Orientierungssatz
Zur Frage der Förderung der Unterbringung eines Behinderten gemäß AFG § 58 Abs 1 iVm AFG § 40 Abs 1 bei Besuch einer Sonderberufsschule (hier: hauswirtschaftliche Sonderberufsschule für schwachbegabte Mädchen).
Normenkette
AFG § 56 S. 1 Fassung: 1969-06-25, § 58 Abs. 1 Fassung: 1969-06-25, § 40 Abs. 1 Fassung: 1969-06-25; BAföG § 2; RehaAnO § 10 Nr. 5 Fassung: 1970-07-02
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. April 1975 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Unterbringung der Behinderten Edeltraut W (W.) im St. W-heim in B als eine berufliche Bildungsmaßnahme nach den §§ 56 bis 62 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) in der bis 30. September 1974 geltenden Fassung (AFG a. F.) i. V. m. der Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit (BA) über die Arbeits- und Berufsförderung Behinderter vom 2. Juli 1970 (AReha 1970) zu fördern hat.
Die am 6. September 1952 geborene W. leidet an einer Debilität mittleren Grades. Nachdem sie aus der Volksschule entlassen worden war, besuchte sie vom 10. September 1969 bis 22. Juli 1971 die im St. W-heim in B eingerichtete hauswirtschaftliche Sonderschule für schwach begabte Mädchen. Die Kosten dieser Maßnahme übernahm der Kläger in seiner Eigenschaft als überörtlicher Träger der Sozialhilfe. Seit dem 15. August 1971 ist W. als hauswirtschaftliche Hilfskraft im Altersheim des W-heimes tätig.
Den am 10. Oktober 1969 von dem Vater der W. gestellten Antrag auf Bewilligung von Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 2. September 1971 mit der Begründung ab, für schulische Ausbildungsgänge könne BAB nach der AReha 1970 nicht gewährt werden. Der Kläger, der am 14. April 1972 den Übergang etwaiger Ansprüche gemäß § 90 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) anzeigte, erhob Widerspruch. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. August 1973). Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Bayreuth die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide verurteilt, die der W. in der Zeit vom 10. September 1969 bis 22. Juli 1971 zustehende BAB an den Kläger bis zur Höhe seiner Aufwendungen zu zahlen (Urteil vom 9. Juli 1974). Die Berufung der Beklagten hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 24. April 1975). Das LSG hat die Auffassung vertreten, daß die zum Personenkreis nach § 56 AFG a. F. gehörende W. mit dem Besuch der Sonderberufsschule an einem Lehrgang nach § 10 Nr. 5 AReha 1970 zur Verbesserung der Eingliederungsmöglichkeiten für Behinderte, die den Anforderungen eines anerkannten Ausbildungsberufes nicht und einer Arbeitsaufnahme oder einer Tätigkeit für Behinderte noch nicht gewachsen sind, teilgenommen habe. Die Maßnahme sei keine Schulausbildung gewesen. Der Kern der Bildungsmaßnahme habe vielmehr in der Vorbereitung auf den ausgewählten und für die Behinderte geeigneten Beruf bestanden.
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung der §§ 40, 56, 58 AFG a. F. i. V. m. § 10 Nr. 5 AReha 1970.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG sowie das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Die Beklagte ist verpflichtet, die von der Behinderten W. in der Sonderberufsschule des St. W-heimes in B. in der Zeit vom 10. September 1969 bis 22. Juli 1971 besuchte Bildungsmaßnahme nach den Vorschriften der AReha 1970 zu fördern und die der W. zustehenden Leistungen an den Kläger bis zur Höhe seiner Aufwendungen zu zahlen.
Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß die geistig minderbegabte W. zum Personenkreis der Behinderten im Sinne des § 56 AFG gehört. Dazu sind nämlich alle Personen zu rechnen, die infolge einer vom Normalen abweichenden körperlichen, geistigen oder seelischen Verfassung in ihrer beruflichen Sicherheit bedroht sind (BSG SozR 4100 § 56 Nr. 1).
Für diesen Personenkreis finden, wie das LSG ebenfalls zutreffend entschieden hat, gemäß § 58 Abs. 1 AFG a. F. die Vorschriften des 2. Abschnitts, 4. Unterabschnitt des AFG und damit auch § 40 AFG uneingeschränkt Anwendung. Dies legt die von der Beklagten gezogene Folgerung nahe, daß auch für Behinderte die Förderung schulischer Ausbildung ausgeschlossen ist (vgl. dazu BSGE 37, 229).
Dieser Folgerung kann allerdings nicht - wie das LSG meint - mit dem Einwand begegnet werden, daß es sich nicht um eine Maßnahme in schulischer Form gehandelt habe. Bei seiner Argumentation, der Kern der Maßnahme habe in der Vorbereitung auf den Beruf bestanden und die Haushaltungsschule habe nicht im wesentlichen allgemeines Schulwissen vermittelt (was an sich richtig ist), hat das LSG verkannt, daß es für die Eigenschaft einer Bildungsmaßnahme als schulische Ausbildung nicht darauf ankommt, ob allgemeinbildendes Wissen oder berufliches Wissen vermittelt wird. Auch die überwiegende oder sogar ausschließliche Vermittlung von beruflichem Wissen kann in schulischer Form erfolgen. Dies ist z. B. der Fall in den Berufsfachschulen, die sogar eine betriebliche Berufsausbildung voll ersetzen können (Rahmenordnung über Berufsfachschulen, Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 3. November 1971). Berufsfachschulen unterliegen grundsätzlich nicht der Förderung nach dem AFG, sondern nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz - BAFöG - (vgl. hierzu Rothe/Blanke, Komm. zum BAFöG, Anm. 5.1 zu § 2). Für die Unterscheidung kommt es vielmehr darauf an, in welcher Weise Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden, ob dies im wesentlichen "am Werkstück" nach der Art betrieblicher Ausbildungen geschieht oder mehr in den traditionellen Formen schulischen Unterrichts (BSG Urteil vom 26. Mai 1976 - 12/7 RAr 69/74), wie dies auch bei dem streitigen Lehrgang der Fall war.
Dieser somit als schulische Maßnahme einzustufende Lehrgang ist dennoch nicht von der Förderung ausgeschlossen. Nach den Feststellungen des LSG hat es sich nämlich nicht um eine Ausbildung im Sinne von § 40 AFG gehandelt, sondern um einen Lehrgang nach § 10 Nr. 5 AReha 1970, der den berufsvorbereitenden Maßnahmen (§ 40 Abs. 1, 2. Halbsatz AFG) zuzuordnen ist. Die von vornherein auf zwei Jahre festgelegte Bildungsmaßnahme war nach Lehrplan und inhaltlicher Ausgestaltung geeignet und auch darauf ausgerichtet, die Behinderte im Rahmen ihrer Bildungsfähigkeit soweit mit Berufskenntnissen und Fertigkeiten auszustatten, daß sie nach Abschluß der Maßnahme auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsatzfähig wurde. Daß die geistig minderbegabte W. vor Beginn der Maßnahme zu einer beruflichen Tätigkeit noch nicht fähig war und auch nicht zu erwarten war, daß sie eine Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf durchlaufen oder hierzu befähigt werden könnte, ergibt sich ebenfalls aus den vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen. Für solche Maßnahmen (Grundausbildungs- und Förderungslehrgänge und andere berufsvorbereitende Maßnahmen) gilt die aus der ersten Alternative des § 40 Abs. 1 AFG (berufliche Ausbildung in Betrieben oder überbetrieblichen Einrichtungen) zu entnehmende Begrenzung der Förderung von Ausbildungsgängen nicht. Dies hat der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 26. Mai 1976 (12/7 RAr 69/74) für eine Maßnahme zur Erzielung der Berufsreife (§ 10 Nr. 4 AReha 1970) entschieden. Es besteht keine Veranlassung, diese Frage für die Eingliederungslehrgänge nach § 10 Nr. 5 AReha 1970 anders zu beurteilen. Der Wortlaut des § 40 AFG läßt nicht erkennen, daß die für Ausbildungen geltende Beschränkung auch auf die berufsvorbereitenden Maßnahmen auszudehnen ist. Dies entspricht den Bedürfnissen der Berufsförderung. In der zitierten Entscheidung wurde darauf hingewiesen, daß die Unterweisung bei berufsvorbereitenden Maßnahmen in vielen Fällen nur in schulischer Form erfolgen kann. Da der Beklagten die Förderung berufsvorbereitender Maßnahmen ohne ausdrückliche Beschränkung übertragen worden ist, können schulische Bildungsveranstaltungen dabei nicht generell ausgeklammert werden. Auch die AReha 1970 enthält keinen Anhalt für eine solche Einschränkung. Eine derartige Regelung wäre überdies gesetzwidrig. Die Beklagte hat nach § 56 AFG a. F. bei ihren Maßnahmen die besonderen Verhältnisse der körperlich, geistig und seelisch Behinderten zu berücksichtigen. Da zu den Maßnahmen im Sinne dieser Vorschrift auch die Anordnungen der Bundesanstalt gehören (BSGE 37, 229), ist die Beklagte verpflichtet, im Rahmen ihres Anordnungsrechts diesen Bedürfnissen der Behindertenförderung Rechnung zu tragen. Dies schließt die Förderung schulischer Veranstaltungen ein, wo dies zweckmäßig - und nach dem Gesetz möglich - erscheint.
Dementsprechend ist auch unerheblich, ob die Maßnahme innerhalb einer Schule oder als unabhängige Veranstaltung angeboten wird. Dies gilt um so mehr, als es sich bei Maßnahmen nach § 10 Nr. 5 AReha 1970 um das letzte Mittel handelt, Behinderte in das Erwerbsleben einzugliedern, die nach Art und Schwere ihrer Behinderung der Ausbildung für einen anerkannten Ausbildungsberuf nicht zugeführt werden können und auch einer Arbeitsaufnahme oder einer Tätigkeit in einer Werkstatt für Behinderte, also sogar einer auf die Behinderten zugeschnittenen Beschäftigungsweise, noch nicht gewachsen sind.
Die Maßnahme verliert auch nicht deshalb den Charakter eines Eingliederungslehrganges nach § 10 Abs. 5 AReha, weil neben der Unterrichtung und Unterweisung in berufsbezogenen Fächern in allgemeinbildenden Fächern unterrichtet wurde. Abgesehen davon, daß der allgemeinbildende Unterricht gegenüber den Fächern der Hauswirtschaft und der praktischen Unterweisung ganz deutlich in den Hintergrund trat, kann auch die Vervollkommnung der Allgemeinbildung jedenfalls bei einem geistig Behinderten zur Erlangung der Fähigkeit, am Erwerbsleben teilzunehmen, notwendig sein. Erforderlich ist lediglich - woran hier kein Zweifel besteht -, daß die Vermittlung in berufsbezogener Form erfolgt.
Nach alledem ist das angefochtene Urteil des LSG zu Recht ergangen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 4 SGG.
Fundstellen