls in diesem Regelungsbereich ausschließt, bei der Auslegung dieser Vorschrift Rechtsgrundsätze des Verwaltungsverfahrensgesetzes entsprechend heranzuziehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 214

NVwZ-RR 1989, 282

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