Orientierungssatz
Zu der Frage, ob sich Schiffsingenieur-Assistenten in Berufsausbildung iS des RVO § 1267 befinden.
Normenkette
RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 17. April 1964 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Hamburg zurückverwiesen.
Gründe
I
Auf die Sprungrevision der Beklagten ist zu entscheiden, ob das Sozialgericht (SG) dem Kläger zu Recht die "verlängerte" Waisenrente während Berufsausbildung zugesprochen hat (§ 1267 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Im Streit ist der Anspruch für die Zeit vom 1. September 1962 bis 30. April 1963.
Der 1940 geborene Kläger strebt den Beruf des Schiffsingenieurs mit dem Befähigungszeugnis C 6 an. Im September 1959 beendete er die Lehre als Maschinenschlosser in einem Hüttenwerk. Von März 1962 bis Juni 1963 leistete er einen Teil der für die Aufnahme in die Schiffsingenieurschule Bremen notwendigen Seefahrtzeit von 24 Monaten bei der E-Tankschiff-Reederei. Er hatte als Ingenieur-Assistent ein monatliches Einkommen von 642,- DM bei freier Unterkunft und Verpflegung. Im April 1963 heiratete er.
Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers vom September 1962 auf Wiedergewährung der Waisenrente ab, da die Fahrtzeit als angehender Schiffsoffizier keine Berufsausbildung sei, auch wenn der Besuch der Schiffsingenieurschule vom Nachweis der Fahrtzeit abhänge (Bescheid vom 15. Februar 1963).
Das SG Hamburg hat den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese zur Gewährung von Waisenrente für die streitige Zeit verurteilt und die Berufung zugelassen (Urteil vom 17. April 1964).
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil unter Vorlage der schriftlichen Einverständniserklärung des Klägers Sprungrevision eingelegt. Sie beantragt, das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Beklagte führt unter Hinweis auf die Schiffsbesatzungsordnung vom 29. Juni 1931 idF vom 8. Januar 1960 aus, daß Schiffsleute, die die Schiffsingenieurlaufbahn einschlagen wollten, eine abgeschlossene Berufsausbildung und nach den einzelnen Patenten unterschiedliche praktische Fahrtzeiten nachweisen müßten. In der Fahrtzeit würden ausschließlich Erfahrungen gesammelt; es handle sich bei dieser Zeit nicht um Berufsausbildung (Hinweis auf AN 1929, 62). Die Ingenieur-Assistenten hätten an Bord Arbeiten als Maschinist, Elektriker, Pumpmann, Motorenwärter, Kesselwärter usw. voll auszuüben, ohne daß eine planmäßige Unterweisung durch Vorgesetzte stattfinde. Schon die Heuer von über 600,- DM weise aus, daß es sich um echtes Entgelt für geleistete Arbeit handle.
Der Kläger ist nicht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten.
II
Die Revision ist zulässig und begründet. Die Feststellungen des SG lassen nicht erkennen, ob bei der Tätigkeit des Klägers als Ingenieur-Assistent die Merkmale der Berufsausbildung i. S. des § 1267 vorliegen. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen.
Nach den Feststellungen des SG erstrebt der Kläger den Beruf des Schiffsingenieur I mit dem Befähigungszeugnis C 6 (Gruppe C: "Befähigungszeugnisse als Seemaschinist", siehe § 3 der Schiffsbesatzungsordnung vom 29. Juni 1931 idF vom 8. Januar 1960 - BGBl III 9513-2).
Nach § 20 Abs. 1 der Schiffsbesatzungsordnung werden die Befähigungszeugnisse - abgesehen von weiteren Voraussetzungen -
nach bestandener Prüfung und geforderter "praktischer Ausbildung"
ausgestellt.
Nach § 25 der Schiffsbesatzungsordnung bedingt die Zulassung zur Prüfung den Nachweis der geforderten praktischen Ausbildung und den Besuch eines Lehrganges in einer staatlich anerkannten Lehranstalt. Nach § 35 der Prüfungsordnung für die Schiffsingenieur und Seemaschinistenprüfung vom 26. März 1934 (BGBl III 9513-9) wird zur Prüfung als Schiffsingenieur I zugelassen, wer als Schiffsingenieur II zugelassen ist und den Lehrgang zum Schiffsingenieur I an einer Schiffsingenieurschule besucht hat. Die Zulassung zur Prüfung zum Schiffsingenieur II verlangt nach § 32 der genannten Prüfungsordnung eine Werkstättenlehre, eine Seefahrtzeit als Maschinisten-Assistent von bestimmter Dauer sowie den Besuch eines Lehrgangs zum Schiffsingenieur II an einer Schiffsingenieurschule.
An "praktischer Ausbildung" wird nach § 24 der Schiffsbesatzungsordnung gefordert: Für die Befähigung zum Schiffsingenieur I: eine auf die Zulassung als Schiffsingenieur II folgende Seefahrtzeit von 24 Monaten; für die Befähigung zum Schiffsingenieur II: eine Werkstättenlehre und eine Seefahrtzeit von 24 Monaten. In der Schiffsbesatzungsordnung ist nichts Näheres über die Art der Tätigkeit während der Seefahrtzeit als "praktische Ausbildung" zum Schiffsingenieur II und I enthalten. Der Manteltarifvertrag für die Deutsche Seeschiffahrt vom 11. Januar 1962 (TV) sagt dazu lediglich in § 31 "Ausbildung des Assistenten": Ingenieur-Assistenten dürfen nur im Rahmen ihrer Ausbildung zu Dienstleistungen als Reiniger herangezogen werden.
Bei der Tätigkeit des Klägers in der hier zu beurteilenden Zeit handelt es sich um die "praktische Ausbildung" nach § 24 Abs. 1 Buchst. f Nr. 2 a der Schiffsbesatzungsordnung.
Die Ingenieur-Assistenten gehören zu den "Besatzungsmitgliedern" des Schiffes i. S. des § 4 TV; denn sie fallen nicht unter die in § 5 TV aufgeführten "sonstigen Angestellten" und die in § 6 TV genannten "Junggrade". Eine besondere Vorschrift für die Vergütung der in der "praktischen Ausbildung" befindlichen "Besatzungsmitglieder" enthält der TV nicht (vgl. § 32 TV). Diese Personen erhalten also Heuer, d. h. Arbeitsentgelt wie andere Besatzungsmitglieder (vgl. den "Begriff der Heuer" in § 30 des Seemannsgesetzes vom 26. Juli 1967 und den Heuertarifvertrag für die deutsche Seeschiffahrt vom 15. März 1962, in dem die Heuersätze für den "Ingenieur und Elektriker-Assistenten" unter der Kategorie "Maschinenpersonal" festgesetzt sind; vgl. auch die Bekanntmachung des Bundesversicherungsamts über Durchschnittsheuern für Seeleute vom 28. Juni 1967, BABl 1967, 376).
Damit, daß die Seefahrtzeit als Ingenieur-Assistent in der Schiffsbesatzungsordnung als "praktische Ausbildung" bezeichnet wird, ist noch nicht Berufsausbildung i. S. des § 1267 RVO bejaht; denn die Begriffe "Ausbildung" werden in der Schiffsbesatzungsordnung und in der RVO im Hinblick auf verschiedene Ziele und Zwecke gebraucht. Zwar kann der Ingenieur-Assistent, der noch kein Befähigungszeugnis der Gruppe C (als Seemaschinist) besitzt, auf dem Schiff keinen verantwortlichen Posten bekleiden, für den die Schiffsbesatzungsordnung bestimmte Befähigungsnachweise vorschreibt (§§ 7 bis 13 der Schiffsbesatzungsordnung); doch schließt dies ein Arbeitsverhältnis nicht aus, bei dem Arbeiten verrichtet werden, für die die Schiffsbesatzungsordnung kein Befähigungszeugnis verlangt.
Berufsausbildung i. S. des § 1267 RVO setzt voraus, daß ein echtes Ausbildungsverhältnis besteht. Dazu gehört, daß ein sachkundiger Ausbilder bestellt ist, der den Auszubildenden anleitet, belehrt und ihn mit der Zielsetzung unterweist, ihm die für den erstrebten Beruf notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln. Daß dabei nützliche Arbeit geleistet wird, steht nicht entgegen, wenn der Ausbildungszweck im Vordergrund steht und die Verwertung der Arbeitskraft in den Hintergrund tritt. Wenn eine derartige Unterweisung im Vordergrund der Beschäftigung steht, schließt auch die Höhe der Entlohnung die Annahme von Berufsausbildung nicht aus (BSG in SozR RVO § 1267 Nr. 7 und Nr. 18); denn die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung sind nicht vom Vorliegen von Bedürftigkeit abhängig. Eine höhere Entlohnung kann nur im Zusammenhang mit anderen Merkmalen gegen die Annahme eines Ausbildungsverhältnisses sprechen.
Hier reichen die Feststellungen des SG nicht aus, um zu entscheiden, ob in der streitigen Zeit die Merkmale der Berufsausbildung i. S. des § 1267 RVO bei der Tätigkeit des Klägers als Ingenieur-Assistent vorgelegen haben. Das SG hat zwar festgestellt, daß die Tätigkeit des Klägers unter der Aufsicht eines Leitenden Ingenieurs stand und daß der Kläger über seine Tätigkeit ein Berichtsbuch führen mußte. Der Aufsicht des Leitenden Ingenieurs unterliegen indessen auch solche Mitglieder der Schiffsbesatzung, die sich nicht mehr in Berufsausbildung befinden, und die Führung eines Berichtsbuches beweist für sich allein den Ausbildungscharakter der Tätigkeit nicht. Das SG hat nicht festgestellt, wie sich die Tätigkeit des Klägers im einzelnen tatsächlich abgespielt hat. In diesem Zusammenhang könnte die Beantwortung etwa der folgenden Fragen von Bedeutung sein:
Ist die Dauer der praktischen Ausbildung von 24 Monaten in feste, von vornherein bestimmte Zeiträume aufgeteilt, von welcher Dauer jeweils?
Sind während der jeweiligen Zeitabschnitte bestimmte Arbeiten - welche jeweils - zu verrichten?
War der Kläger jeweils bestimmten Schiffsingenieuren (II oder I) zur ständigen Mithilfe zugeteilt oder hatte er bestimmte Arbeiten nach Weisung selbständig auszuführen? Wer hat die Weisungen erteilt?
Wurde dem Kläger Unterricht erteilt?
In welchem Umfang etwa wöchentlich, nach bestimmtem Lehrplan, mit "Hausaufgaben"?
Wer hat den Leitenden Ingenieur "zur Aufsicht der Fortbildung" bestellt; wie hat der Leitende Ingenieur im einzelnen die Aufsicht ausgeübt; hat er dem Kläger Erklärungen, Anweisungen u. ä. gegeben, in welchem Umfang täglich, welchen Inhalts?
Bestehen allgemeine Richtlinien über die Gestaltung der in der Schiffsbesatzungsordnung vorgeschriebenen praktischen Ausbildung?
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ja, welche Stelle hat sie erlassen? Selten sie für alle Reedereien? |
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Falls |
nein, wer bestimmt die Arbeiten, die der Ingenieur-Assistent während der praktischen Ausbildung zu verrichten hat? |
Ist bei der Anmusterung des Klägers auf den verschiedenen Schiffen während der praktischen Ausbildung von 24 Monaten jeweils vorher bestimmt worden, welche besonderen Tätigkeiten der Kläger auf dem Schiff, in welcher Reihenfolge und von welcher Dauer jeweils zu verrichten hat?
Sind mehrere Ingenieur-Assistenten gleichzeitig auf einem Schiff tätig, werden sie zusammen ausgebildet und unterrichtet? Verrichten alle die gleichen Tätigkeiten? Ersetzt der Ingenieur-Assistent während seiner Tätigkeit auf dem Schiff eine andere Arbeitskraft, d. h. hätte eine andere Arbeitskraft (welchen Berufs) eingestellt werden müssen, wenn der Kläger nicht als Ingenieur-Assistent beschäftigt gewesen wäre?
Von welcher Stelle wird die Führung eines Berichtsbuches verlangt; wer stellt es aus; was ist darin einzutragen; ist es bei der Meldung zur Prüfung vorzulegen?
Zur Klärung dieser Fragen wird zu erwägen sein, das Berichtsbuch einzusehen, gegebenenfalls den Leitenden Ingenieur, der die Aufsicht geführt hat, oder einen anderen maßgeblichen Angestellten der Reederei zu hören, den Kläger selbst zu befragen und einen Sachverständigen hinzuziehen, der allgemein über die Durchführung der praktischen Ausbildung während der Seefahrtzeit (§ 24 der Schiffsbesatzungsordnung) aussagen kann.
Im Interesse der Beschleunigung der seit 1964 rechtshängigen Sache (vgl. §§ 146, 150 S. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) erschien es tunlich, den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 3 SGG).
Die Kostenentscheidung ist dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen