Entscheidungsstichwort (Thema)

Befreiung von der Kranken- und Rentenversicherungspflicht aufgrund früherer Rechtsvorschriften

 

Leitsatz (amtlich)

Pauschale Freistellungen nach früherem Recht für Inhaber bestimmter Stellen bei öffentlich-rechtlichen Körperschaften begründen nicht die Versicherungsfreiheit von Bediensteten, die nach dem Inkrafttreten der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze vom 1957-02-23 eingestellt wurden (Anschluß an BSG 1964-02-18 11/1 RA 370/62 = BSGE 20, 202 und 1969-02-21 3 RK 37/66 = SozR Nr 3 zu Art 2 § 2 ArVNG hinsichtlich früherer pauschaler Freistellungen von der Kranken- und Angestelltenversicherungspflicht).

 

Leitsatz (redaktionell)

AnVNG Art 2 § 3, wonach die vor dem Inkrafttreten des AnVNG auf Antrag des Arbeitgebers erfolgten Freistellungen von der Angestelltenversicherung ihre Wirkung behalten, gilt nur für solche Angestellte, die bereits vor dem Inkrafttreten des AnVNG angestellt wurden und damit von der Versicherungspflicht freigestellt worden sind.

 

Normenkette

RVO § 174; AVG § 8; AnVNG Art. 2 § 3 Fassung: 1957-02-23; BGB § 242; ArVNG Art. 2 § 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revisionen der klagenden Landesgewerbeanstalt Bayern und der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. Dezember 1972 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Es ist umstritten, ob die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) von der klagenden Landesgewerbeanstalt Bayern (LGA), einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, Beiträge zur Krankenversicherung (KrV), Angestelltenversicherung (AnV) und Arbeitslosenversicherung (ArblV) für die beigeladenen Beamten und Rechtsnachfolger von Beamten (im folgenden als Bedienstete bezeichnet) verlangen kann. Diese Bediensteten sind nach dem ... 28. Februar 1957 Beamte geworden. Die AOK fordert Beiträge für Zeiträume von Januar 1966 bis Mai 1970. Sie meint, die LGA könne sich für eine Versicherungsfreiheit der Bediensteten nicht auf frühere Gleichstellungen und Gewährleistungen berufen; denn diese gälten nur für Beschäftigte, die vor Inkrafttreten des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) Beamte geworden seien.

Zur Versicherung der Beamten ergingen folgende Entschließungen:

1.)

Das Königlich Bayerische Landesversicherungsamt M bestimmte am 28. Januar 1914 auf Grund § 171 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF v. 19.7.1911 (aF), daß die im Dienst der LGA Beschäftigten von der KrV-Pflicht befreit sind, soweit ihnen gegen die LGA einer der im § 169 RVO aF bezeichneten Ansprüche gewährleistet ist.

2.)

Der Bundesrat erließ am 14. Dezember 1916 nach § 14 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) idF vom 20. Dezember 1911 (aF) einen Gleichstellungsbeschluß; danach galten §§ 9, 10 Nr. 1, §§ 11 bis 13 AVG aF mit Wirkung ab 1. Januar 1913 für die in Betrieben oder im Dienst der LGA Beschäftigten, wenn ihnen mindestens die in § 9 bezeichneten Anwartschaften gewährleistet waren, und für Personen, denen auf Grund früherer Beschäftigung bei der LGA Ruhegeld, Wartegeld oder ähnliche Bezüge im Mindestbetrage nach den Sätzen der vom Bundesrat festgesetzten Gehaltsklasse (§ 9) bewilligt waren und daneben eine Anwartschaft auf Hinterbliebenenbezüge gewährleistet war.

3.)

Das Staatsministerium des Königlichen Hauses und des Äußeren und des Inneren stellte mit Bescheiden vom 18. Januar und 12. Februar 1917 gem. § 9 Abs. 3 AVG aF mit Wirkung ab 1. Januar 1913 fest, daß den Inhabern bestimmter Stellen (Beamtenstellen) der LGA die in § 9 Abs. 1 AVG aF bezeichneten Anwartschaften gewährleistet waren.

4.)

Das Bayerische Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr stellte auf den Antrag der LGA vom 23. Dezember 1968 mit Schreiben vom 21. März 1969 vorsorglich gem. § 8 Abs. 1 iVm § 6 Abs. 2 AVG idF vom 23. Februar 1957 fest, daß sämtliche derzeitigen und künftigen Beamte der LGA von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit sind, da ihnen Anwartschaft auf lebenslängliche Versorgung und auf Hinterbliebenenversorgung nach beamtenrechtlichen Vorschriften gewährleistet und die Erfüllung der Gewährleistung gesichert ist.

5.)

Das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialfürsorge bestimmte am 4. August 1970 auf Antrag der LGA vom 15. Mai 1970 auf Grund § 174 Nr. 1 RVO, daß § 169 RVO für die im Dienst der LGA Beschäftigten gilt.

Die AOK forderte nach einer Betriebsprüfung bei der LGA mit Bescheiden vom 11. Dezember 1968 und 15. Januar 1969 Beiträge in Höhe von 193.461,70 DM. Diese Forderung umfaßt den Zeitraum vom 1. Januar 1966 bis 30. November 1968. Sie betrifft die Bediensteten zu 3) bis 45). Der Betrag enthält Beiträge für die KrV, die AnV und die ArblV. Der Widerspruch der LGA wurde mit Bescheid vom 17. April 1970 zurückgewiesen.

Mit dem während des Berufungsverfahrens ergangenen Bescheid vom 3. Dezember 1970 forderte die AOK noch Beiträge in Höhe von 26.408,60 DM für die Bediensteten zu 3) bis 45) und die nach dem 30. November 1968 eingetretenen Bediensteten zu 46) bis 55); es handelt sich um Beiträge zur AnV für Dezember 1968 sowie um Beiträge zur KrV und ArblV für die Zeit von Dezember 1968 bis Mai 1970.

Das Sozialgericht (SG) Nürnberg hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. September 1970). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Bescheide vom 11. Dezember 1968 und 15. Januar 1969 idF des Widerspruchsbescheides vom 17. April 1970 sowie den Bescheid vom 3. Dezember 1970 insoweit aufgehoben, als dadurch Beiträge zur KrV und ArblV gefordert werden. Im übrigen hat es die Berufung der LGA zurückgewiesen. Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 14. Dezember 1972).

Das LSG hat über den Bescheid vom 3. Dezember 1970 gemäß § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mitentschieden. Es hat die Nachforderung von Beiträgen zur AnV für rechtmäßig erklärt und sich dafür auf die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) in BSG 20, 202 (vom 18.2.1964 - 11/1 RA 370/62) und in SozR Nr. 3 zu Art. 2 § 2 ArVNG (vom 21.2.1969 - 3 RK 37/66) berufen. Nach dem Gleichstellungsbeschluß vom 14. Dezember 1916 und den Gewährleistungsbescheiden vom 18. Januar und 12. Februar 1917 seien nur diejenigen beamtenähnlichen Personen der LGA über das Inkrafttreten des AnVNG vom 23. Februar 1957 hinaus von der AnV frei gewesen, die bei ihr schon vor Inkrafttreten der Neuregelungsgesetze angestellt worden seien. Dafür hat sich das LSG auf den Wortlaut des Art. 2 § 3 AnVNG "eine Freistellung von der Versicherungspflicht erfolgt ist" bezogen. Es hat die Auffassung der LGA, Art. 2 § 3 AnVNG beziehe sich nur auf Tatbestände, bei denen durch § 8 AVG das Antragsrecht des Arbeitgebers begrenzt worden sei, nicht geteilt, denn Sinn und Zweck des Art. 2 § 3 AnVNG böten keinen Anhalt dafür, daß für den davon erfaßten Personenkreis unterschiedliches Recht gelte.

Die Beitragsforderung zur AnV sei nicht deshalb verwirkt, weil, wie die LGA meine, sie von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) mehr als 10 Jahre im Glauben der Beitragsfreiheit belassen worden sei. Über die Versicherungs- und Beitragspflicht in der AnV habe die AOK als Einzugsstelle, nicht die BfA, zu entscheiden (§ 121 Abs. 3 AVG). Bei der Verwirkung handele es sich nur um Fälle des Rechtsmißbrauchs, die auf illoyaler Verzögerung der Rechtsausübung beruhten; der bloße Zeitablauf führe keine Verwirkung herbei. Die AOK habe gegenüber der LGA kein Verhalten an den Tag gelegt, das die spätere Beitragsnachforderung für die LGA als unzumutbar erscheinen lasse.

Dagegen hat das LSG die Beitragsforderung zur KrV nicht als gesetzmäßig angesehen. Die Entscheidung vom 28. Januar 1914 sei auf Grund der auf § 110 RVO aF beruhenden Bekanntmachung des Königlichen Staatsministeriums des Innern vom 29. Dezember 1911 (GVBl S. 1368) über den Vollzug der RVO zugunsten der LGA nach § 171 RVO aF ergangen, die damals noch keine Körperschaft des öffentlichen Rechts gewesen sei. Als die LGA 1916 eine öffentlich-rechtliche Körperschaft geworden sei, sei diese Entschließung für alle davon berührten Personen nicht aufgehoben oder eingeschränkt worden, weil nur der Rechtscharakter, nicht aber die Identität der LGA geändert worden sei. Es habe deshalb nicht eines neuen Befreiungsbeschlusses nach § 170 RVO aF bedurft, der für Beschäftigte in öffentlich-rechtlichen Körperschaften gegolten habe. Die Entschließung habe uneingeschränkt weiter gewirkt trotz späteren Gesetzesänderungen, wie § 3 der VO über die KrV vom 3. Februar 1919 (RGBl S. 191) und die 1. VereinfachungsVO vom 17. März 1945 (RGBl I 41 - 1. VVO); denn die Entschließung des Bayerischen Landesversicherungsamtes sei ein rechtsgestaltender Verwaltungsakt, der für und gegen alle wirke und nur durch Gesetz oder auf gesetzlicher Grundlage aufgehoben werden könne (Hinweis auf GE 5187 vom 9.2.1938 in AN 1938, 165). Da ein solches Gesetz nicht erlassen worden sei, gelte diese Entschließung weiter.

Auf Grund der Versicherungsfreiheit in der KrV seien auch keine Beiträge zur ArblV zu entrichten (§ 56 Abs. 1 Nr. 1 AVG, § 169 Nr. 1 Buchst. a AFG).

Die LGA hat Revision, die AOK hat Anschlußrevision eingelegt.

Die LGA hat mit der Revision beantragt, das Urteil des LSG insoweit aufzuheben, als die Klage abgewiesen wurde, und die Bescheide vom 11. Dezember 1968 und 15. Januar 1969 idF des Widerspruchsbescheides vom 17. April 1970 sowie den Bescheid vom 3. Dezember 1970 auch insoweit aufzuheben, als dadurch Beiträge zur AnV gefordert werden.

Die AOK hat mit ihrer Anschlußrevision beantragt, das Urteil des LSG mit der Maßgabe aufzuheben, daß die Berufung der LGA in vollem Umfang zurückgewiesen wird, sowie die Revision der LGA zurückzuweisen.

Die LGA rügt eine Verletzung des Art. 2 § 3 AnVNG und verweist hilfsweise wieder auf eine Verwirkung der Beitragsforderung. Der Begriff der Freistellung im Sinne von Art. 2 § 3 AnVNG sei verkannt worden. Die früheren Freistellungen -. Verwaltungsakte - sollte auch den künftigen Inhabern bestimmter Stellen zugute kommen. Sie seien widerrufbar gewesen und seien es auch jetzt noch, wenn die ihnen zugrundeliegenden Verhältnisse nicht mehr zuträfen. Art. 2 § 3 AnVNG solle klarstellen, daß die alten Freistellungen trotz Wandels der Rechtsgrundlage weiter beständen. Die Entscheidungen des BSG (BSG 20, 202; SozR Nr. 3 zu Art. 2 § 2 ArVNG) ständen nicht entgegen; denn dort habe es sich um Dienststellen gehandelt, die nach neuem Recht (§ 8 AVG) nicht antragsberechtigt gewesen seien und daher nicht mehr hätten begünstigt werden sollen. Die BfA habe in einem Schreiben vom 25. Juli 1957 an das Ministerium des Innern von Rheinland-Pfalz geäußert, Art. 2 § 3 AnVNG solle das Schicksal der Gleichstellungsbeschlüsse nach § 17 AVG aF regeln, die für Arbeitgeber ergangen seien, welche nach neuem Recht von der Gleichstellung ausgeschlossen seien. Zur Verwirkung meint die LGA, die jahrelange Nichterhebung von Beiträgen sei für sie sehr bedeutsam gewesen: Sie habe keinen Anlaß gesehen, den jederzeit möglichen und erfolgreichen Antrag nach § 8 AVG zu stellen und sich damit auch für die neu anzustellenden Beamten von der Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen zur AnV zu befreien.

Die AOK rügt im wesentlichen, das LSG habe zu Unrecht die KrV- und Beitragspflicht verneint. Nach Umwandlung der LGA in eine öffentlich-rechtliche Körperschaft wäre ein neuer Antrag auf Befreiung von der KrV-Pflicht erforderlich gewesen; denn die auf § 171 RVO aF gestützte Entschließung vom 28.1.1914 - eine Rechtsverordnung (SozR Nr. 3 zu Art.2 § 3 ArVNG) - könne nur für diejenige Zeit eine Befreiung von der KrV-Pflicht begründen, in der der Arbeitgeber die Eigenschaft einer nicht öffentlichen Körperschaft habe. Deshalb hätte die LGA, als sie am 21. Juni 1916 eine Körperschaft des öffentlichen Rechts geworden sei, einen auf § 170 RVO aF gestützten Antrag auf Befreiung von der KrV-Pflicht stellen müssen. Da dies unterblieben sei, bestehe Versicherungspflicht nach § 165 RVO. Im übrigen sei die Entschließung vom 28. Januar 1914, selbst wenn sie über den 20. Juni 1916 hinaus Bedeutung habe, im Februar 1919 erloschen (§§ 3,4 der VO über die KrV vom 3.2.1919). Schließlich ergebe sich aus der Entscheidung in SozR Nr. 3 zu Art. 2 § 2 ArVNG, daß spätestens mit dem Außerkrafttreten der Ermächtigungsnormen der §§ 170, 171 AVG aF auch die darauf gestützten pauschalen Freistellungen von der KrV-Pflicht hinfällig geworden seien; jedenfalls wäre die Entschließung vom 28. Januar 1914 spätestens durch die 1. VVO außer Kraft gesetzt worden.

Die beigeladene BfA beantragt, die Revision der LGA zurückzuweisen. Neue Tatsachen, wie ihre - der BfA - Stellungnahme vom 25. Juli 1957, könnten in der Revisionsinstanz nicht vorgebracht werden.

Die beigeladene Bundesanstalt für Arbeit (BA) teilt die Auffassung der AOK.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der klagenden LGA und die unselbständige Anschlußrevision der beklagten AOK (§ 202 SGG; § 556 der Zivilprozeßordnung, BSG 8, 24, 28 f) sind zulässig. Die Revisionen sind insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist.

Die für die AnV und die für die KrV ergangenen früheren Entschließungen sind für die Bediensteten nicht wirksam geblieben.

In der AnV sind die auf der Grundlage des Gleichstellungsbeschlusses vom 14. Dezember 1916 ergangenen allgemeinen Gewährleistungsbescheide vom 18. Januar und 12. Februar 1917 nicht als Entscheidungen über die Befreiung von der Versicherungspflicht im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 3 und 5 AVG nF anzusehen. Dies ergeben die Übergangsvorschriften in Art. 2 § 3 AnVNG: Soweit auf Grund der dem § 17 AVG idF vom 28. Mai 1924 entsprechenden früheren Vorschrift (§ 14 AVG aF) auf Antrag des Arbeitgebers eine Freistellung von der Versicherungspflicht erfolgt ist, verbleibt es dabei auch nach Inkrafttreten des AnVNG, solange nicht die nach § 6 Abs. 2 AVG nF zuständigen Stellen die Freistellung widerrufen, weil ihre Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind (Art. 2 § 3 AnVNG). Nach der Auslegung des Art. 2 § 3 AnVNG in der Rechtsprechung des BSG (BSG 20, 202 und SozR Nr. 3 zu Art. 2 § 2 ArVNG) ist eine Freistellung von der Versicherungspflicht nur dann "erfolgt", wenn der Beschäftigte bereits vor Inkrafttreten des AnVNG angestellt und damit zugleich von der Versicherungspflicht freigestellt war; nur wenn ein konkretes Beschäftigungsverhältnis eines Angestellten vorliegt, kann eine allgemeine pauschale Freistellung die Befreiung von der Versicherungspflicht tatsächlich herbeiführen.

Der erkennende Senat legt die Übergangsvorschrift ebenfalls in diesem Sinne aus. Das gegen die Rechtsprechung des BSG gerichtete Vorbringen der Klägerin kann nicht zu einer anderen Beurteilung führen.

Der Begriff "erfolgte" Freistellung ist auf den einzelnen Beschäftigten, dessen Versicherungspflicht oder Befreiung von der Versicherungspflicht jeweils umstritten ist, bezogen. Die Klägerin hingegen versteht den Begriff nur aus der Sicht des Beschäftigungsgebers und sieht eine Freistellung schon dann als "erfolgt" an, wenn die zuständige oberste Verwaltungsbehörde die Gewährung der Anwartschaften usw. pauschal für bereits tätige und künftige Inhaber bestimmter Stellen ausgesprochen hat; sie sieht zu Unrecht den Sinn des Art. 2 § 3 AnVNG nur darin, den zuständigen Stellen den Widerruf früherer Freistellungen unter bestimmten Voraussetzungen zu ermöglichen.

Es entspricht dem Sinn und Zweck des neuen Rechts, daß die Voraussetzungen der Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 8 AVG nF möglichst einheitlich Geltung für Beschäftigungsverhältnisse erlangen. Dies bedingt eine einschränkende Auslegung der Übergangsvorschrift, um ein Nebeneinander von versicherungsrechtlich verschieden zu behandelnden Beschäftigten nach Möglichkeit zu verhindern. Bei der Auslegung der Übergangsvorschrift sind auch die allgemeinen Grundsätze über die Verfassungsmäßigkeit von rückwirkenden Gesetzen heranzuziehen. Insbesondere ist die Unterscheidung zwischen in der Vergangenheit bereits abgeschlossenen und gegenwärtigen, noch nicht abgeschlossenen Sachverhalten von Bedeutung (echte und unechte Rückwirkung). Dem entspricht auch die Auslegung des Begriffs der "erfolgten" Freistellung dahingehend, daß die früheren Freistellungsbescheide nur in solchen Fällen weiterhin die Grundlage der Befreiung von der Versicherungspflicht bilden, in denen die Beschäftigten bereits vor Inkrafttreten des neuen Rechts angestellt worden sind und damit zugleich von der Versicherungspflicht freigestellt waren; das heißt, nur in Fällen, in denen der rechtserhebliche Sachverhalt - der Eintritt der Befreiung von der Versicherungspflicht - in einem konkreten Beschäftigungsverhältnis bereits vor Inkrafttreten des AnVNG abgeschlossen war, verbleibt es bei der Befreiung von der Versicherungspflicht. Insofern spielt es bei Beginn von Beschäftigungsverhältnissen nach Inkrafttreten des AnVNG keine Rolle, ob der Arbeitgeber, der den früheren Freistellungsbescheid erhalten hat, zu dem nach § 8 AVG nF begünstigten, gegenüber dem früheren Recht kleineren Kreis von Arbeitgebern gehört oder nicht.

Die Auffassung der Klägerin, die Entscheidungen des BSG (BSG 20, 202; SozR Nr. 3 zu Art. 2 § 2 ArVNG) kämen hier nicht zum Zuge, weil dort die Arbeitgeber nicht zu dem nach § 8 Abs. 1 Satz 1 AVG begünstigten Kreis gehörten, trifft somit nicht zu. Die Bediensteten sind also nicht aufgrund des früheren Gleichstellungsbeschlusses und der früheren Gewährleistungsbescheide von der Versicherungspflicht in der AnV befreit.

Die für die KrV ergangene Entschließung vom 28. Januar 1914 stützte sich auf § 171 RVO aF. Diese Vorschrift betraf Beschäftigte von nichtöffentlichen Körperschaften u.ä.. Für Beschäftigte öffentlicher Körperschaften usw. galt § 170 Abs. 1 RVO aF. Sowohl § 170 als auch § 171 RVO aF setzten für eine Befreiung von der Versicherungspflicht voraus, daß einer der in § 169 RVO aF aufgeführten Ansprüche gewährleistet war. Danach waren versicherungsfrei die in den Betrieben oder im Dienst des Reiches, eines Bundesstaates, eines Gemeindeverbandes, einer Gemeinde oder eines Versicherungsträgers Beschäftigten, wenn ihnen gegen ihren Arbeitgeber ein Anspruch mindestens entweder auf Krankenhilfe in Höhe und Dauer der Regelleistungen der Krankenkassen (§ 179) oder für die gleiche Zeit auf Gehalt, Ruhegeld, Wartegeld oder ähnliche Bezüge im anderthalbfachen Betrag des Krankengeldes (§ 182) gewährleistet war.

Der Personenkreis der Beschäftigten, die nach § 171 RVO aF von der KrV-Pflicht befreit werden konnten, wurde durch die VO über Krankenversicherung vom 3. Februar 1919 (RGBl S. 191) - VO - geändert. Die Befreiungsmöglichkeiten nach §§ 170, 171 RVO aF, die schlechthin für "Beschäftigte" der genannten öffentlichen und nichtöffentlichen Körperschaften usw. galten, wurden durch § 1 dieser VO auf "Beamte" und auf lebenslänglich oder unwiderruflich oder mit Anrecht auf Ruhegehalt Beschäftigte der in § 169 Abs. 1 RVO aF bezeichneten Arbeitgeber beschränkt. Ebenso wurde § 170 Abs. 1 RVO aF auf Beamte und beamtenähnliche Beschäftigte der in Abs. 1 bezeichneten Arbeitgeber beschränkt; § 171 RVO aF galt nicht mehr für Beschäftigte "in Betrieben und im Dienst nichtöffentlicher Körperschaften", sondern nur noch für Lehrer usw. (§ 3 der VO). Infolge dieser Änderungen entsprach die im Befreiungsbeschluß vom 28. Januar 1914 bestimmte uneingeschränkte Befreiung der im Dienst der Klägerin "Beschäftigten" allein unter der Voraussetzung, daß ihnen die in § 169 RVO aF bezeichneten Ansprüche gewährleistet waren, nicht mehr in vollem Umfang dem nach der VO vom 3. Februar 1919 geltenden Recht.

Die nächste hier bedeutsame Änderung der Vorschriften über die Versicherungsfreiheit in der KrV brachte Art. 1 der 1. VVO: Die §§ 170, 171 RVO aF fielen weg. Die Befreiung von der Versicherungspflicht auf Antrag des Arbeitgebers wurde in § 174 RVO dahin geregelt, daß das Reichsversicherungsamt auf Antrag des Arbeitgebers bestimmen konnte, wie weit § 169 RVO für die in Betrieben oder im Dienst anderer öffentlicher Verbände oder öffentlicher Körperschaften ... Beschäftigten gilt. Die 1. VVO enthält keine Übergangsvorschrift für frühere pauschale Befreiungsbeschlüsse.

Die pauschalen Befreiungsbeschlüsse, die sich auch auf künftige Inhaber bestimmter Stellen erstrecken, werden den - nicht gesetzvertretenden - Rechtsverordnungen im Sinne der heute gebräuchlichen Begriffseinteilung zugeordnet, weil sie abstrakt auf Dauer einen unbestimmten, nur nach Gattungsmerkmalen bezeichneten Personenkreis erfassen (BSG v. 21.2.1969 - 3 RK 37/66, insoweit in SozR Nr. 3 zu Art. 2 § 3 ArVNG nicht abgedruckt; GE 5187 in AN 1938, 165; Peters, Handbuch der KrV, 17. Aufl., Anm. 2 zu § 174 RVO, S. 17/183 - 6 - des 34. Nachtrags; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 10. Aufl., S. 131 f, 195 ff). Seiner Art nach diente der Befreiungsbeschluß zur Durchführung eines Gesetzes, und zwar des § 171 RVO aF. Das BSG hat deshalb in der Entscheidung vom 21. Februar 1969 aaO ausgeführt, die pauschalen Freistellungen nach §§ 170, 171 RVO aF seien wie eine Durchführungsverordnung gesetzesabhängig und deshalb mit dem Außerkrafttreten der Ermächtigungsnorm des § 171 RVO aF hinfällig geworden (vgl. auch Wolff, Verwaltungsrecht I, 8. Auflage, 1971, Seite 139; Forsthoff, aaO, Seite 151).

Dieser Rechtsauffassung ist jedenfalls für die Zeit seit Inkrafttreten der 1. VVO in Bayern (BSG 15, 65 Leitsatz Nr. 3) zu folgen; denn durch § 174 RVO idF der 1. VVO sind sowohl die Zuständigkeit für allgemeine Befreiungen als auch die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Befreiungen gegenüber dem Recht zur Zeit des Erlasses des Befreiungsbeschlusses vom 28. Januar 1914 wesentlich geändert worden, wie oben dargelegt. Insbesondere ist nach § 169 RVO idF der 1. VVO die Gewährleistung von Anwartschaft auf Ruhegehalt und Hinterbliebenenversorgung erforderlich, während in § 169 RVO aF nur ein Anspruch auf Krankenhilfe oder auf Gehalt usw. in bestimmter Höhe und Dauer verlangt wurde.

Diese Auslegung des § 174 RVO idF der 1. VVO im Verhältnis zu früheren Befreiungsbeschlüssen stimmt im Ergebnis mit der Auslegung des Art. 2 § 3 AnVNG in BSG 20, 202 und SozR Nr. 3 zu Art. 2 § 2 ArVNG überein: Die früheren pauschalen Befreiungen erstrecken sich jedenfalls nicht auf Personen, die erst nach Inkrafttreten des jetzt geltenden Rechts über die Voraussetzungen der Befreiungen von der Versicherungspflicht angestellt wurden (vgl. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Seite 324, 324 i, k des 36. Nachtrags).

Die beigeladenen Bediensteten sind auch nicht kraft Gesetzes versicherungsfrei in der AnV und KrV, weil sie nicht Beamte einer der in § 6 Abs. 1 Nr. 2 iVm Nr. 3 AVG und § 169 Abs. 1 RVO aufgeführten Körperschaften (Gebietskörperschaften und Versicherungsträger) sind.

Die Versicherungs- bzw. Beitragspflicht in der ArblV folgt der Versicherungspflicht in der KrV bzw. AnV (§ 56 Abs. 1 und 2 AVAVG, § 168 Abs. 1 AFG).

Da somit die Beitragsforderungen der Beklagten an sich dem Recht der RVO, des AVG, des AVAVG und des AFG entsprechen, ist das Vorbringen der Klägerin zu deren Verwirkung bedeutsam. Der Senat kann nicht entscheiden, ob die Beitragsforderungen der AOK verwirkt sind, wie die LGA meint. Dazu reichen die tatsächlichen Feststellungen nicht aus; denn das LSG hat nicht im einzelnen festgestellt, welche Handlungen die AOK gegenüber der LGA und die LGA gegenüber der AOK im Hinblick auf die Beitragspflicht in den verschiedenen Versicherungszweigen vorgenommen haben. Wegen des bei Verwirkung bedeutsamen Zeitmoments sind zunächst Verjährung und Verwirkung voneinander abzugrenzen. Hinsichtlich der für eine Verwirkung notwendigen besonderen Umstände wird das LSG zu beachten haben, daß das Gesamtverhalten beider Beteiligter - der LGA und der AOK - in gleicher Weise von Bedeutung und daher in allen Einzelheiten festzustellen und gegeneinander abzuwägen ist (vgl. Palandt, BGB, 33. Aufl., Anm. 9 zu § 242 BGB mit Hinweisen auf die Rechtsprechung; aus der Rechtsprechung des BSG vgl. zuletzt BSG 34, 211; 35, 91, 94, 95 mit Hinweisen auf weitere Entscheidungen).

Besonderen Anlaß zu solchen Feststellungen bietet das Schreiben der Klägerin an die Beklagte vom 16. Dezember 1968. Schwerpunkte für die Prüfung könnten sich nach der oben angeführten Rechtsprechung im Hinblick auf die Pflichten, die das Gesetz den Arbeitgebern und den Einzugsstellen im Zusammenhang mit der Versicherungs- und Beitragspflicht der Beschäftigten auferlegt, sowie in der Richtung, ob ein Beteiligter durch sein Verhalten den anderen zu einem bestimmten Verhalten veranlaßt hat, ergeben.

Aus diesen Gründen war der Rechtsstreit zur neuen Entscheidung über die Beitragsforderungen der AOK zu den einzelnen Versicherungszweigen an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647550

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