Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallrente. Neufeststellung. Berufung
Orientierungssatz
Ist das Berufungsbegehren gerade darauf gestützt, daß bei der streitigen Neufeststellung nicht nur die auszuzahlende restliche Rente, sondern auch der nach § 616 Abs 3 S 4 RVO zu berücksichtigende Abfindungsbetrag von der infolge des VuVNG eingetretenen Änderung der Verhältnisse umfaßt wird, so ist die Berufung nach § 145 Nr 4 SGG ausgeschlossen.
Normenkette
VUVNG; RVO § 616 Abs. 3 S. 4; SGG § 145 Nr. 4
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 31.03.1960) |
SG Berlin (Entscheidung vom 10.10.1958) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 31. März 1960 wird mit Ausnahme der Kostenentscheidung aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Oktober 1958 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger erhielt von der Beklagten eine Unfallrente von 10 v. H. im Jahresbetrage von 56,- RM. Im Jahre 1926 fand die Beklagte gemäß § 616 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) den Kläger mit dem dreifachen Betrag der Jahresrente ab.
Im Jahre 1953 gewährte die Beklagte wegen einer wesentlichen Verschlimmerung der Unfallfolgen dem Kläger eine Rente von 40 v. H. Bei der Berechnung dieser Rente ging die Beklagte nicht von dem ursprünglichen Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 840,- RM, sondern von einem JAV in Höhe von 3.120,- DM aus. Die Jahresrente von 832,- DM kürzte sie um 56,- DM, so daß die Rente sich auf jährlich 776,- DM - monatlich aufgerundet 64,70 DM - belief.
Auf Grund des Gesetzes zur vorläufigen Neuregelung von Geldleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung vom 27. Juli 1957 ( NeuberechnungsG UV) stellte die Beklagte die Rente des Klägers in der Weise um, daß sie auf Grund des mit 1,5 vor vielfältigten JAV die Jahresrente mit 1.248,- DM errechnete und diesen Betrag um 312,- DM kürzte; hieraus ergab sich eine monatlich zahlbare Rente von 78,- DM. Gegen den Einspruch des Klägers bestätigte die Beklagte diese Rentenumstellung durch den Bescheid vom 12. Dezember 1957.
Mit der Klage begehrt der Kläger die Umstellung seiner Rente in der Weise, daß die neu berechnete Jahresrente nur um den Betrag von 56,- DM gekürzt wird, woraus sich eine monatliche Rente von 99,30 DM ergibt. Das Sozialgericht (SG) hat am 10. Oktober 1958 die Beklagte verurteilt, bei der Berechnung der dem Kläger zu zahlenden Rente lediglich den Betrag abzuziehen, der bei der Berechnung der Abfindung zugrunde gelegt worden war. In der Rechtsmittelbelehrung hat das SG ausgeführt, gegen sein Urteil sei die Berufung nach § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gegeben.
Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte durch Bescheid vom 10. März 1959 die Rente des Klägers wegen weiterer Verschlimmerung der Unfallfolgen auf 50 v. H. erhöht und diesen Bescheid gemäß § 96 Abs. 2 SGG abschriftlich dem Landessozialgericht (LSG) mitgeteilt. Das LSG hat durch Urteil vom 31. März 1960 (veröffentlicht in SozSich 1960, Rechtsprechungskartei Nr. 1156) die Berufung der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen und die Revision zugelassen.
Gegen das am 16. Mai 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 13. Juni 1960 Revision eingelegt und sie am 15. Juli 1960 begründet. Sie rügt unrichtige Anwendung des § 616 Abs. 3 Satz 4 RVO iVm den Vorschriften des NeuberechnungsG UV und beruft sich auf das Urteil des 5. Senats vom 28. April 1960 (BSG 12, 116). Sie beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des SG Berlin vom 10. Oktober 1958 als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist statthaft durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig. Sie hatte jedoch aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht den angestrebten Erfolg.
Bei einer zulässigen Revision ist zunächst von Amts wegen die Statthaftigkeit der Berufung zu prüfen, da es sich hierbei um eine Prozeßvoraussetzung handelt, von deren Erfüllung die Rechtswirksamkeit des gesamten weiteren Verfahrens einschließlich der Revisionsinstanz abhängt (vgl. BSG 2, 225; 4, 261). Diese Prüfung ergibt im vorliegenden Fall, daß das LSG die Berufung der Beklagten zu Unrecht für zulässig erachtet und sie als unbegründet zurückgewiesen hat.
In Angelegenheiten der Unfallversicherung ist - abgesehen von Ausnahmen, die bei einem lediglich den JAV betreffenden Streit nicht in Betracht kommen - die Berufung nach § 145 Nr. 4 SGG nicht zulässig, soweit sie die Neufeststellung von Dauerrenten wegen Änderung der Verhältnisse betrifft. Gegenstand der Berufung der Beklagten ist die Neufeststellung der dem Kläger zustehenden Dauerrente durch den angefochtenen Bescheid vom 12. Dezember 1957, dessen Wiederherstellung mit dem Berufungsantrag begehrt wird. Der Bescheid enthält eine Neufeststellung der Dauerrente auf Grund der Vorschriften des NeuberechnungsG UV. Das Inkrafttreten dieses Gesetzes, das den Anlaß zur Bescheiderteilung bot, stellt eine Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 145 Nr. 4 SGG dar; denn hierunter ist auch eine Änderung der gesetzlichen Vorschriften über die Berechnung der Rente zu verstehen (vgl. SozR SGG § 145 Bl. Da 1 Nr. 1 mit weiteren Nachweisen; Bl. Da 7 Nr. 9). Anders als in dem vom Senat am 29. Oktober 1959 entschiedenen Fall (BSG 10, 282 ff) läßt sich auch hier nicht eine Trennung zwischen Streitpunkten, die mit der Änderung der Verhältnisse verknüpft sind, und solchen durchführen, die lediglich aus Anlaß des Neufeststellungsbescheides dem Gericht unterbreitet wurden. Das Berufungsbegehren ist gerade darauf gestützt, daß bei der streitigen Neufeststellung nicht nur die auszuzahlende restliche Rente, sondern auch der nach § 616 Abs. 3 Satz 4 RVO zu berücksichtigende Abfindungsbetrag von der infolge der NeuberechnungsG UV eingetretenen Änderung der Verhältnisse umfaßt werde. Dem Ausschluß der Berufung in Fällen dieser Art kann auch nicht die Erwägung entgegengehalten werden, bei der Anwendung des NeuberechnungsG UV könnten sich Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung ergeben. In dieser Hinsicht eröffnet die Zulassung der Berufung nach § 150 Abs. 1 SGG die Möglichkeit, grundsätzliche Rechtsfragen vor die höhere Instanz zu bringen.
Das SG hat in dem hier zu entscheidenden Rechtsstreit die Berufung nicht zugelassen. Der Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung, die Berufung sei nach § 143 SGG gegeben, kann nicht als Zulassung dieses Rechtsmittels aufgefaßt werden (BSG 4, 261). Auch aus § 150 Nr. 2 oder 3 SGG ist die Statthaftigkeit der von der Beklagten eingelegten Berufung nicht herzuleiten.
Da das LSG trotz Unzulässigkeit der Berufung in der Sache selbst entschieden hat, muß das angefochtene Urteil aufgehoben und die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen werden. Dieser Entscheidung steht der Grundsatz nicht entgegen, daß im Rechtsmittelverfahren das angefochtene Urteil nicht zum Nachteil des Rechtsmittelklägers geändert werden darf (BSG 2, 225; 4, 261).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen