Leitsatz (amtlich)

Sind über eine für die Entscheidung des Rechtsstreits wesentliche Tatsache sonstige Beweismittel nicht vorhanden, so darf das Gericht von der Vernehmung eines Zeugen "vom Hörensagen" nicht lediglich deshalb absehen, weil nach allgemeiner Erfahrung die Bekundungen eines solchen Zeugen nur von geringem Wert sind; mit dieser Erwägung würde das Gericht sowohl seine Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts (SGG § 103) verletzen, als auch die Grenzen seines Rechts, über das Gesamtergebnis des Verfahrens nach freier Überzeugung zu entscheiden (SGG § 128 Abs 1 S 1), überschreiten.

 

Normenkette

SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 162 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. Februar 1954 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Gebühr für die Berufstätigkeit des Rechtsanwalts Herbert K vor dem Bundessozialgericht wird auf 90.- DM festgesetzt.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger hat am 30. Dezember 1932 einen Motorradunfall erlitten, infolge dessen ihm ein Unterschenkel abgenommen werden mußte. Die Beklagte erfuhr hiervon erst durch ein Schreiben, das sein Schulfreund ... am 5. November 1949 an sie richtete und worin dieser folgendes ausführte: Im vorigen Jahr, bei einem Wiedersehen nach langer Zeit, habe ihm der Kläger erzählt, er sei 1932 arbeitslos gewesen; der Inhaber der neben seiner Wohnung gelegenen Autoreparaturwerkstatt ... habe ihn beauftragt, Ersatzteile für ein in der Werkstatt in Stand zu setzendes Motorrad aus Fulda zu holen. Auf dieser Fahrt sei der Kläger verunglückt. Die damals befragten Dienststellen hätten einen Betriebsunfall verneint, weil der Kläger den Unfall selbst verschuldet und als Arbeitsloser nur kurz ausgeholfen habe.-... habe am 28. Januar 1949 Unfallanzeige bei der Ortspolizeibehörde erstattet. Diese habe jedoch die Anzeige nicht weitergeleitet, weil der Unternehmer ... seine Unterschrift verweigere. Die Beklagte möge prüfen, ob dem Kläger trotz Versäumung der Frist zur Anspruchsanmeldung (§ 1546 RVO) aus sozialen Gründen unter Anwendung des § 1547 Abs. 1 Nr. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) zu seinen Ansprüchen verholfen werden könne.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 8. Februar 1951 ihre Entschädigungspflicht ab, weil der Kläger nicht für den Betrieb ... sondern für dessen Kunden tätig geworden sei und weil im übrigen der Anspruch verspätet geltend gemacht worden sei.

In seiner Berufung behauptete der Kläger, er habe den Unfall im Dienst der Firma ..., nicht des Kunden, erlitten. Seine inzwischen verstorbene Mutter und seine Schwester seien, während er noch im Krankenhaus lag, bei der Ortspolizeibehörde und beim Bezirksamt Brückenau vorstellig geworden. Dort habe man ihnen aber mitgeteilt, ein Antrag sei zwecklos. Diese falsche Auskunft, deretwegen er dann nichts mehr unternommen habe, rechtfertige die Anwendung des § 1547 RVO. Der Kläger überreichte dem Oberversicherungsamt (OVA.) eine eidesstattliche Versicherung des Stadtkämmerers Dr. ... vom 18. April 1951, der darin bekundete, die Mutter des Klägers habe ihn sofort nach dem Unfall zwecks Anmeldung des Unfalls aufgesucht. Er habe sie an den Stadtoberinspektor ... (Versicherungsreferat der Stadtverwaltung) verwiesen und sie ferner gebeten, beim Versicherungsamt (VA.) (Bezirksamt) vorzusprechen. Später habe die Mutter ihm mitgeteilt, sie sei von beiden Behörden abgewiesen worden, ebenso die Schwester des Klägers. - Ferner wurden dem OVA. schriftliche Erklärungen des Autohändlers ... des Regierungsoberinspektors ... des Handelsreisenden ... und des Motorradhändlers ... vorgelegt. Das OVA. vernahm den Kläger, seine Ehefrau, den Zeugen ... sowie die Schwester des Klägers, Frau .... Mit dem Stadtkämmerer Dr. ... hatte der Vorsitzende der OVA.-Kammer am 9. November 1951 eine Unterredung, deren Inhalt nicht aktenkundig ist.

Durch Urteil vom 23. September 1952 wies das OVA. die Berufung zurück. Es stellte fest, unzweifelhaft sei der Kläger bei einer für die Firma ... ausgeführten Geschäftsfahrt verunglückt. Diese Tätigkeit sei als vorübergehende Hilfeleistung schon nach der damaligen Rechtsansicht versichert gewesen. Indessen sei der Einwand der verspäteten Anspruchsanmeldung berechtigt.

Gegen das Urteil legte der Kläger Rekurs ein, worin er unrichtige Beweiswürdigung des OVA. rügte und nunmehr in erster Linie geltend machte, die Anspruchsanmeldung sei fristgemäß und wirksam erfolgt; hilfsweise berief er sich außerdem auf § 1547 Abs.1 Nr.2 RVO. Dieses Rechtsmittel ging nach § 215 Abs.3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung auf das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) über.

Mit Urteil vom 18. Februar 1954 - dem Kläger zugestellt am 23. März 1954 - wies das LSG. die Berufung zurück, ohne die Revision zuzulassen. Auch das LSG. hält den Einwand der verspäteten Anspruchsanmeldung für durchgreifend. Eine wirksame Anmeldung bis zum 30. Dezember 1934, die eine Heranziehung des § 1547 RVO erübrige, sei nicht erwiesen. Es stehe nur fest, daß innerhalb der 2-Jahresfrist die Mutter des Klägers bei der Stadtverwaltung vorgesprochen habe; zweifelhaft sei, ob diese Vorsprache überhaupt der Anspruchsanmeldung oder nur der Erstattung der Unfallanzeige gegolten habe. Selbst wenn man darin aber eine Erkundigung nach der Möglichkeit eines Entschädigungsanspruchs erblicken wolle, sei dies noch keine wirksame Anspruchsanmeldung gewesen, zumal nach ständiger Rechtsprechung die Geltendmachung bei einer Gemeindebehörde zur Fristwahrung nur ausreiche, wenn bei dieser Gemeinde ein Versicherungsamt bestehe (§ 1549 RVO). Daß die Mutter des Klägers außerdem noch wirksam beim staatlichen VA. (Bezirksamt) Brückenau den Anspruch angemeldet habe, ist nach Ansicht des LSG. durch die Behauptungen des Klägers und auch durch die schriftliche Erklärung des Stadtkämmerers Dr. ... nicht glaubhaft gemacht. Die an sich schon fragwürdigen Bekundungen des Dr. ... erbrächten, selbst wenn man ihnen folgen würde, lediglich einen Beweis über die Äußerung der Mutter des Klägers, also einen bloßen Beweis vom Hörensagen, auf den allein eine dem Kläger günstige Entscheidung nicht gestützt werden könne. Diese Bekundungen würden noch weiter durch die Aussagen der Zeugin ... entkräftet. Auch nach den schriftlichen Angaben des Oberinspektors ... sei eine fristwahrende Anmeldung beim Versicherungsamt nicht als erwiesen anzusehen. Es komme hiernach darauf an, ob gegen die Fristversäumnis der Kläger sich auf § 1547 Abs.1 Nr. 2 RVO berufen könne. Unrichtige Auskünfte von dazu berufenen Personen oder Behörden (auch Gemeindebehörden) kämen hierfür in Betracht. Da Dr. ... selbst keine Auskunft erteilt habe, komme es allein auf den Nachweis einer Auskunftserteilung durch den Stadtoberinspektor ... an. Dieser Nachweis lasse sich wegen des Todes dieses Zeugen und der unzulänglichen Aussagen der Zeugin ... nicht mehr führen. Selbst wenn aber insoweit das Vorbringen des Klägers als richtig unterstellt werde und hiernach für ihn bis 1948 die Voraussetzungen für eine nachträgliche Geltendmachung nach § 1547 Abs.1 Nr.2 RVO vorgelegen hätten, so habe doch der Kläger die Frist des § 1547 Abs.2 RVO versäumt. Seine durch falsche Belehrung entstandene Rechtsunkenntnis sei spätestens im Zeitpunkt der Erstattung der Unfallanzeige entfallen. Die Frist des § 1547 Abs.2 RVO endete demnach am 28. April 1949. Die Anfrage des Bevollmächtigten ... sei aber erst im November 1949 bei der Beklagten eingegangen. Da der Einwand der Beklagten zu berücksichtigen sei, müsse die Frage, ob es sich überhaupt um einen entschädigungspflichtigen Arbeitsunfall gehandelt habe, ungeprüft bleiben.

Mit Schreiben vom 27. März 1954 - beim Bundessozialgericht eingegangen am 30. März 1954 - legte der bevollmächtigte Rechtsbeistand ... Revision ein und beantragte das Armenrecht. Nach Bewilligung des Armenrechts durch Beschluß vom 6. September 1955, der am 21. September 1955 dem Kläger und dem ihm beigeordneten Rechtsanwalt ... zugestellt wurde, legte dieser am 5. Oktober 1955 Revision ein mit dem Antrag, das Urteil des LSG. aufzuheben und dem Verletzten die Entschädigung anläßlich seines Unfalls vom Dezember 1932 zuzuerkennen. Zugleich beantragte er die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die Revisionsbegründung macht gleichlautend mit dem Armenrechtsgesuch folgendes geltend: Das LSG. sei von Entscheidungen des Reichsversicherungsamts (RVA.) abgewichen, ohne deshalb die Revision zuzulassen. Die Zweifel des LSG. an dem Beweiswert der eidesstattlichen Versicherung des Dr. ... der seine Angabe genau bekunden könne, seien unbegründet und willkürlich. Unhaltbar sei die Annahme des LSG. die Mutter des Klägers habe seinerzeit nur die Unfallanzeige erstatten oder sich lediglich über Anspruchsmöglichkeiten erkundigen wollen. Die Ausführungen des LSG., daß eine wirksame Anspruchsanmeldung nur bei einem staatlichen Versicherungsamt erfolgen könne, andererseits aber falsche Auskünfte durch Gemeindebehörden als Hinderungsgrund nach § 1547 RVO anzusehen wären, seien widerspruchsvoll. Die Bekundung des Oberinspektors ... spreche für das Vorbringen des Klägers. Der Nachweis der fristgemäßen Anmeldung müsse als erbracht angesehen werden, für § 1547 Abs.2 RVO bleibe deshalb kein Raum mehr. Sofern es aber doch hierauf ankommen sollte, habe das LSG. das Gesetz über den Ablauf der durch Kriegsvorschriften gehemmten Fristen in der Sozial- und Arbeitslosenversicherung vom 13. November 1952 (BGBl. I S. 737) nicht beachtet, wonach die Frist des § 1547 Abs.2 RVO erst am 31. Dezember 1950 abgelaufen sei; es habe ferner nicht berücksichtigt, daß der Bevollmächtigte ... gleichzeitig mit der Unfallanzeige auch den Entschädigungsantrag bei der Stadtverwaltung eingereicht habe.

Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie zurückzuweisen. Sie bestreitet das Vorliegen von Verfahrensmängeln. Die Beweiswürdigung des LSG. sei nicht zu beanstanden. Aber selbst eine fehlerhafte Beweiswürdigung des LSG. liege im Bereich des Tatsächlichen und bedeute in der Regel keinen Verfahrensmangel. Eine etwaige Abweichung des LSG. von Urteilen des RVA. rechtfertige die Revision nicht, weil es sich nicht um grundsätzliche Entscheidungen handele. Im übrigen sei nicht das Bundesgesetz vom 13. November 1952, sondern das Bayerische Gesetz Nr. 18 vom 30. April 1946 für den Fristablauf gemäß § 1547 Abs. 2 RVO maßgebend.

Die Revision ist, da der Schriftsatz des Rechtsbeistandes ... vom 27. März 1954 nicht als wirksame Revisionseinlegung gelten kann (Beschluß des 3. Senats vom 9.2.1955 in SozR. § 166 SGG Bl. Da 1 Nr.1), erst 1 ½ Jahre nach Ablauf der Revisionsfrist eingelegt und begründet worden. Da jedoch der Kläger rechtzeitig ein formgerechtes Gesuch um Bewilligung des Armenrechts gestellt hat, worüber erst durch den Beschluß vom 6. September 1955 entschieden worden ist, lagen für ihn bis zum 21. September 1955, dem Tage der Zustellung des Beschlusses, die Voraussetzungen des § 67 Absätze 1 und 3 SGG vor. Innerhalb der Frist des § 67 Abs.2 SGG hat sodann der Prozeßbevollmächtigte des Klägers den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt und die versäumten Rechtshandlungen nachgeholt. Der Senat mußte deshalb die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren. Die Zulässigkeit der Revision hängt also nur noch davon ab, ob sie auch statthaft ist (§ 162 Abs.1 SGG).

Das LSG. hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs.1 Nr.1 SGG). Das Revisionsgericht ist daran gebunden, so daß der diesbezügliche Revisionsangriff fehlgeht (BSG. 2 S. 45). Da auch § 162 Abs.1 Nr.3 SGG nach Lage des Falles nicht in Betracht kommt, kann die Statthaftigkeit der Revision allein darauf gestützt werden, daß ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt worden ist und auch vorliegt (§ 162 Abs.1 Nr.2 SGG; BSG. 1 S. 150).

Welche Verfahrensmängel gerügt werden sollen, ergibt sich aus der Revisionsbegründung allerdings nicht ohne weiteres mit der an sich wünschenswerten Klarheit. Immerhin konnte der Senat dem wenig geordneten Revisionsvorbringen entnehmen, daß der Kläger unzureichende Erforschung des Sachverhalts und Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung durch das LSG. gerügt hat. Diese Rüge ist nach Auffassung des Senats zutreffend.

Übereinstimmend mit dem Vorderrichter ist davon auszugehen, daß für die Entscheidung des Rechtsstreits allein die Frage wesentlich ist, ob binnen zwei Jahren nach dem Unfall, also bis zum 30. Dezember 1934, der Anspruch auf Unfallentschädigung bei dem staatlichen VA. (§ 1549 RVO) angemeldet wurde. Ist diese Frage zu bejahen, so erübrigt sich eine Heranziehung des § 1547 RVO; ist sie jedoch zu verneinen, so kann, wie der Vorderrichter zutreffend ausgeführt hat, der Kläger das Vorliegen einer Verhinderung im Sinn des § 1547 Abs.1 Nr.2 RVO nicht mehr mit Erfolg geltend machen, weil er, bzw. sein Bevollmächtigter, im Jahre 1949 die Frist des § 1547 Abs.2 RVO versäumt hat. Die durch § 2 des Gesetzes über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlaß des Krieges vom 15. Januar 1941 (RGBl. I S. 34) bedingte Ablaufhemmung dieser Ausschlußfrist war durch das Bayerische Gesetz Nr. 18 vom 30. April 1946 (GVBl. S. 179) mit Wirkung vom 1. Juli 1946 beseitigt worden (Bayer. LVAmt in AMBl. 1951 S. B 90). Der Hinweis der Revision auf das Bundesgesetz über den Ablauf der durch Kriegsvorschriften gehemmten Fristen in der Sozial- und Arbeitslosenversicherung vom 13. November 1952 geht fehl, weil § 1 Abs.1 Satz 2 dieses Gesetzes ausdrücklich frühere landesrechtliche Regelungen in Geltung belassen hat ( Erakmann Handbuch der Soz.Vers. Bd. I Stand März 1956, S. 236 w). Die vom Kläger behauptete Erstattung der Unfallanzeige bei der Ortspolizeibehörde im Januar 1949 entsprach nicht den Anforderungen der §§ 1546 und 1549 RVO. Hierfür kam erst das Schreiben des Bevollmächtigten ... vom 5. November 1949 an die Beklagte in Betracht, welches offensichtlich verspätet war. Die Revision verkennt hierbei, ebenso wie bei ihrer Auffassung, die Darlegungen des LSG. seien widersprüchlich, den Unterschied zwischen einer wirksamen Anspruchsanmeldung, die nur bei einem Versicherungsträger oder einem VA. erfolgen kann (§§ 1546, 1549 RVO), und einer unrichtigen Rechtsbelehrung, die unter Umständen auch dann die Rechtsfolgen des § 1547 Abs.1 Nr.2 RVO auslöst, wenn sie von einer Gemeindebehörde erteilt worden ist (RVO-Mitgl.Komm. Bd. I 2. Aufl. S.181 Anm. 7 zu § 1547).

Bei der Prüfung, der das LSG. die nach dem Unfall von der Mutter des Klägers unternommenen Schritte unterzogen hat, ist ein von der Revision mit Recht angegriffener Verstoß gegen die allgemeine Lebenserfahrung darin zu erblicken, daß erwogen wird, die Mutter des Klägers könne vielleicht nur die Erstattung der Unfallanzeige oder eine bloße Erkundigung nach den Möglichkeiten eines Entschädigungsanspruchs beabsichtigt haben. Handelt es sich, wie im vorliegenden Fall, um einen Unfall mit sofort eingetretenen schweren Folgen, so wollen der Verletzte, bzw. seine für ihn handelnden Angehörigen im Zweifel alles tun, um Ersatz des Schadens, zunächst schon für die hohen Heilbehandlungskosten zu erlangen. Diese Vermutung liegt hier um so näher, als der Kläger seinerzeit als Arbeitsloser auf Hilfe besonders angewiesen war. Die Annahme, die Mutter des Klägers habe die formell dem Verletzten gar nicht obliegende Unfallanzeige (§ 1552 f. RVO) erstatten oder sich lediglich erkundigen wollen, welche Ansprüche wohl bestehen könnten, widerspricht der Erfahrung des Lebens und ist, wie die Revision zutreffend betont, unhaltbar (vgl. Urteil des 1. Senats vom 21.3.1956 in SozR. SGG § 162 Bl. Da 7 Nr. 35 - Breith. 1956 S. 965 ff. - 968 -; ähnlich schon RVA. in AN. 1908 S. 437 Nr. 2220).

Diese an sich schlüssige Rüge kann jedoch nicht zum Erfolg führen, weil das angefochtene Urteil auf diesen fehlerhaften Erwägungen nicht beruht. Das LSG. hat nämlich offengelassen, ob die Mutter des Klägers bei den Behörden mit einer Anspruchsanmeldung oder mit einer bloßen Erkundigung vorstellig geworden ist; es hat seine Entscheidung vielmehr darauf gestützt, daß ein hinreichender Nachweis für ihren Besuch bei dem VA. (Bezirksamt) Brückenau nicht erbracht worden sei. Insofern greift allerdings nach Auffassung des Senats eine weitere Revisionsrüge durch.

Da die Mutter des Klägers verstorben ist, stand dem LSG. für die Frage, ob sie nur bei dem für die Anspruchsanmeldung unzuständigen städtischen Versicherungsreferat oder aber daneben auch bei dem staatlichen VA. vorgesprochen hatte, als wichtigste Auskunftsperson der Stadtkämmerer Dr. ... zur Verfügung. Das LSG. hat von einer Zeugenvernehmung des Dr. ... abgesehen und allein dessen knappe eidesstattliche Versicherung berücksichtigt; diesen schriftlichen Bekundungen spricht es entscheidenden Beweiswert vorwiegend deshalb ab, weil Dr. ... nur ein Zeuge vom Hörensagen sei. Nun entspricht es zwar einer allgemeinen Auffassung, daß unmittelbare Zeugen gegenüber solchen vom "Hörensagen" den Vorzug verdienen (BGH. Urteil vom 30.10.1951 in NJW 1952 S. 153; Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts 7. Aufl. S. 564 § 119 V). Sind aber, wie im vorliegenden Fall, über eine für die Entscheidung des Rechtsstreits wesentliche Tatsache sonstige Beweismittel nicht vorhanden, so darf das Gericht von der Vernehmung eines Zeugen vom Hörensagen nicht lediglich deshalb absehen, weil nach allgemeiner Erfahrung die Bekundungen eines solchen Zeugen nur von geringem Wert sind; mit dieser Erwägung würde das Gericht sowohl seine Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts (§ 103 SGG) verletzen, als auch die Grenzen seines Rechts, über das Gesamtergebnis des Verfahrens nach freier Überzeugung zu entscheiden (§ 128 Abs.1 Satz 1 SGG), überschreiten. Damit leidet das Verfahren des LSG. an einem wesentlichen Mangel (§ 162 Abs.1 Nr.2 SGG), der nach Auffassung des Senats immerhin noch ausreichend gerügt worden ist.

Der Vorderrichter hätte von seinem Rechtsstandpunkt aus um so mehr Anlaß gehabt, den Zeugen Dr. ... unter Beachtung des § 396 ZPO ausführlich zu vernehmen, als dessen schriftliche Bekundungen, deren Berücksichtigung vor dem OVA. nach damaligen Verfahrensrecht unbedenklich gewesen sein mag, nicht genügen, um ein klares Bild von den streitigen Tatsachen zu gewinnen (Ebenso Urteil des 5. Senats vom 22.3.1956 - 5 RKn 24/54 -). So dürfte nur durch eingehende Befragung des Zeugen eine Klärung folgender Zweifelsfragen erreichbar sein: Worauf es beruht, daß er als Fremder - im Gegensatz zur eigenen Schwester des Klägers - sich an die so weit zurückliegenden Ereignisse noch so genau erinnern kann; aus welchen Gründen es seiner Meinung nach auszuschließen ist, daß die Mutter des Klägers das staatliche VA. mit dem städtischen Versicherungsreferat verwechselt hat; ob ihr Verhalten damals eine "zielbewußte Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs" (EuM. Bd. 12 S. 249) erkennen ließ; und schließlich warum der Zeuge selbst, als er von dem negativen Ausgang ihrer Bemühungen erfuhr, nicht damals sogleich weitere Schritte zu Gunsten des Klägers unternahm. Erst auf dieser Grundlage wird es möglich sein, den Beweiswert der Bekundungen des Zeugen zu beurteilen.

Die hiernach gemäß § 162 Abs.1 Nr. 2 SGG statthafte Revision ist auch begründet, denn das angefochtene Urteil hätte bei Vermeidung des Verfahrensmangels anders ausfallen können. Würde es durch erschöpfende Vernehmung des Dr. ... als hinreichend wahrscheinlich zu erachten sein, daß die Mutter des Klägers ihr Anliegen beim staatlichen VA. Brückenau vorgetragen hat, so wäre damit eine wirksame Anspruchsanmeldung im Sinn der §§ 1546 und 1549 RVO auch dann anzunehmen, wenn sie von dieser Dienststelle nur mit einer abschlägigen mündlichen Auskunft beschieden worden sein sollte. Daß über die Anspruchsanmeldung keine Niederschrift aufgenommen und weitergeleitet wurde, ist unerheblich (RVO-Mitgl.Komm. Bd. I 2. Aufl. S. 178 Anm. 7 b zu § 1546). In diesem Zusammenhang würde der Senat übrigens eine Vernehmung des Regierungsoberinspektors ... über die damals beim VA. Brückenau in solchen Fällen übliche Praxis für bedeutsam halten, könnte doch hieraus eine wesentliche Bestätigung der Angaben des Dr. ... entnommen werden, falls das VA. den § 13 VAO. nicht streng befolgt haben sollte. Im umgekehrten Fall wären die Bekundungen des Dr. ... erheblich in Frage gestellt.

Bei der Würdigung des Beweisergebnisses wird der Vorderrichter zu beachten haben, daß nach ständiger Rechtsprechung des RVA. ein zwingender Beweis im Sinn einer unbedingten Sicherheit nicht verlangt werden kann (vgl. insbesondere EuM. Bd. 18 S. 185; ferner RGZ 162 S. 223 f; LSG. Hamburg in Breithaupt 1955 S. 844; Brackmann a.a.O. S. 244 m,n). Die Ausführungen des angefochtenen Urteils erwecken stellenweise den Eindruck, daß im vorliegenden Fall der in der Rechtsprechung allgemein zugrunde gelegte für die Bildung der richterlichen Überzeugung ausreichende Grad der Wahrscheinlichkeit etwas überspannt worden ist; dies stünde aber der richterlichen Wahrheitsfindung durchaus entgegen (BGH. Urteil vom 28.11.1950 in NJW 1951 S. 122).

Das angefochtene Urteil war deshalb mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben. Eine Entscheidung in der Sache selbst war dem Senat nicht möglich, da die vom LSG. geprüfte Streitfrage der Versäumung der Ausschlußfrist ohne die dargelegte weitere Erforschung des Sachverhalts nicht entschieden werden kann.

Im übrigen ist auch die vom LSG. bisher nicht erörterte Frage noch keineswegs spruchreif, ob der Kläger überhaupt einen entschädigungspflichtigen Arbeitsunfall erlitten hat. Das OVA. hat zwar diese Frage auf Grund der Behauptungen des Klägers mit zutreffenden rechtlichen Erwägungen bejaht (vgl. RVO-Mitgl.Komm. Bd. III 2. Aufl. S. 70 Anm. 5 b zu § 544). Die mehrfach schwankenden Behauptungen des Klägers lassen jedoch eine gründliche Aufklärung des Sachverhalts dringend geboten erscheinen. Insbesondere wäre nach Ansicht des Senats eine Vernehmung des Inhabers der Firma ... unerläßlich.

Die Sache mußte deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden (§ 170 Abs.2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

Die Entscheidung über die Gebühr des Rechtanwalts ... beruht auf § 196 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2297038

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