Leitsatz (amtlich)
Hat während eines Ersatzzeittatbestands Versicherungspflicht fortbestanden, sind Beiträge aber nicht entrichtet worden, so liegt eine anrechenbare Ersatzzeit (AVG § 28 Abs 2 S 1 = RVO § 1251 Abs 2 S 1) vor, wenn die Nichtentrichtung von Beiträgen ursächlich auf den Ersatzzeittatbestand zurückgeht (hier: Verhinderung des Versicherungspflichtigen durch Kriegsdienst, den Arbeitgeber zur Abführung von Beiträgen anzuhalten).
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23; HwVG § 3 Abs. 3 Fassung: 1960-08-09
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. September 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Beklagte dem Kläger den in den Monaten Februar und März 1945 geleisteten Kriegsdienst rentensteigernd anzurechnen hat.
Der 1913 geborene Kläger war seit 1939 bei der Hauptvereinigung der Deutschen Brauwirtschaft - eine Verwaltung des damaligen sogenannten Reichsnährstandes - als Angestellter beschäftigt. Ab 1941 leistete er Kriegsdienst, aus dem er erst nach Kriegsende zurückkehrte. Der Arbeitgeber zahlte dem Kläger auch nach der Einberufung zum Wehrdienst das Gehalt weiter, hielt den Anteil des Klägers am Beitrag zur Rentenversicherung der Angestellten vom Lohn ein und entrichtete - entsprechend den Bestimmungen für im öffentlichen Dienst Beschäftigte - Beiträge in der Form der Verwendung von Beitragsmarken. In den vorliegenden Versicherungskarten sind Beitragsmarken aber nur bis einschließlich Januar 1945 enthalten.
Nach dem Kriege lehnte es die Beklagte ab, dem Kläger Beiträge zur Angestelltenversicherung (AnV) für die Zeit vom 1. Februar bis 30. April 1945 zu "ersetzen": Die Beitragsleistung habe mit Januar 1945 geendet, so daß die Kriegsdienstzeit ab 1. Februar 1945 als Ersatzzeit gemäß § 28 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) neuer Fassung gelte (Schreiben der Beklagten an den Kläger vom 14. Januar 1959).
Mit dem streitigen Bescheid vom 8. Dezember 1970 bewilligte die Beklagte dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab Dezember 1970. Der Rentenberechnung legte sie bis zum 31. Januar 1945 Beitragszeiten und ab 1. April 1945 Ersatzzeiten (Kriegsdienstzeiten) zugrunde; die Monate Februar und März 1945 seien keine Ersatzzeit, weil die Voraussetzungen des § 28 Abs 1 AVG nicht vorlägen.
Mit der hiergegen auf Anrechnung der Monate Februar und März 1945 als Beitragszeit, hilfsweise als Ersatzzeit erhobenen Klage hatte der Kläger in zweiter Instanz Erfolg. In dem angefochtenen Urteil vom 23. September 1975 hat das Landessozialgericht (LSG) die klageabweisende Entscheidung des Sozialgerichts (SG) vom 8. Juni 1973 geändert und die Beklagte verurteilt, die streitigen Monate als Ersatzzeit zusätzlich zu berücksichtigen; im übrigen hat das LSG die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, die vom Kläger nach Verkündung des erstinstanzlichen Urteils und vor Einlegung der Berufung erklärte Klagerücknahme mache ein Rechtsmittel nicht unzulässig. Die streitigen Monate ließen sich nicht als Beitragszeit anrechnen. Einerseits stehe fest, daß die Beitragsleistung mit Januar 1945 geendet habe, andererseits gelte die Fiktion der Beitragsentrichtung bei Einbehaltung des Beitragsanteils durch den Arbeitgeber nach § 119 Abs 6 AVG in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSGE 34, 274 = SozR Nr. 1 zum RAM-Erlaß vom 20. April 1943/Allgemeines) nur in Fällen der Beitragsentrichtung im Lohnabzugsverfahren. Die beiden streitigen Monate seien aber Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG. Dessen Absatz 2, wonach Versicherungspflicht nicht habe bestehen dürfen, schließe dies nicht aus. Die Vorschrift lasse es nach ihrem Sinn und Zweck genügen, daß bei und trotz bestehender Versicherungspflicht die Beitragsleistung aus dem Ersatzzeittatbestand zuzuordnenden Gründen unterblieben sei. Das aber sei vorliegend der Fall; der Kläger habe wegen der Leistung von Kriegsdienst die ordnungsgemäße Abführung der Beiträge nicht überprüfen können.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit der - vom LSG zugelassenen - Revision. Sie ist der Auffassung, allein das Bestehen von Versicherungspflicht schließe die Anrechnung einer Zeit als Ersatzzeit aus. Die Nichtentrichtung der geschuldeten Beiträge könne nicht über die Anrechnung dieser Zeiten als Ersatzzeiten zu Lasten der Versichertengemeinschaft gehen.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit sie verurteilt worden ist, bei der Berechnung der Rente des Klägers zusätzlich die Monate Februar und März 1945 als Ersatzzeit zu berücksichtigen und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. Juni 1973 in vollem Umfang zurückzuweisen.
Der Kläger ist im Verfahren vor dem BSG nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet.
Nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG werden als Ersatzzeiten angerechnet ua die Zeiten eines während eines Krieges geleisteten militärischen Dienstes im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger in den vorliegend streitigen Monaten Februar und März 1945 Kriegsdienst geleistet hat. Dem tritt die Beklagte auch nicht entgegen. Sie ist indessen der Auffassung, der Anrechnung der streitigen Zeit als Ersatzzeit stehe § 28 Abs 2 Satz 1 AVG entgegen. Danach werden die in Abs 1 aufgeführten Zeiten als Ersatzzeiten ua nur dann angerechnet, wenn während der Ersatzzeit Versicherungspflicht nicht bestanden hat. Richtig ist, daß der Kläger in den streitbefangenen beiden Monaten, während welcher ihm sein Arbeitgeber das Gehalt fortzuzahlen hatte und auch tatsächlich fortgezahlt hat, in der AnV versicherungs- und demgemäß beitragspflichtig war (§ 1 der Verordnung über die Rentenversicherung und knappschaftliche Pensionsversicherung der Arbeiter und der Angestellten im öffentlichen Dienst während des besonderen Einsatzes der Wehrmacht vom 22. Januar 1940 - RGBl I 225 - iVm § 15 Abs 2 der Verordnung zur Durchführung der sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften der Zweiten Verordnung über die Vereinfachung des Lohnabzuges vom 15. Juni 1942 - RGBl I 403). Gleichwohl stellen die streitigen zwei Monate eine anrechenbare Ersatzzeit dar:
Eine Ersatzzeit ist nach der Absicht des Gesetzgebers ersichtlich dazu bestimmt, einen rentenrechtlichen Ausgleich dafür zu geben, daß der Versicherte infolge bestimmter Umstände - der in § 28 Abs 1 AVG genannten Ersatzzeittatbestände - ohne Verschulden daran gehindert war, Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung zu leisten; gleichgestellt sind Zeiten ohne Beitragsleistung, in denen wegen bestimmter Ersatzzeittatbestände von dem Versicherten eine Beitragsleistung jedenfalls nicht zu erwarten war (vgl statt vieler zB BSG in SozR Nr 2 zu § 3 HwVG). Wesen und Funktion der Ersatzzeit bestehen sonach darin, Beitragszeiten zu ersetzen (vgl zB Koch/Hartmann/v. Altrock/Fürst, AVG § 28 Anm A; Zweng/Scheerer, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 2. Aufl., § 1251 RVO Anm A I). Das bedeutet zunächst, daß als Ersatzzeit nicht angerechnet werden kann eine Zeit, die Beitragszeit ist. Das LSG hat im vorliegenden Fall unangegriffen festgestellt, daß für den Kläger in den streitigen beiden Monaten keine Beiträge entrichtet worden sind (§ 27 Abs 1 Buchst a AVG). Darüber hinaus hat das LSG im Anschluß an BSGE 34, 274 entschieden, trotz des Umstandes, daß der Arbeitgeber dem Kläger mutmaßlich auch für die streitige Zeit seinen Beitragsanteil vom Gehalt einbehalten hat, liege auch keine fiktive Beitragszeit vor, weil § 119 Abs 6 AVG auf Fälle der Beitragsentrichtung durch Verwendung von Beitragsmarken nicht anwendbar sei. Gegen diese die Auffassung der Beklagten bestätigende Entscheidung hat sich der Kläger nicht gewandt. Er hat weder Revision noch - nach Einlegung der Revision seitens der Beklagten - Anschlußrevision eingelegt. Der Beklagten ist allerdings zuzugeben, daß § 28 Abs 2 Satz 1 AVG für die Anerkennung einer Ersatzzeit nicht eine unterbliebene Beitragsleistung, sondern das Nichtbestehen der Versicherungspflicht voraussetzt. Indessen läßt sich nicht verkennen, daß der Gesetzgeber hierbei allein berücksichtigt hat, daß bei bestehender Versicherungspflicht ohnedies Beiträge entrichtet werden müssen und ua der Versicherte durch die Ersatzzeitvorschriften nicht von der ihm aus dem Versicherungsverhältnis obliegenden Pflicht entbunden werden sollte, seinen beitragszahlungspflichtigen Arbeitgeber zur Abführung der Beiträge anzuhalten (vgl dazu Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. III S. 672 m). Liegt jedoch ein Sachverhalt vor, in dem bei bestehender Versicherungspflicht die Unterlassung der Beitragsentrichtung offenkundig nicht auf eine Verletzung der Pflicht des Versicherten, für die Abführung der Beiträge zu sorgen, sondern gerade darauf beruht, daß er wegen des Ersatzzeittatbestandes gehindert war, dieser Pflicht zu genügen, so läßt sich eine Ersatzzeit unter Berufung allein auf die bestehende Versicherungspflicht nicht verneinen. Vielmehr muß bei solchen Sachverhalten der den § 28 Abs 2 Satz 1 AVG tragende Grundgedanke zur Geltung gelangen, daß die Ersatzzeit gerade eine Beitragsleistung zu ersetzen bestimmt ist, die infolge des Ersatzzeittatbestandes unverschuldet nicht zustande gekommen ist (für diese Fälle im Ergebnis ebenso Zweng/Scheerer, aaO, Abs 2). Für dieses der Gesamtregelung des § 28 Abs 1 und 2 AVG zu entnehmende rechtliche Ergebnis liefert, worauf das LSG zutreffend hinweist, § 3 Abs 3 des Handwerkerversicherungsgesetzes (HwVG) als Ausdruck eines das Ersatzzeitenrecht beherrschenden allgemeinen Rechtsgedankens überdies eine gesetzliche Belegstelle: Die nach dieser Vorschrift ausdrücklich mögliche Anrechnung einer Ersatzzeit bei fehlender Beitragsleistung, aber bestehender Versicherungspflicht trägt ua dem Umstand Rechnung, daß der Handwerker gerade wegen des Ersatzzeittatbestandes gehindert sein kann, Beiträge zu leisten (vgl dazu § 5 Abs 3 iVm Abs 1 der Ersten Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes über die Altersversorgung für das deutsche Handwerk vom 13. Juli 1939 - RGBl I 1255 - und § 4 Abs 4 HwVG, ferner Elsholz/Theile, Die gesetzl. RentV, S. 92 Nr 34).
Das LSG hat im vorliegenden Fall festgestellt, daß der Kläger "wegen der unter den Ersatzzeittatbestand einzuordnenden Umstände nicht in der Lage" gewesen sei, "die ordnungsgemäße Beitragsentrichtung zu überprüfen"; der eingetretene Schaden - Unterlassung der Beitragsentrichtung - stehe mit dem Kriegsdienst in Zusammenhang. Diese Feststellung hat die Beklagte nicht angegriffen. Da die Beantwortung der Frage, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen verschiedenen Ereignissen bestehe, auf tatsächlichem Gebiet liegt (Urteil des BSG vom 12. Juli 1976 - 5 RKn 34/76 -), ist der Senat gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetze (SGG) hieran gebunden. Es liegt mithin auch im konkreten Fall ein Sachverhalt der oben dargestellten Art vor, indem die unterlassene Beitragsleistung auf einen Ersatzzeittatbestand - hier Kriegsdienst - zurückgeht, so daß die Beklagte verpflichtet ist, trotz bestehender Versicherungspflicht eine Ersatzzeit anzurechnen.
Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn anzunehmen wäre, daß der Kläger nach Beendigung des Kriegsdienstes seiner Pflicht, für ordnungsgemäße Abführung von Pflichtbeiträgen zu sorgen, nachträglich hätte nachkommen können. Insbesondere ist an eine Nachentrichtung der Pflichtbeiträge zu denken. Indessen hat die Beklagte selbst nach dem Kriege gegenüber dem Kläger laut ihrem Schreiben vom 14. Januar 1959 jeden "Ersatz von Beiträgen zur Angestelltenversicherung für die Zeit vom 1. Februar bis 30. April 1945" ausdrücklich abgelehnt und dem Kläger mitgeteilt, daß die streitige Zeit Ersatzzeit nach § 28 AVG sei. In dieser Auffassung ist die Beklagte im Rechtszug bestätigt worden. Bei diesem Sachverhalt bestand für den Kläger bislang kein Anlaß, wegen einer Beitragsnachentrichtung nochmals an die Beklagte heranzutreten.
Das angefochtene Urteil trifft nach allem zu. Die Revision der Beklagten hiergegen war als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen