Leitsatz (amtlich)

Zum Begriff des Gutachtens eines "bestimmten Arztes" nach SGG § 109.

Der bestimmte Arzt kann sich zur Vorbereitung und Erstattung seines Gutachtens der Mitwirkung technischer und medizinischer Hilfskräfte bedienen, doch muß das Gutachten seine eigene ärztliche Auffassung über die Beweisfrage wiedergeben.

Ob der bestimmte Arzt die Person, über die er sein Gutachten zu erstatten hat, selbst untersuchen muß, hängt von der Art der für das Gutachten notwendigen ärztlichen Feststellungen ab.

 

Normenkette

SGG § 109 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 22. März 1957 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der 1892 geborene Kläger, von Beruf Gastwirt, begehrt Anerkennung eines Herzleidens als Folge des Wehrdienstes. Nach seiner Einziehung im Dezember 1943 war er in Frankreich zunächst als Kasinoverwalter tätig. Im Anschluß an einen Bombenangriff im Mai 1944 in Reims erkrankte er nach seinen Angaben an Herzbeschwerden, die längere ärztliche Behandlung erforderten. Nach mehrwöchigem Fronteinsatz im Herbst 1944 mußte er erneut in ärztliche Behandlung genommen werden, vom 28. September bis 20. Dezember 1944 befand er sich deswegen im Reservelazarett Ettmannsdorf. Anschließend war der Kläger bei der Ersatztruppe und in englischer Gefangenschaft in Schleswig-Holstein bis Juli 1945.

Am 26. Januar 1948 stellte der Kläger Antrag auf Versorgungsrente nach dem Körperbeschädigten-Leistungsgesetz. In der Bescheinigung seines Hausarztes heißt es der Kläger leide seit der Entlassung aus der Gefangenschaft an Myokarditis und außerdem an einer schweren Allergie, die immer wieder zu schwersten Urtikaria-Anfällen mit schwerem Herzkollaps führten. Die vertrauensärztliche Untersuchung mit Röntgendurchleuchtung und Herzstromkurve durch einen Facharzt für innere Krankheiten ergab einen Bluthochdruck sowie Herzerweiterung mit Coronarinsuffizienz. Der Vertrauensarzt verneinte den Zusammenhang beider Leiden mit dem Wehrdienst. Die KB-Abteilung der Landesversicherungsanstalt, als damalige Versorgungsbehörde lehnte mit Bescheid vom 5. Dezember 1949 den Antrag auf Versorgungsrente ab.

Mit der Berufung zum Oberversicherungsamt (OVA.) legte der Kläger eine weitere Bescheinigung seines Hausarztes vor. Darin bestätigt dieser, daß der Kläger ohne Zweifel 1944 an einer Myokarditis erkrankt sei, mit dieser Myokarditis und einer Herzinsuffizienz sei er im Herbst 1945 in seine Behandlung gekommen. Die Schädigungen seien geblieben und durch den Vertrauensarzt bestätigt worden, sie seien "ohne Zweifel" Folgen des Wehrdienstes. Das OVA. holte ein Gutachten des Kreiskrankenhauses Eschwege über die Leiden des Klägers und deren Zusammenhang mit dem Wehrdienst ein. In diesem Gutachten wurden Hypertonie, Herzerweiterung, Gefäßsklerosierung und damit verbundene anginöse Beschwerden festgestellt, ein ursächlicher Zusammenhang mit dem Wehrdienst jedoch verneint.

Das Sozialgericht, auf das die Berufung als Klage übergegangen war, wies mit Urteil vom 27. April 1954 die Klage ab. Es führte aus, nach den übereinstimmenden fachärztlichen Gutachten bestehe bei dem Kläger zwar ein Herzleiden, dieses sei aber nicht durch den während des Wehrdienstes mitgemachten Bombenangriff hervorgerufen oder wesentlich beeinflußt worden. Ein einmaliges Schreckerlebnis sei dazu nicht geeignet.

In der Berufung gegen dieses Urteil machte der Kläger geltend, er sei 1943 als kv eingezogen worden und vorher gesund gewesen. Die Herzschädigung müsse daher 1943 bis Kriegsende, d.h. während der Wehrdienstzeit, entstanden sein und könne nicht als alters- bzw. anlagebedingt angesehen werden. Der Lehrgang im Erdeinsatz sowie der spätere Fronteinsatz im August und September 1944 und die nachfolgende Behandlung im Lazarett wegen des Herzzustandes bewiesen dies. Die bisherigen Gutachten seien ungenügend, es müsse von einem anerkannten Herzspezialisten ein Gutachten eingeholt werden. In der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG.) beantragte der Kläger hilfsweise Einholung eines Obergutachtens gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Dr. V... in Kassel, Rotkreuz-Krankenhaus, Diesem Antrag gab das LSG. statt und ersuchte Dr. V... um ein Gutachten über die Frage: Steht das Herzleiden des Klägers mit den angeschuldigten Ereignissen des Bombenangriffs oder sonstigen Kriegsstrapazen in ursächlichem Zusammenhang und wie hoch ist gegebenenfalls der Grad der dadurch ab 1. Januar 1948 bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) ?

Unter dem 25. November 1956 wurde ein ausführliches Gutachten erstattet. Es führt im Briefkopf oben links an "Dr. med. V. Facharzt für innere Krankheiten, Leitender Arzt der Medizinischen Abteilung des R.K. Krankenhauses" und ist unterzeichnet links von "Dr. V., Leitender Arzt der Medizinischen Abteilung" und rechts von "Dr. G... Assistenzarzt". Das Gutachten enthält die Wendungen "wir haben aufgenommen usw." und "wir geben auf Grund der Vorgeschichte und des erhobenen Untersuchungsbefundes folgendes Gutachten ab". Es schließt mit: "Zusammenfassend und abschließend stellen wir daher nochmals fest, daß nach unserer Meinung das Herzleiden des Begutachteten mit den angeschuldigten Ereignissen des Bombenangriffs 1944 und sonstigen Kriegsstrapazen nicht in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden kann". Als Diagnose wird in dem Gutachten angegeben: 1. Eigenständiger Bluthochdruck ohne Ausgleichsstörungen bei allgemein vermehrter Schlagaderverkalkung mit Beteiligung der Nieren-, Hirn- und Herzkranzgefäße, sowie mit Herzvergrößerung und Herzmuskelschädigung, 2. vegetativ-nervöse Übererregbarkeit sowie 3. Zustand nach operativer Entfernung der linken Niere. Die Erkrankungen werden als anlage- und konstitutionell bedingt bezeichnet. Bei der Begutachtung hatte der Kläger eine weitere Bescheinigung seines Hausarztes vom 14. November 1956 vorgelegt, in der die Herzbeschwerden auf den Bombenangriff 1944 zurückgeführt und "also ohne jeden Zweifel als Kriegsfolge" angesehen werden.

Gegen dieses Gutachten machte der Kläger vor dem LSG. mit Schriftsatz vom 7. Februar 1957 geltend, die Voraussetzungen des § 109 SGG seien nicht erfüllt. Der "bestimmte Arzt" nach § 109 SGG - Dr. V. - habe das Gutachten nicht erstattet, sondern Dr. G. Dr. V. habe das Gutachten zwar mit seiner Unterschrift gedeckt, habe es aber selbst weder in seinen Voraussetzungen noch in seinen Schlußfolgerungen erstellt. Dr. V. habe den Kläger nur einmal gesehen, als Dr. G. ihn Dr. V. vorgestellt, d.h. mit Namen und im Hinblick auf die Sache bekannt gemacht habe. Dr. V. habe den Kläger nicht einmal untersucht. Der Kläger regte an, Dr. V. und Dr. G. hierzu zu hören. Er beantragte, da ein Gutachten nach § 109 SGG nicht vorliege, nunmehr ein Gutachten gemäß § 109 SGG durch den Facharzt Dr. K... in Kassel einzuholen.

Mit Urteil vom 22. März 1957 wies das LSG. die Berufung zurück. Es führte aus, nach den übereinstimmenden Gutachten, auch nach dem des vom Kläger selbst vorgeschlagenen Chefarztes Dr. V. bestehe keine Wahrscheinlichkeit dafür, daß das Herzleiden des Klägers durch den einmaligen Bombenangriff - ohne traumatische Einwirkungen auf das Herz - oder durch seinen meist leichten Kriegsdienst - Feldwebel und Kasinoverwalter - wesentlich beeinflußt worden sei. Offensichtlich handele es sich um eine bei dem fortgeschrittenen Alter des Klägers nicht ungewöhnliche, durch Alter und Abnutzung bedingte Herzerkrankung, was auch dadurch bewiesen sei, daß eine allgemein vermehrte Schlagaderverkalkung mit entsprechender Rückwirkung auf die Herztätigkeit festgestellt worden sei. Daher könne auch der Bluthochdruck keine Schädigungsfolge sein. Der Kläger sei auch nach der Lazarettbehandlung wegen Herzleidens 1944 wieder als dienstfähig entlassen worden. Die mehrfachen kürzeren Atteste des Hausarztes könnten gegen die überzeugenden klinischen Fachgutachten nicht ins Gewicht fallen.

Im übrigen sei das Gutachten des Dr. V. ein Gutachten gemäß § 109 SGG. Zwar sei es von Dr. G. mitunterzeichnet sowie im wesentlichen wohl von diesem verfaßt worden. Es sei jedoch ständige Gerichtspraxis, daß sich Chefärzte von Kliniken bei der Erstattung von Gutachten neben technischen auch ärztlichen Hilfspersonals bedienen dürften. Anders wäre es unmöglich, daß solche Chefärzte den zahllosen, aus fast allen Zweigen der Gerichtsbarkeit, auch der Verwaltung, an sie ergehenden Gutachteraufträgen noch nachkommen und damit ihrer gesetzlichen Gutachterpflicht genügen könnten. Wie auch der Kläger selbst nicht bestreite, sei der Chefarzt als Gutachter, zumindest bei der technischen Befunderhebung, weitgehend auf Hilfspersonal angewiesen. Dafür aber, daß aus den erhobenen Befunden die zutreffenden medizinischen Folgerungen, sei es auch von Seiten eines Assistenzarztes, gezogen wurden, übernehme der leitende Arzt mit seiner Unterschrift in jedem Falle nicht nur die ärztliche, sondern auch die volle rechtliche Verantwortung. Das weitere Begehren des Klägers, zur gleichen Beweisfrage den Internisten Dr. K. nach § 109 SGG zu hören, sei als unzulässig abzulehnen. Nach § 109 SGG brauche in ein und derselben Instanz jedenfalls nur ein Facharzt des gleichen Fachgebietes als Gutachter gehört zu werden. Dem sei durch die Anhörung des Internisten Dr. V. bereits Genüge getan. Revision wurde nicht zugelassen.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung des § 109 SGG, weil der "bestimmte Arzt" des § 109 SGG nicht gehört worden sei. Dr. V. habe den Kläger nicht untersucht und auch das Gutachten nicht erstattet. Es genüge nicht, daß Dr. V. mitzeichne und daß das Gutachten seine "Firma" angebe. Der in § 109 SGG "bestimmte Arzt" solle ein Arzt des Vertrauens des Klägers sein. Diese Voraussetzung treffe aber auf Dr. G. nicht zu. Damit sei das fragliche Gutachten kein Gutachten gemäß § 109 SGG. Es gehe nicht um die Einholung eines weiteren Gutachtens gemäß § 109 SGG, sondern allein darum, das Gutachten gemäß § 109 SGG - jetzt von Dr. K. - einzuholen.

Selbstverständlich seien die technische Befunderhebung, also Röntgenaufnahmen, Messungen und dergleichen nicht vom Chefarzt zu verlangen. Die zulässige Hilfstätigkeit müsse aber dort ihre Begrenzung finden, wo es sich um die Erfüllung rein ärztlicher Aufgaben handele. Die Ausführungen des LSG. mögen zutreffen, wenn der Kläger in einer bestimmten Klinik untersucht und begutachtet werden wollte. Wenn er aber einen bestimmten Arzt benannt habe, müßten Befunderhebung und Untersuchung von diesem Arzt vorgenommen werden, denn die Beurteilungsgrundlagen eines medizinischen Gutachtens seien mindestens ebenso wichtig, wie die Beurteilung selbst.

Der Kläger hat beantragt,

1. das angefochtene Urteil aufzuheben,

2. die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen,

3. dem Beklagten die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Revision nach § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen oder nach § 170 Abs. 1 SGG als unbegründet zurückzuweisen.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und fristgerecht begründet worden. Sie ist auch formgerecht begründet. § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG schreibt zwar vor, daß, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, in der Revisionsbegründung die Tatsachen und Beweismittel anzugeben sind, die den Mangel ergeben. Die Tatsachen sind zwar angegeben, aber nicht ausdrücklich die Beweismittel. Der Prozeßstoff ist hier jedoch klar und mit der Rüge einer Verletzung des § 109 SGG genügend umrissen. Außerdem ist die Rüge, der Kläger sei nicht vom bestimmten Arzt untersucht worden, bereits im Verfahren vor dem LSG. vorgebracht und schon dort angeregt worden, Dr. V. und Dr. G. hierzu zu hören. Vom Zweck der Rügepflicht aus (vgl. BSG. 1, 227 [231]) ist damit dem Erfordernis des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG genügt. Es war nicht notwendig, etwa die gleichen Personen nochmals als Zeugen zu benennen (vgl. auch BSG. 2, 197 [200].

Da die Revision nicht zugelassen ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), ist sie nur statthaft, wenn die Rüge einer Verletzung des Gesetzes im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG durchgreift - eine solche Rüge ist nicht erhoben - oder wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird, der auch vorliegt (BSG. 1, 150).

Gerügt wird die Verletzung des § 109 SGG, einer zwingenden Bestimmung des Verfahrensrechts (BSG. 2, 255). In dieser Rüge liegt hier zugleich die Rüge einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG).

§ 109 SGG gibt den Versorgungsberechtigten das Recht, die gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes zu für die Entscheidung rechtserheblichen Fragen durch das Gericht zu verlangen. Grundsätzlich hat der bestimmte Arzt das Gutachten selbst zu erstatten. Das ergibt sich daraus, daß nur er der Arzt des Vertrauens des Antragstellers ist und daß dieses Vertrauen nicht beliebig auf einen anderen Arzt übertragen werden kann.

Die Entwicklung der ärztlichen Wissenschaft hat dazu geführt, daß die Rechtsprechung gewisse Ausnahmen von diesem Grundsatz zuläßt. § 109 SGG entspricht den früheren § 104 des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen sowie dem früheren § 1681 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Zu seiner Auslegung müssen daher die zu diesen Vorschriften ergangenen Entscheidungen mit herangezogen werden. Eine veröffentlichte Entscheidung des früheren Reichsversorgungsgerichts zu der hier strittigen Frage ist nicht bekannt. Dagegen hat das frühere Reichsversicherungsamt (RVA.) an seiner zunächst engen Ansicht (EuM. 6 S. 376) nicht festgehalten und zu § 1681 RVO (EuM 24 S. 47) entschieden, daß bei Benennung des Leiters einer Universitätsklinik die Untersuchung durch seinen Vertreter genügt, wenn der Leiter selbst um Erstattung des Gutachtens ersucht worden ist.

Dieser weitgehenden Auslegung des § 1681 RVO steht die strengere Auffassung des Reichsgerichts (RG.) zu § 411 der Zivilprozeßordnung (ZPO) in JW. 1916 S. 1587 gegenüber. Dort heißt es: Daß ein Sachverständiger bei der Vorbereitung oder Ausarbeitung seines Gutachtens Hilfskräfte zuziehe, sei an sich nicht zu beanstanden und werde bei der Beobachtung eines Kranken in einer Klinik schon deshalb häufig nötig werden, weil dessen andauernde Beobachtung durch den ernannten Sachverständigen überhaupt unmöglich wäre. Gefordert müsse freilich werden, daß sich der Sachverständige nicht ohne Nachprüfung auf die Hilfskräfte verlasse und deren Ansicht ohne weiteres mit seinen Namen decke. Für eine solche Annahme lägen hier keine Anhaltspunkte vor.

Im Zuge dieser Rechtsauffassung liegt der Beschluß des 8. Senats des Bundessozialgerichts (BSG.) vom 18. September 1957 (SozR. § 109 SGG Da 4 Nr. 7), wonach § 109 SGG nicht verletzt ist, wenn der "bestimmte Arzt" das von einem anderen Krankenhausarzt vorbereitete Gutachten "auf Grund persönlicher Untersuchung und eigener Urteilsbildung" mit seiner Unterschrift gebilligt hat.

In dem hier zu entscheidenden Fall ist der Briefkopf des "bestimmten Arztes" verwendet und das Gutachten von dem bestimmten Arzt mit = unterschrieben. Es wird jedoch vom Kläger behauptet, der "bestimmte Arzt" habe nicht nur das Gutachten nicht verfaßt, sondern ihn auch nicht untersucht.

In dieser Rüge liegen zwei Beanstandungen: Einmal wird bemängelt, aus der Mit-Unterschrift allein ohne Bekundung im Text des Gutachtens ergäbe sich nicht, daß es sich um das Gutachten des bestimmten Arztes des Vertrauens handele, d.h. daß Diagnose und ärztliche Stellungnahme zu den Beweisfragen seiner ärztlichen Überzeugung entsprächen. Weiter wird beanstandet, der bestimmte Arzt habe den Kläger nicht selbst untersucht.

Das erste Vorbringen gewinnt durch die zweite Beanstandung verstärkte Bedeutung. Das LSG. hätte dieser Rüge nachgehen und im Sinne der angeführten Entscheidungen prüfen müssen, ob das fragliche Gutachten in den entscheidenden Punkten die ärztliche Überzeugung des bestimmten Arztes wiedergibt. Die Ausführungen der Vorinstanz gehen von rein Äußerlichen aus und erledigen die Beanstandung nicht. Sie lassen nicht erkennen, inwieweit das LSG. geprüft hat, ob die uneingeschränkte Unterschrift des Dr. V. unter dem von dem Assistenzarzt Dr. G. verfaßten Gutachten hier ebensoviel besagt wie die mit einem Zusatz versehene Unterschrift z.B. "einverstanden", oder wie die Formulierung in dem vom 8. Senat entschiedenen Fall. Lediglich die Bezugnahme auf die sogenannte Gerichtspraxis genügt nicht, weil sich in diese nach der Erfahrung Fehler eingeschlichen haben können.

Zwar erbringen nach § 416 ZPO, der über § 202 SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren gilt, Privaturkunden - um eine solche handelt es sich hier -, sofern sie von dem Aussteller unterschrieben sind, Beweis dafür, daß die in ihnen enthaltenen Erklärungen von diesem abgegeben sind. Diese Beweisregel erfaßt jedoch nicht den Inhalt dieser Erklärung und die Umstände ihrer Abgabe. Die bloße Behauptung, die Urkunde sei, ohne gelesen worden zu sein, unterschrieben worden, ist zwar unbeachtlich (Wieczorek, ZPO, § 416 C II c 1 und die dort zitierte Entscheidung des RG.). Hier ist jedoch im Zusammenhang mit der zweiten Beanstandung mehr behauptet. Ebenso wie im Zivilprozeß der Gegenbeweis zulässig ist, muß im Amtsermittlungsverfahren bei genau und im einzelnen begründeter Beanstandung geprüft werden, ob die Unterschrift den Inhalt der Erklärung bzw. hier des Gutachtens im Sinne eigener Überzeugungsbildung voll deckt. Denn, wie auch das RG. in der oben zitierten Entscheidung es für möglich hält, ist es im Einzelfall sehr wohl denkbar, daß ein überbeschäftigter Arzt sich auf seine Hilfskräfte verläßt und ohne Nachprüfung deren Ansicht mit seinem Namen deckt. Wäre dies der Fall, so enthielte das Gutachten trotz Unterschrift nicht die ärztliche Überzeugung des bestimmten Arztes. Da hier genaue und präzisierte Gegenbehauptungen dieser Art aufgestellt sind, hätte sich das LSG. zu entsprechenden Ermittlungen gedrängt fühlen müssen. Da es diese unterließ, hat es seine Pflicht zur Sachaufklärung (§ 103 SGG) und damit mittelbar § 109 SGG verletzt.

Das gleiche gilt für die zweite Beanstandung, der bestimmte Arzt des Vertrauens habe den Kläger nicht untersucht. Zunächst hat das LSG. nicht ermittelt, ob diese Behauptung des Klägers überhaupt zutrifft, wozu um so mehr Veranlassung gegeben war, als der Kläger selbst eine entsprechende Anregung zur Vernehmung gegeben hat. Das LSG. hat ferner nicht geprüft, wie weit die Mitwirkungspflicht des bestimmten Arztes insbesondere bei der Untersuchung im Allgemeinen und in dem hier zu entscheidenden Falle geht. Aus rein praktischen Erwägungen hat es eine Untersuchungs-Verpflichtung des bestimmten Arztes überhaupt verneint, weil sonst die Chefärzte und leitenden Ärzte ihrer Gutachter-Verpflichtung nicht mehr nachkommen könnten. Das LSG. hat dabei, worauf die Revision zutreffend hinweist, nicht berücksichtigt, daß § 408 Abs. 1 Satz 2 ZPO dem Gutachter jederzeit die Möglichkeit gibt, auch im Falle des § 109 SGG um Entbindung von dem Gutachterauftrag zu ersuchen, und daß das Gericht befugt ist, auf Antrag von einer Beauftragung abzusehen oder von dem Auftrag zu entbinden.

Daß der Gutachter und der bestimmte Arzt sich bei der heute weitgehend technischen Vorbereitung der Diagnose technischer und ärztlicher Hilfskräfte bedienen und daß sogar das Gutachten selbst von ärztlichen Hilfskräften verfaßt werden darf, nimmt der Senat in Übereinstimmung mit dem erwähnten Urteil des RG. und dem Beschluß des 8. Senats des BSG. als gesichert an. Zu prüfen bleibt jedoch, inwieweit ein als Gutachter bestellter "bestimmter Arzt" bei der Diagnose und der Beurteilung mitzuwirken hat, damit das Gutachten "sein Gutachten" im Sinne des § 411 ZPO ist (vgl. Wieczorek, zu § 411 ZPO B I).

Das LSG. hat angenommen, daß allein aus den technischen und ärztlichen Befunden anderer der "bestimmte Arzt" stets seine ärztlichen Folgerungen ziehen kann, wobei er mit der - uneingeschränkten - Unterschrift die volle ärztliche und rechtliche Verantwortung für das Gutachten übernimmt. Dieser Auffassung kann nicht uneingeschränkt beigepflichtet werden.

Zweifellos wird diese Auffassung zutreffen, wenn es sich etwa um ein pathologisches Gutachten handelt, bei dem der Sektionsbefund vorliegt. Hier beruht die Begutachtung allein auf der wissenschaftlichen Beurteilung des Akteninhalts. Auch wenn das Gutachten mehr oder weniger auf technischen Befunden aufbaut und die ärztliche Untersuchung keine oder eine nur untergeordnete Rolle spielt, wird gegen die Auffassung des Berufungsgerichts nichts einzuwenden sein.

Dagegen wird sie nicht mehr richtig sein können, wenn es sich um Feststellungen oder Beobachtungen handelt, die gerade vom bestimmten Arzt persönlich verlangt bzw. nur von ihm persönlich getroffen werden können. Bei gewissen chirurgischen Feststellungen (Einengung der Beweglichkeit), bei Prüfung der Voraussetzungen der Hilflosigkeit (Pflegezulage), bei Feststellung einer Simulation (Täuschung) oder Aggravation (Übertreibung) sowie insbesondere bei neurologischen und psychiatrischen Beobachtungen und Gutachten wird die eigene "Anschauung" - im wörtlichen Sinn - in der Regel unentbehrlich sein.

Zwischen diesen beiden Grenzfällen - dem pathologischen und dem psychiatrischen Gutachten - wird die Anforderung an die Mitwirkung des bestimmten Arztes verschieden groß sein müssen. Es wird Fälle geben, in denen die technische Grundlage im weitesten Sinne für das Gutachten genügt, daneben aber auch solche, in denen die persönliche subjektive - im Gegensatz zur technischen - Befunderhebung und Untersuchung durch den bestimmten Arzt auch heute erforderlich ist, damit das Gutachten als sein Gutachten im Sinne des § 109 SGG gelten kann. Das ist im Einzelfall genau zu prüfen.

Der Kläger hat zwar nicht ausdrücklich behauptet und gerügt, daß ein solcher Fall der zweiten Art vorliege. Er hat sein Vorbringen über die Anforderungen an ein der Vorschrift des § 109 SGG genügendes Gutachten allgemein für alle Gutachten aufgestellt. Nach Ansicht des Senats hat er aber in der allgemeinen Behauptung das Besondere mitgerügt, nämlich daß hier ein Fall der zweiten Art gegeben sei um so mehr, als er bereits in der Berufungsinstanz angeregt hat, Dr. V. und Dr. G. zu ihren Behauptungen zu hören.

Die entscheidende Unterlassung des LSG. im Bereich der zweiten Beanstandung ist sonach darin zu sehen, daß das LSG. trotz ausdrücklichen Hinweises durch den Kläger nicht geprüft hat, ob im vorliegenden Fall mit Rücksicht auf die Art der Erkrankung und die notwendigen ärztlichen Feststellungen eine Untersuchung durch Dr. V. selbst erforderlich war oder ob dieser die Untersuchung in allen Punkten seinem ärztlichen Hilfspersonal, darunter Dr. G., überlassen konnte. Bedurfte es einer eigenen Untersuchung durch Dr. V., dann mußte das LSG. weiter aufklären, ob diese tatsächlich, wie der Kläger behauptet, unterblieben ist.

Erst wenn feststand, daß das Gutachten in seinen entscheidenden Folgerungen der ärztlichen Auffassung des Dr. V. entsprach, und wenn weiter sich ergab, daß eine eigene Untersuchung durch Dr. V. entweder erfolgt oder in diesem Fall entbehrlich war, konnte das LSG. feststellen, daß mit dem vorgelegten Gutachten des Dr. V. der Vorschrift des § 109 SGG genügt war. Ein weiteres Gutachten nach § 109 SGG brauchte es dann nur unter ganz besonderen Voraussetzungen - vgl. SozR., SGG § 109 Da 3 Nr. 6 - zuzulassen.

Durch diese ungenügende Aufklärung hat das LSG. seine Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) und gleichzeitig mittelbar § 109 SGG verletzt. Die Revision ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG zulässig. Sie ist auch begründet, weil die Möglichkeit besteht, daß das LSG. bei Beachtung der verletzten Verfahrensvorschriften anders entschieden hätte.

Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben.

Der Senat konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, weil noch Ermittlungen anzustellen sind, die dem Revisionsgericht verschlossen sind. Die Sache war daher gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG. zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Das LSG. wird Dr. V. zu befragen haben, ob die ärztlichen Schlußfolgerungen des Gutachtens seiner fachärztlichen Überzeugung voll entsprechen. Ferner wird das LSG. unter Beachtung der Rechtsansicht des Senats zu prüfen haben, um welche Art von Gutachten in dem dargelegten Sinn es sich handelt, und welcher Grad der Mitwirkung hier vom bestimmten Arzt verlangt werden muß. Danach wird gegebenenfalls Dr. V. zu befragen sein, ob er den Kläger untersucht und welche Feststellungen er etwa bei der "Vorstellung" getroffen hat. Erst nach dieser Prüfung wird das LSG. entscheiden können, ob das fragliche Gutachten als Gutachten des bestimmten Arztes gemäß § 109 SGG, § 411 ZPO anzusehen ist und welche Folgerungen daraus hinsichtlich des Antrags des Klägers auf Anhörung des Dr. K. zu ziehen sind.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Endurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2149328

BSGE, 72

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