Entscheidungsstichwort (Thema)
Magenleiden und Erwerbsunfähigkeit. Einfluß des krankheitsbedingten Zwangs regelmäßiger Nahrungsaufnahme auf das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit. Erwerbsunfähigkeit
Leitsatz (redaktionell)
1. Benötigt ein Versicherter wegen eines Magenleidens alle zwei Stunden eine Pause von mindestens 10 Minuten zur Nahrungsaufnahme, so kann nicht generell davon ausgegangen werden, daß er zur Aufnahme einer vollschichtigen Tätigkeit in der Lage ist.
2. Ein Gericht überschreitet die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung, wenn es ohne Erhebung weiterer Beweise annimmt, auf die Arbeitszeit und damit auf den Zugang zu einer vollschichtigen Tätigkeit habe es nur geringen Einfluß, daß die in der Arbeitszeitordnung (AZO) vorgesehenen gesamten Pausenzeiten um allenfalls 15 Minuten überschritten werden.
Orientierungssatz
Verfahrensmangel, normale Arbeitszeit, zusätzliche Ruhepause.
Normenkette
RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; ArbZO § 12 Abs. 2; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 03.05.1973; Aktenzeichen L 8 J 208/72) |
SG Berlin (Entscheidung vom 27.09.1972; Aktenzeichen S 27 J 1818/70) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts vom 3. Mai 1973 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 Reichsversicherungsordnung (RVO) hat.
Der am 26. November 1912 geborene Kläger, der als Tischler tätig gewesen war, beantragte am 6. Januar 1970 die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte gewährte ihm mit Bescheid vom 21. Mai 1970 die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 RVO für die Zeit vom 1. Januar 1970 an. Den weitergehenden Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte sie ab, weil der Kläger unter Berücksichtigung des vorliegenden medizinischen Gutachtens noch nicht erwerbsunfähig sei.
Das Sozialgericht (SG) holte ein fachinternistisches Gutachten des Dr S vom 1. Februar 1971 mit Ergänzung vom 7. April 1971, ein fachorthopädisches Gutachten des Dr G vom 1. Dezember 1971, eine Stellungnahme des Landesarbeitsamtes Berlin vom 16. März 1972 sowie Auskünfte verschiedener Bewachungsunternehmen ein. Das SG hat die Beklagte am 27. September 1972 unter Abänderung des Bescheides vom 21. Mai 1970 verurteilt, dem Kläger vom 1. Februar 1970 an eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit an Stelle der gewährten Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 3. Mai 1973 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat angenommen, der Kläger sei nicht erwerbsunfähig. Nach den zutreffenden und überzeugenden Gutachten der Sachverständigen Dr S und Dr G könne der Kläger noch täglich regelmäßig leichte Arbeiten im Freien oder in geschlossenen Räumen im Sitzen mit gelegentlichem Stehen und Gehen unter Vermeidung von Heben und Tragen schwerer Lasten und unter Vermeidung von Arbeiten auf Leitern und Gerüsten bei üblichen Anmarschwegen zur Arbeit noch für mindestens 42 Stunden in der Woche verrichten. Einflüsse von Feuchtigkeit und Zugluft sowie einseitige körperliche Belastungen seien zu vermeiden. Wenn der Kläger auch nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr S wegen seines Magenleidens etwa alle zwei Stunden kleinere Mahlzeiten zu sich nehmen müsse, so hindere das ihn nicht, unter den genannten Einschränkungen Tätigkeiten in der üblichen Arbeitszeit zu verrichten. Nach § 12 Abs 2 der Arbeitszeitordnung (AZO) vom 30. April 1938 (RGBl I, 447) seien männlichen Arbeitnehmern bei einer Arbeitszeit von 6 Stunden mindestens eine halbstündige oder zwei viertelstündige Ruhepausen zu gewähren. Daraus ergebe sich, daß nach zwei Stunden Arbeitszeit die erste gesetzlich geregelte Arbeitspause von 15 Minuten zu gewähren sei, der nach Ablauf von zwei weiteren Arbeitsstunden - also nunmehr nach vier Arbeitsstunden - die zweite 15-minütige gesetzlich vorgeschriebene Arbeitspause folge. Nach weiteren zwei Arbeitsstunden - also nunmehr nach einer Arbeitszeit von sechs Stunden - sei eine außerordentliche Arbeitspause von 10 Minuten einzulegen. Diese in der AZO nicht vorgesehene Pause, die bei Hinzurechnung eines Weges zur und von der Kantine allenfalls 15 Minuten betrage, sei eine derart geringfügige Einbuße an Arbeitszeit, daß noch vom Vorliegen einer normalen Arbeitszeit ausgegangen werden könne. Im übrigen stehe es dem Kläger frei, bei Anerkennung als Schwerbeschädigter und Beschäftigung als solcher ohne weiteres diese unbedeutende zusätzliche Pause von 10 bis 15 Minuten genehmigt zu erhalten. Dem Leistungsvermögen des Klägers entsprechende Arbeitsplätze seien im Hinblick darauf, daß er praktisch noch vollschichtig tätig sein könne, auch in ausreichendem Umfang vorhanden. Die von den Sachverständigen gemachten Einschränkungen fielen nicht so ins Gewicht, daß sie als stark im Sinne des Beschlusses des Großen Senats (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167ff) angesehen werden könnten. Bei dieser Sach- und Rechtslage komme es auf die vom SG eingeholten berufskundlichen Auskünfte und auf die Vermittlungsfähigkeit seitens des Arbeitsamtes nicht an. Es sei nicht einzusehen, warum der Kläger nicht in einer Telefonzentrale, in einer Pförtnerloge, als Parkwächter oder ähnliches eine entsprechende Beschäftigung ausüben könne.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG nicht zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, das angefochtene Urteil beruhe auf verschiedenen Mängeln des Berufungsverfahrens. Das LSG habe die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten, wenn es annehme, die gesetzlichen Ruhepausen für alle Mitarbeiter des Betriebes seien geeignet, eine ruhige und von Mitarbeitern ungestörte Pause zur Nahrungseinnahme des Klägers zu gewähren. Entweder hätte das LSG den Sachverständigen Dr S ausdrücklich befragen müssen, ob die allgemeinen Pausen auch für den Kläger als Essenspausen ausreichen oder aber Auskünfte darüber einholen müssen, ob die Arbeitgeber durchschnittlich dazu bereit seien, die verlangte zusätzliche Ruhepause zu gewähren. Das LSG habe sein eigenes Wissen an die Stelle der sachkundigen Auskunft des Landesarbeitsamtes Berlin gesetzt, indem es die Behauptung aufgestellt habe, daß stärkere Geräuschbelästigungen im Durchschnitt in den Betrieben nicht vorhanden seien. Es habe nicht begründet, woher es diese eigene Kenntnis bezogen habe. Es hätte zur Frage der Geräuschbelästigung sachkundige Auskünfte einholen müssen. Das LSG hätte sich gedrängt fühlen müssen, wegen der Kopfschädigung des Klägers nach Schädelbruch und Gehirnerschütterung einen Neurologen zuzuziehen oder jedenfalls eine erschöpfende Beurteilung ergänzend von Dr S anzufordern. Da die medizinischen Einschränkungen erheblich von den allgemeinen Arbeitsbedingungen abwichen, müsse die Arbeitsplatzfrage durch Beiziehung fachkundiger Auskünfte geprüft werden.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin aufzuheben und das erstinstanzliche Urteil des Sozialgerichts Berlin aufrechtzuerhalten;
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen;
hilfsweise,
als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, die vom LSG nicht zugelassene Revision sei unstatthaft, denn das Berufungsverfahren leide nicht an den vom Kläger gerügten Mängeln. Im übrigen sei das angefochtene Urteil auch im Ergebnis und in der Begründung richtig, so daß die Revision jedenfalls unbegründet sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers hat mit dem Hilfsantrag auf Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG Erfolg.
Die vom LSG nicht zugelassene Revision des Klägers ist nach dem weiterhin anwendbaren § 162 Abs 1 Nr 2 SGG aF statthaft, denn das Berufungsverfahren leidet an einem vom Kläger gerügten wesentlichen Mangel.
Da das LSG dem Sachverständigen S darin gefolgt ist, daß der Kläger wegen seines Magenleidens etwa alle zwei Stunden eine Pause von mindestens 10 Minuten zur Nahrungsaufnahme benötigt, durfte es nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß der Kläger in der Lage sei, unter den sonstigen Einschränkungen vollschichtig tätig zu sein. Es trifft zwar zu, daß nach § 12 Abs 2 AZO den männlichen Arbeitnehmern bei einer Arbeitszeit von 6 Stunden mindestens eine halbstündige oder zwei viertelstündige Ruhepausen zu gewähren sind. Damit ist aber noch nicht gewährleistet, daß dem Kläger alle zwei Stunden eine mindestens 10minütige Pause zur Nahrungsaufnahme zusteht. Abgesehen davon, daß es sich nach den Gegebenheiten des einzelnen Arbeitsplatzes richtet, ob der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer eine halbstündige oder zwei viertelstündige Ruhepausen gewährt, steht auch bei zwei viertelstündigen Ruhepausen nicht fest, in welchem zeitlichen Abstand sie gewährt werden. Selbst wenn man aber davon ausgeht, daß dem Kläger nach jeweils zwei und vier Stunden Arbeitszeit jeweils eine viertelstündige Ruhepause zusteht, so benötigt er doch - was das LSG nicht verkannt hat - nach sechs Stunden Arbeitszeit eine weitere zusätzliche Pause von mindestens 10 Minuten, auf die er nach § 12 Abs 2 AZO keinen Anspruch hat. Es mag dahingestellt bleiben, ob die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers im Einzelfall dazu führen kann, daß er einem Beschäftigten eine zusätzliche Pause gewähren muß. Ein solcher Anspruch könnte aus der Fürsorgepflicht nur dann hergeleitet werden, wenn bereits ein Beschäftigungsverhältnis und damit eine Fürsorgepflicht besteht. Besteht ein solches Beschäftigungsverhältnis noch nicht, sondern bewirbt sich der Arbeitnehmer um einen Arbeitsplatz, so kann der Arbeitgeber die Einräumung einer in der AZO nicht vorgesehenen zusätzlichen Ruhepause und damit die Einstellung des Bewerbers ablehnen, weil der Bewerber den Bedingungen des Arbeitsplatzes nicht entspricht.
Das LSG durfte nicht ohne weitere Prüfung und Beweiserhebung davon ausgehen, daß die erforderliche zusätzliche Pause unerheblich sei, so daß sie die Fähigkeit des Klägers zur Verrichtung einer vollschichtigen Tätigkeit nicht beeinträchtige. Diese Feststellung durfte das LSG umso weniger treffen, als das Landesarbeitsamt Berlin in seiner Stellungnahme vom 16. März 1972 angenommen hatte, daß die Arbeitgeber im allgemeinen nur die nach § 12 Abs 2 AZO festgesetzten Pausen gewähren. Die erforderliche zusätzliche Pause von mindestens 10 Minuten könnte deshalb nur dann ohne Bedeutung sein, wenn das LSG auf Grund anderer Beweismittel oder aus eigenem Wissen die Feststellung hätte treffen können, daß bei Arbeitsplätzen der in Frage kommenden Art die Gewährung einer zusätzlichen Ruhepause in vielen Betrieben, in denen es die in Betracht kommenden Tätigkeiten gibt, üblich ist. Der Hinweis des LSG, es stehe dem Kläger frei, bei Anerkennung als Schwerbeschädigter und Beschäftigung als solcher in einem Betrieb ohne weiteres die unbedeutende zusätzliche Pause von 10 bis 15 Minuten genehmigt zu erhalten, geht schon deshalb fehl, weil die Feststellungen des LSG keinen Hinweis darauf enthalten, daß der Kläger als Schwerbeschädigter oder Schwerbehinderter anerkannt ist oder anerkannt werden müßte. Im übrigen enthält aber auch das Schwerbehindertengesetz keine Vorschrift, die die Arbeitszeit für Schwerbehinderte anders als für sonstige Arbeitnehmer regelt.
Da die Revision schon wegen dieses Verfahrensmangels statthaft ist, kann dahingestellt bleiben, ob auch die übrigen vom Kläger gerügten Verfahrensmängel vorliegen. Das angefochtene Urteil beruht auch auf dem gerügten Verfahrensmangel, denn es ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn ihm der Verfahrensmangel nicht unterlaufen wäre.
Da die übrigen Feststellungen des angefochtenen Urteils zur abschließenden Entscheidung nicht ausreichen und der Senat die fehlenden Tatsachenfeststellungen nicht nachholen kann, hat er das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen