Leitsatz (amtlich)
Zum Eintritt in die Selbstversicherung (RVO § 1243 aF) genügte es, wenn der Berechtigte die Ausstellung der ersten Quittungskarte vor Vollendung des 40. Lebensjahres beantragt und den ersten Beitrag für einen vor Vollendung des 40. Lebensjahres liegenden Zeitraum innerhalb der Frist des RVO § 1442 aF entrichtet hatte.
Normenkette
RVO § 1243 Fassung: 1937-12-21, § 1442 Fassung: 1937-12-21
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 29. Februar 1956 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kontrollbeamte der beklagten Landesversicherungsanstalt zog die beiden Quittungskarten Nr. 1 (mit 52 Beitragsmarken) und Nr. 2 (mit 2 Beitragsmarken) der am 31. Juli 1913 geborenen Klägerin ein, weil sich die Klägerin die Karte Nr. 1, deren freiwillig entrichtete Beitragsmarken den Aufdruck "54" enthielten, zwar am 5. Juni 1953 - also vor Vollendung des 40. Lebensjahres - hatte ausstellen lassen, mit der Entrichtung freiwilliger Beiträge, aber - ohne entsprechende Vorversicherungszeiten - erst nach Vollendung ihres 40. Lebensjahres begonnen hatte. Auf Bericht des Kontrollbeamten, daß er die Klägerin in diesem Sinne aufgeklärt und daß sie um Erstattung der "rechtsungültigen Beiträge" gebeten habe, teilte die Beklagte der Klägerin durch Bescheid vom 11. August 1954 mit, daß ihr der Gegenwert der beanstandeten, rechtsunwirksam entrichteten Beiträge - 54,-- DM - antragsgemäß erstattet werde. Die Klägerin widersprach diesem Bescheid, indem sie bestritt, überhaupt einen Erstattungsantrag gestellt zu haben; sie werde die erstatteten Beiträge zurücksenden. Die Widerspruchsstelle der Beklagten wies den Widerspruch der Klägerin mit Bescheid vom 9. März 1955 mit der Begründung zurück, die bloße Ausstellung einer Quittungskarte erzeuge keine unmittelbaren Rechtswirkungen, die Klägerin hätte vor Vollendung des 40. Lebensjahres auch Beiträge entrichten müssen. Da der Gesetzgeber für den Eintritt in die Selbstversicherung eine bestimmte Altersgrenze festgesetzt habe, komme der Klägerin auch die Fiktion des § 1442 Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht zugute.
Mit der gegen den Widerspruchsbescheid der Beklagten erhobenen Klage beantragte die Klägerin, den Bescheid der Widerspruchsstelle aufzuheben und festzustellen, daß sie zur Selbstversicherung in der Invalidenversicherung berechtigt sei. Sie begründete diesen Antrag damit, es genüge nach der Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts (RVA.) zum Eintritt in die Selbstversicherung, wenn sie ihren dahingehenden Willen - wie durch den Antrag auf Ausstellung einer Quittungskarte geschehen - vor Vollendung des 40. Lebensjahres zum Ausdruck gebracht und den ersten Beitrag innerhalb der gesetzlichen Nachentrichtungsfrist entrichtet habe. Das Sozialgericht (SG.) wies die Klage ab; es schloß sich der Rechtsauffassung der Beklagten an.
Auf die Berufung der Klägerin stellte das Landessozialgericht (LSG.) unter Aufhebung des Widerspruchsbescheids der Beklagten und des Urteils des SG. fest, daß die in den Quittungskarten Nr. 1 und 2 enthaltenen Beiträge rechtswirksam seien; die Revision ließ es zu: Die Klägerin habe die freiwillige Selbstversicherung - nach § 1243 RVO (jeweils a.F.) - bis zum vollendeten 40. Lebensjahr, d.i. bis zum 30. Juli 1953, eingehen können. Die Rechtsprechung sei übereinstimmend der Ansicht, es bedürfe zum Eintritt in die Selbstversicherung einer Willenserklärung des Berechtigten, aus der hervorgehe, daß er sich selbst versichern wolle. In dem Antrag auf Ausstellung einer Quittungskarte zum Zwecke der Begründung eines Selbstversicherungsverhältnisses sei regelmäßig eine solche Erklärung zu erblicken. Die Entrichtung des ersten Beitrags könne nach der Entscheidung des RVA. in AN. 1905 S. 441 solange aufgeschoben bleiben, als Beiträge innerhalb der gesetzlichen Nachentrichtungsfristen (§§ 1442 RVO jeweils a.F., 190 AVG a.F.) für einen Zeitpunkt vor Vollendung des 40. Lebensjahres wirksam nachentrichtet werden könnten; die Beitragsentrichtung sei nach der Begründung des RVA. nur die Erfüllung einer Verpflichtung, die den Berechtigten auf Grund des bereits zustandegekommenen Versicherungsverhältnisses treffe. Zwar werde im Schrifttum die Ansicht vertreten, daß durch die Ausstellung einer Quittungskarte keine Selbstversicherung und auch kein Schuldverhältnis oder vertragsähnliches Rechtsverhältnis zustande komme; denn bei unterlassener Leistung der Beiträge habe der Versicherungsträger nicht das Recht des zwangsweisen Beitragseinzugs, die Ausstellung einer Quittungskarte sei demnach nur eine Verwaltungshandlung ohne unmittelbare Rechtswirkungen. Der Auffassung, vor Vollendung des 40. Lebensjahres müsse mindestens ein wirksamer Beitrag tatsächlich entrichtet werden, stehe aber § 1243 RVO entgegen, wonach die Altersgrenze nur für den "Eintritt", nicht aber für den weiteren "Verlauf" der Selbstversicherung maßgebend sei. Der Antrag auf Ausstellung der Quittungskarte lasse bereits erkennen, daß der Versicherung beigetreten werden solle. Die spätere Entrichtung der Beiträge betreffe den weiteren Verlauf der Versicherung, und insoweit lasse § 1442 RVO die Nachentrichtung mit Rückwirkung zu. Auch bei der Pflichtversicherung sei nicht die Beitragsleistung Grundlage des Versicherungsverhältnisses, sondern die Ausübung versicherungspflichtiger Tätigkeit.
Die Beklagte hat gegen das am 4. April 1956 zugestellte Urteil am 3. Mai 1956 Revision eingelegt. Sie beantragt,
das Urteil des LSG. Celle vom 29. Februar 1956 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Beklagte trägt vor: Die Ausstellung der Quittungskarte vor Vollendung des 40. Lebensjahres genüge nicht für die Begründung eines Versicherungsverhältnisses in der Rentenversicherung. Neben der Erklärung, in die Selbstversicherung eintreten zu wollen, müßten auch noch vor Vollendung des 40. Lebensjahres Beiträge entrichtet sein. Eine Beitragsnachentrichtung mit rückwirkender Kraft nach § 1442 RVO sei bei dem Beginn der Selbstversicherung dann unzulässig, wenn dadurch erreicht werden solle, daß ein erst nach der Vollendung des 40. Lebensjahres entrichteter Beitrag als vor der Vollendung des 40. Lebensjahres entrichtet angesehen werde. Die Fiktion des § 1442 RVO könne nicht gelten, soweit § 1243 RVO für den Eintritt in die Selbstversicherung eine bestimmte Altersgrenze festgesetzt habe.
Die Revision ist nicht begründet.
Das angefochtene Urteil hat festgestellt, daß die Klägerin die Beiträge, die in ihren Quittungskarten Nr. 1 und Nr. 2 enthalten sind, rechtswirksam entrichtet hat. Hierbei ist das Vordergericht davon ausgegangen, daß die Klägerin vor Vollendung des 40. Lebensjahres eine Quittungskarte zum Zwecke der Selbstversicherung (§ 1243 RVO) beantragt und erhalten, den ersten Beitrag jedoch erst nach diesem Zeitpunkt, aber noch innerhalb der Frist des § 1442 RVO- zwei Jahre nach Schluß des Kalenderjahres, für das der Beitrag gelten soll-, entrichtet hat. Damit hat die Klägerin alle Voraussetzungen erfüllt, die nach der Rechtsprechung des ehemaligen RVA. zu § 1243 RVO (Entscheidung Nr. 1211, AN. 1905 S. 441) an einen "Eintritt" in die Selbstversicherung im Rechtssinne zu stellen sind. Nach der genannten Entscheidung, der noch zuletzt im Jahre 1949 das Bayer. Landesversicherungsamt in einer grundsätzlichen Entscheidung beigetreten ist (Breithaupt 1950 S. 17), sowie nach der jedenfalls bis zum Jahre 1952 unangefochten geltenden Verwaltungspraxis "genügt es zur Begründung der Selbstversicherung..., wenn eine entsprechende Willenserklärung vor der Vollendung des vierzigsten Lebensjahres abgegeben und die Selbstversicherung... durch Verwendung mindestens einer Beitragsmarke vor der Vollendung des einundvierzigsten Lebensjahres (Nachentrichtungsfrist des § 146 Satz 2 des Invalidenversicherungsgesetzes vom 13. Juli 1899 [RGBl. S. 399]) durchgeführt wird" (Leitsatz). Das RVA. begründet seine Auffassung mit der "einschneidenden Bedeutung der Willenserklärung", die sich "aus der Natur der freiwilligen Versicherung als eines von der freien Entschließung des Berechtigten abhängigen Rechtsgeschäfts" ergebe. Das RVA. fordert aber gleichzeitig, daß die "zur Entstehung (der Selbstversicherung) notwendige Willenserklärung", die regelmäßig im Antrag auf Ausstellung einer Quittungskarte liege, "dadurch vollzogen werde" (AN. 1902 S. 549), daß innerhalb der Frist zur Entrichtung der Beiträge (damals ein Jahr gemäß § 146 Satz 2 des Invalidenversicherungsgesetzes) mindestens ein Beitrag "rückwärts für die Zeit vor Vollendung des vierzigsten Lebensjahres verwendet" wird. Der "Eintritt" in die Selbstversicherung nach § 1243 RVO ist also vom RVA. unter der Voraussetzung als wirksam angesehen worden, daß der vor Vollendung des 40. Lebensjahres abgegebenen Willenserklärung des Berechtigten eine "Vollziehung" oder "Betätigung" in Gestalt der Beitragsentrichtung folgte, die, sofern sie innerhalb der jeweils geltenden Nachentrichtungsfrist vorgenommen wurde, das Versicherungsverhältnis entstehen ließ, wenn sich die Nachentrichtung auf die Zeit vor dem 40. Lebensjahr bezog.
Wenn das RVA. an anderer Stelle (E. vom 28.6.1935, EuM. Bd. 38 S. 179) bei Prüfung der Voraussetzung der sogenannten Dreivierteldeckung die Ausstellung der Quittungskarte als eine "Verwaltungshandlung" bezeichnet, "an die unmittelbare Rechtswirkungen nicht geknüpft sind, die insbesondere nicht das Versicherungsverhältnis zwischen dem Inhaber der Karte und dem Versicherungsträger begründen kann" - zur Rechtslage auf dem Gebiete der Krankenversicherung vgl. § 310 Abs. 1 Satz 2 RVO -, so kann die Frage offen bleiben, ob den Ausführungen des RVA. darüber, welche rechtliche Bedeutung der Antrag auf Ausstellung einer Quittungskarte für die Begründung der Selbstversicherung hat, im einzelnen zuzustimmen ist. Sicherlich wird durch die Ausstellung der Quittungskarte kein Vertragsverhältnis begründet; der zum Eintritt in die Selbstversicherung Berechtigte ist trotz Besitzes der Quittungskarte auch nicht verpflichtet, überhaupt Beiträge zu entrichten. Unterläßt er die Beitragsentrichtung aber innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Fristen, so muß er die im Gesetz vorgesehenen nachteiligen Folgen tragen. Gegenüber den Einwendungen, die Malkewitz gegen die Rechtsprechung des RVA. erhoben hat (Sozialversicherung 1952, 55 ff.), ist zu betonen, daß das RVA. weder in der Entscheidung Nr. 1211 noch später eine Willenserklärung allein für den Eintritt in die Selbstversicherung als genügend angesehen hat; es hat vielmehr stets eindeutig auch die "Erfüllung", den "Vollzug", die "Durchführung", die "Betätigung" des Willens zum Eintritt in die Selbstversicherung durch Entrichtung (Verwendung) wenigstens eines Beitrags innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Beitragsentrichtungsfrist gefordert.
Die rechtliche Möglichkeit, den ersten Beitrag zur Selbstversicherung auch noch nach Vollendung des 40. Lebensjahres - innerhalb der Frist des § 1442 RVO - wirksam zu entrichten, ist nach Auffassung des Senats im Anschluß an die Rechtsprechung des RVA. zu bejahen - trotz der in neuerer Zeit dagegen erhobenen Bedenken (vgl. Malkewitz a.a.O. und ihm folgend Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Nachtrag, August 1954, S. 626 q sowie Koch/Hartmann/v.Altrock/Fürst, AVG, 2. Auflage, Stand Mai 1956, S. 264 f.; siehe ferner Dersch, Grundriß der Rentenversicherung, S. 109 f.). Diesen Bedenken kommt zwar, wie der Senat nicht verkennt, vor allem nach der Verlängerung der ursprünglich kürzer bemessenen Frist zur Nachentrichtung der Beiträge (vgl. § 1443 RVO in der Fassung vom Jahre 1924: Nachentrichtungsfrist für freiwillige Beiträge ein Jahr; § 1442 RVO in der Fassung des Gesetzes über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. Dezember 1937: Nachentrichtungsfrist allgemein zwei Jahre nach Schluß des Kalenderjahres, für das die Beiträge gelten sollen) besondere Bedeutung zu; sie beruhen auf der Erwägung, daß es widerspruchsvoll erscheine, den Eintritt in die Selbstversicherung einerseits von der Erreichung eines bestimmten Lebensalters an auszuschließen, andererseits aber die Vornahme eines für die Durchführung der Selbstversicherung wesentlichen Aktes, nämlich die Entrichtung des ersten Beitrages dafür, u.U. sogar noch mehrere Jahre nach Überschreitung dieser Altersgrenze zuzulassen. Der Gesetzgeber hat diesen Erwägungen aber während der Geltungsdauer der hier in Frage stehenden Vorschrift des § 1243 RVO keine Rechnung getragen. Hätte er die - seit dem Jahre 1905 bekannte - Beurteilung dieser Frage durch das RVA. nicht gebilligt, so hätte er - entweder bei Erlaß der RVO (1911) oder bei der späteren Verlängerung der Frist zur Nachentrichtung der Beiträge (1937) - ausdrücklich vorgeschrieben oder doch zum Ausdruck gebracht, daß der Eintritt in die Selbstversicherung von der tatsächlichen Entrichtung wenigstens eines Beitrags vor Vollendung des 40. Lebensjahres abhängig ist. Das ist nicht geschehen. Aus § 1442 RVO, der sowohl für Pflichtbeiträge als auch für freiwillige Beiträge galt, mußte vielmehr geschlossen werden, daß Beiträge grundsätzlich bis zum Ablauf von zwei Jahren nach Schluß des Kalenderjahres, für das sie gelten sollten, wirksam entrichtet werden konnten; eine Ausnahme hiervon galt nach § 1443 RVO nur insofern, als freiwillige Beiträge nach Eintritt des Versicherungsfalles der Invalidität oder des Todes nicht mehr entrichtet werden konnten. Eine Einschränkung in dem Sinne, daß für den ersten Beitrag zur Selbstversicherung die Vorschrift des § 1442 RVO nicht gelten sollte, kann dem Gesetz aber nicht entnommen werden. Gegen eine solche Einschränkung spricht auch die für die Pflichtversicherung und die Selbstversicherung geltende Vorschrift des § 1264 Abs. 2 Satz 2 RVO a.F., wonach die Versicherung mit der Woche beginnt, für die der erste Beitrag entrichtet wird. Erst das neue Rentenrecht macht - im Hinblick auf die Rechtsprechung des RVA. zu § 1243 RVO (vgl. insoweit Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, S. 283) - die Fortsetzung der Selbstversicherung nunmehr davon abhängig, daß der Berechtigte die Selbstversicherung "durch Entrichtung eines Beitrags vor dem 1. Januar 1956" begonnen hat (Art. 2 § 4 Abs. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter). Damit hat der Gesetzgeber die streitige Rechtsfrage für einen begrenzten Kreis von Fällen ausdrücklich in einem der Rechtsprechung des RVA. entgegengesetzten Sinne entschieden. Gegenüber dieser - vom 1. Januar 1957 an geltenden - Regelung muß es für die Vergangenheit bei der dargelegten Rechtsprechung des RVA. bewenden, wonach es - sofern nur der Antrag auf Ausstellung der Quittungskarte vor Vollendung des 40. Lebensjahres gestellt wurde - genügte, wenn der erste freiwillige Beitrag zur Selbstversicherung noch innerhalb der Frist des § 1442 RVO wirksam entrichtet worden ist. Es wäre mit dieser Vorschrift nicht vereinbar, außerdem zu verlangen, daß dieser Beitrag auch in der Zeit vor Vollendung des 40. Lebensjahres entrichtet sein mußte (im Ergebnis ebenso: Kommentar des Verbandes der Rentenversicherungsträger zum vierten und fünften Buche der RVO, 5. Auflage, Anm. 2 a, zu § 1243 RVO a.F.; Dersch, Komm. zum AVG [3.] § 22 Anm. 4 c; Hanow-Lehmann, Komm. Invalidenversicherung [1925] § 1243 Anm. 3 und § 1443 Anm. 7 c; Komm. von Mitgliedern des RVA. [1926] § 1243 Anm. 1; Jantz/Zweng a.a.O. und Bayer.LVAmt a.a.O.). Die Revision der Beklagten ist demnach als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen