Leitsatz (amtlich)
Zu Ermittlung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor dem Tode des Versicherten ("Zeit seines Todes"), wenn die frühere Ehefrau einige Monate vor dem Tode des Versicherten eine von vornherein zeitlich befristete Beschäftigung übernommen hat, die erst nach dem Tode des Versicherten geendet hat, und wenn sie in den letzten Jahren vor dem Tode des Versicherten in mehrfachem Wechsel arbeitslos gewesen ist oder Notstandsarbeit verrichtet hat.
Orientierungssatz
Zur Frage der "Bezugnahme (Verweisung)" im Urteilstatbestand.
Normenkette
RVO § 1265 Fassung: 1965-06-09; AVG § 42 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 22. Juli 1966 aufgehoben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die im Jahre 1899 geborene Klägerin begehrt aus der Rentenversicherung ihres früheren Mannes eine Hinterbliebenenrente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ab Juli 1965. Ihre Ehe mit dem Versicherten wurde aus dessen Verschulden am 19. September 1945 - mit Rechtskraft zum 1. November 1945 - geschieden. Der Versicherte ist am 17. Januar 1958 verstorben.
Die Beklagte lehnte den im Juli 1965 - nach der Verkündung des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 - gestellten Antrag durch Bescheid vom 24. September 1965 ab. Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. April 1966 und des Landessozialgerichts - LSG - Berlin vom 22. Juli 1966). Das LSG hielt die alternativen Voraussetzungen des § 42 AVG für die Hinterbliebenenrente sämtlich nicht für erfüllt. Die Nichtanwendung des § 42 Satz 1 AVG erste Alternative und des § 42 Satz 2 AVG begründete es damit, daß die Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten wegen ausreichender eigener Mittel keinen Unterhaltsanspruch nach § 58 des Ehegesetzes (EheG) gegen den Versicherten gehabt habe. Die gesetzliche Zeitbestimmung: "zur Zeit seines Todes" in § 42 Satz 1 AVG beziehe sich auf den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten, der mit der letzten wesentlichen Einkommensänderung eines Beteiligten mit Dauerwirkung vor dem Tode des Versicherten beginne und in aller Regel mit dem Tode ende. Der letzte wirtschaftliche Dauerzustand habe hier am 1. Juni 1957 begonnen. An diesem Tage habe die Klägerin eine Beschäftigung als "Notstandsangestellte" übernommen, damit sei bei ihr gegenüber dem vorangegangenen Zustand der Arbeitslosigkeit und des Bezuges von Arbeitslosenhilfe eine wesentliche Einkommensänderung eingetreten. Die Notstandsbeschäftigung sei zwar von vornherein zeitlich begrenzt gewesen; das könne aber nicht berücksichtigt werden, weil sie erst nach dem Tode des Versicherten beendet worden sei; denn für die Entscheidung, ob eine Einkommensänderung mit Dauerwirkung vorliege, sei nur auf die Zeit bis zum Tod des Versicherten abzustellen. Der für die Klägerin nach § 58 EheG angemessene Unterhalt sei für die Zeit ab 1. Juni 1957 auf monatlich 110,- DM zu bemessen. Der Versicherte habe zur Zeit der Scheidung etwa 210,- RM monatlich netto verdient; der angemessene Unterhalt der Klägerin habe damals 70,- RM (1/3) betragen; dieser Betrag sei wegen der zwischenzeitlichen Entwicklung der Lebenshaltungskosten auf 110,- DM zu erhöhen. Bei der Notstandsarbeit ab 1. Juni 1957 habe die Klägerin monatlich 315,- DM netto verdient, außerdem habe sie im eigenen Hause gewohnt. Sie habe demnach zur Zeit des Todes des Versicherten den angemessenen Unterhalt selbst bestreiten können.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Klägerin,
den Bescheid der Beklagten und die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung der Hinterbliebenenrente vom 1. Juli 1965 an zu verurteilen.
Die Klägerin wendet sich dagegen, daß das LSG die Zeit der Notstandsbeschäftigung als wirtschaftlichen Dauerzustand gewertet hat; sie beanstandet ferner die Ermittlung des nach § 58 EheG angemessenen Unterhalts. Nach ihrer Auffassung liegen zumindest die Voraussetzungen des § 42 Satz 2 AVG für die Hinterbliebenenrente vor.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist zulässig. Sie führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.
Für die Entscheidung über die Revision kommt es im wesentlichen darauf an, ob das LSG die Voraussetzungen der ersten Alternative des § 42 Satz 1 AVG und die des § 42 Satz 2 AVG verneinen durfte; denn daß die übrigen Alternativen des § 42 Satz 1 AVG (Unterhaltspflicht des Versicherten aus sonstigen Gründen, Unterhaltsleistung im letzten Jahr vor dem Tode) nicht erfüllt sind, ist nicht zweifelhaft und wird auch von der Klägerin im Revisionsverfahren nicht bestritten.
Die erste Alternative des § 42 Satz 1 AVG setzt voraus, daß "der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte". Insoweit rügt die Klägerin mit Recht, daß das LSG den Begriff "zur Zeit seines Todes" nicht richtig ausgelegt hat. Diese Rüge hat auch für § 42 Satz 2 AVG ihre Berechtigung; ob nämlich im Sinne des letzten Halbsatzes dieser Vorschrift "eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten nicht bestanden hat" ist ebenfalls nach der "Zeit seines Todes" zu beurteilen.
Mit der "Zeit seines Todes" ist in § 42 AVG der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten gemeint. Das hat der Senat im Anschluß an frühere Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) bereits im Urteil vom 23. März 1964 (SozR Nr. 22 zu § 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) ausgesprochen. Das LSG hat die gleiche Auffassung vertreten; seine Festlegung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustands im vorliegenden Fall wird aber nicht den Grundgedanken gerecht, die für die Gleichsetzung der "Zeit des Todes" mit dem letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten bestimmend sind.
Diese Rechtsprechung geht von der Unterhaltsersatzfunktion der Hinterbliebenenrente aus; sie hält es hierbei jedoch für entscheidend, daß das Gesetz nicht darauf abhebt, wie sich die Verhältnisse beim Versicherten, falls er nicht gestorben wäre, vermutlich weiter entwickelt hätten und wie sie sich bei der geschiedenen Frau nach dem Tode des Versicherten tatsächlich weiter entwickelt haben; das Gesetz knüpft vielmehr an einen wirklichen Zustand vor dem Tode des Versicherten an, dessen vermutliche Fortdauer es aufgrund einer generalisierenden Betrachtungsweise unterstellt. Das hat aber nur dann Sinn, wenn der Zustand vor dem Tode des Versicherten kein bloß vorübergehender Zustand gewesen ist. Darum muß es sich um einen Dauerzustand handeln; denn nur dann wird der Unterhaltsersatzfunktion der Hinterbliebenenrente Rechnung getragen und zugleich verhindert, daß bei der Gewährung oder Versagung der Hinterbliebenenrente vorübergehende Besonderheiten in den unterhaltsrechtlichen Beziehungen den Ausschlag geben.
Soweit die Entscheidungen des BSG - auch das Urteil des 4. Senats vom 23. August 1963 (SozR Nr. 3 zu § 1266 RVO), auf das sich das LSG gestützt hat - den Tod des Versicherten als grundsätzliches Ende des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes bezeichnen, besagt das also nur, daß eine spätere vermutliche oder wirkliche Weiterentwicklung der Verhältnisse keine Rolle spielen darf. Es könnte deshalb, wenn die Klägerin z. B. am 1. Juni 1957 eine unbefristete Beschäftigung eingegangen wäre, nicht darauf ankommen, daß sie diese Beschäftigung nach dem Tode des Versicherten wieder hätte aufgeben müssen. Das LSG hat jedoch nicht hinreichend bedacht, daß die zeitliche Befristung der Beschäftigung der Klägerin hier schon vor dem Tode des Versicherten festgestanden hat; die Beschäftigung war schon zeitlich begrenzt, als die Klägerin sie begann. Das ist aber ein Umstand, der bei der Bewertung der Verhältnisse vor dem Tode des Versicherten - d. h. bei der Prüfung, ob eine Einkommensänderung mit Dauerwirkung vorliegt - nicht außer acht gelassen werden darf. Denn wollte man eine von vornherein befristete Beschäftigung und Einkommensänderung immer dann als Dauerzustand werten, wenn sie jedenfalls über den Tod des Versicherten hinaus gedauert haben, dann könnten letztlich doch Zufälligkeiten und vorübergehende Besonderheiten ausschlaggebend werden. Das soll aber mit dem Abstellen auf den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten gerade vermieden werden.
Das LSG hat deshalb die wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin vor dem Tode des Versicherten näher prüfen müssen, um den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand zutreffend zu ermitteln. Insoweit enthält das Urteil keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen. Nach seinem Tatbestand hat jedoch die Klägerin vorgebracht, sie habe von 1954 an abwechselnd vom Arbeitsamt Leistungen bezogen oder Tätigkeiten als Notstandsangestellte verrichtet. Das LSG hat ferner eine amtliche Auskunft (Senator für Wirtschaft, Abt. Notstandsprogramm) über die Beschäftigungs- und Verdienstverhältnisse der Klägerin in den Jahren 1954 bis 1958 eingeholt, in der es heißt, daß die Klägerin vom 1. März 1954 bis 31. August 1954, vom 1. Januar 1956 bis 30. Juni 1956 und vom 1. Juni 1957 bis 28. Februar 1958 im Notstandsprogramm beschäftigt worden sei. Wenn das zutrifft, könnte die Zeit der letzten Notstandsarbeit vor dem Tode des Versicherten nicht als Dauerzustand bei der Klägerin bezeichnet werden; vielmehr müßte dann der fortlaufende Wechsel zwischen der Arbeitslosigkeit (mit Bezug von Unterstützung) und der Notstandsarbeit bei der Klägerin als letzter Dauerzustand gelten, da weder die Zeit der Arbeitslosigkeit noch die der Notstandsarbeit eindeutig überwogen hat.
Aus diesen Erwägungen erweist sich die Revision als begründet. Der Senat kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, er kann die Entscheidung des LSG auch nicht aus anderen Gründen als richtig bestätigen. Der Senat könnte zwar davon ausgehen, daß der nach § 58 EheG für die Klägerin angemessene Unterhalt in der Zeit vor dem Tode des Versicherten (höchstens) 110,- DM im Monat betragen habe. Denn gegen die einschlägigen tatsächlichen Feststellungen des LSG hat die Klägerin keine durchgreifenden Verfahrensrügen (vgl. § 163 SGG) erhoben, der Rechtsstandpunkt des LSG deckt sich insoweit auch mit der Rechtsprechung des BSG (SozR Nr. 16 zu § 1265 RVO). Aus den tatsächlichen Feststellungen des LSG über die Verhältnisse des Versicherten vor dem Tode ließe sich im weiteren folgern, daß die letzte wesentliche Einkommensänderung im Juni 1956 eingetreten ist, weil der Versicherte von da an Übergangsbezüge nach dem Regelungsgesetz zu Art. 131 des Grundgesetzes erhalten hat. Das könnte es nahelegen, den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten mit dem Juni 1956 beginnen zu lassen, sofern die Angaben über den fortlaufenden Wechsel zwischen der Arbeitslosigkeit und der Notstandsbeschäftigung bei der Klägerin zutreffend wären. Wie jedoch schon ausgeführt, enthält das Urteil des LSG insoweit keine tatsächlichen Feststellungen, auf die sich der Senat stützen könnte. Der Senat kann die fehlenden tatsächlichen Feststellungen auch nicht dem Gesamtzusammenhang des Urteils des LSG entnehmen. Das LSG hat zwar seinen Urteilstatbestand mit einer Verweisung u. a. auf die vorbereitenden Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Akten beendet; diese Verweisung ist aber zu allgemein; sie gibt dem Revisionsgericht nicht die Befugnis, aus den Gerichtsakten eigene tatsächliche Feststellungen zu treffen.
Der Rechtsstreit muß deshalb unter Aufhebung des Berufungsurteils zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Sollte das LSG die Angaben über den Wechsel zwischen der Arbeitslosigkeit und der Notstandsarbeit bei der Klägerin vor dem Tode des Versicherten für zutreffend halten, dann wären die während des maßgebenden letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes (ab Juni 1956) zu berücksichtigenden Einkünfte der Klägerin (wegen der Arbeitslosenhilfe vgl. BSG 26, 293) auf einen monatlichen Durchschnitt zu bringen und mit dem Betrag zu vergleichen, der nach § 58 Abs. 1 EheG für die Klägerin in dieser Zeit als Unterhalt angemessen gewesen ist. Sollte das LSG dabei die Angaben der amtlichen Auskunft über die Verdienste aus der Notstandsarbeit übernehmen (vom 1. März 1954 bis 31. August 1954 brutto 1600,- DM, netto 1332,41 DM, vom 1. Januar 1956 bis 30. Juni 1956 brutto 2000,- DM, netto 1727,66 DM, vom 1. Juni 1957 bis 28. Februar 1958 brutto 3330,- DM, netto 2836,-DM), würde sich allerdings wohl wieder ergeben, daß die Klägerin während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor dem Tode des Versicherten den nach § 58 EheG angemessenen Unterhalt aus eigenen Mitteln hat bestreiten können.
Bei seiner neuen Entscheidung hat das LSG schließlich über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.
Fundstellen