Entscheidungsstichwort (Thema)
Interpretation der Beitragszeit. Volkspolizei. DDR
Leitsatz (redaktionell)
FRG § 15 entschädigt nicht für gezahlte Beiträge, sondern für die verlorene Anwartschaft auf Sozialleistungen. Unter Beitragszeiten iS des FRG § 15 Abs 1 S 1 sind daher auch Zeiten zu verstehen, für die Beiträge als entrichtet gelten, wobei für die Fiktion im Rahmen dieser Vorschrift nicht entscheidend sein kann, ob die Form der Beitragsentrichtung nach Reichs- oder Bundesrecht wirksam wäre. Wenn auch in der DDR für Angehörige der Volkspolizei seit dem 1954-07-01 Beiträge zur Sozialversicherung nicht mehr entrichtet, sondern stattdessen in den beim Ministerium des Innern bestehenden Versorgungsfonds eingezahlt wurden, sind gleichwohl - bei Ausscheiden vor Erreichen der Altersgrenze (ausgenommen Rentenfälle) - diese Zeiten als Beitragszeiten iS des FRG § 15 zu berücksichtigen, weil nach einschlägigen Bestimmungen der DDR-Versorgungsordnung die vor Eintritt in die Volkspolizei erworbenen Rechte bei der Sozialversicherung wieder aufleben und die Dienstzeiten bei der Volkspolizei rentensteigernd berücksichtigt werden.
Normenkette
FRG § 15 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-02-25, § 17 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1960-02-25; AVG § 27 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1250 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 30.01.1976; Aktenzeichen IV AN Bf 55/73) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 02.07.1973; Aktenzeichen 12 AN 115/71) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 02.07.1973; Aktenzeichen 12 AN 114/71) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 30. Januar 1976 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat den Klägerinnen die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei der Berechnung der Hinterbliebenenrenten der Klägerinnen die Zeit vom 1. März 1953 bis 17. Juni 1954 als zurückgelegte Beitragszeit im Sinne des § 15 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes (FRG) zu berücksichtigen ist.
Der im Juli 1970 verstorbene Vater der Klägerin zu 1) und Ehemann der Klägerin zu 2) war in der heutigen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) von August 1948 bis zu seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland am 17. Juni 1954 Angehöriger der Volkspolizei, seit 1. März 1953 im Rang eines Offiziers.
Die Beklagte rechnete bei den den Klägerinnen bewilligten Hinterbliebenenrenten zunächst die Zeit der Zugehörigkeit des Versicherten zur Volkspolizei lediglich bis zum 31. Dezember 1951 als Beitragszeit im Sinne des Fremdrentenrechts an (Bescheide vom 15. Januar und 12. Februar 1971). Auf die hiergegen erhobenen Klagen berücksichtigte die Beklagte außerdem die Zeit vom 1. Januar 1952 bis 28. Februar 1953 durch ein von den Klägerinnen angenommenes Teilanerkenntnis. Für die anschließende Zeit falle der Versicherte unter die Versorgungsregelung für Offiziere der DDR vom 28. Februar 1953. Diese stelle ein System zur Sicherung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst dar. Die im streitigen Zeitraum entrichteten, an den Versorgungsfonds des Ministeriums des Innern abgeführten, vom Gesamteinkommen des Versicherten einbehaltenen Abzüge, die die im Sozialversicherungsrecht der DDR geltende Beitragsbemessungsgrenze von 600,- Ostmark überschritten hätten, seien insgesamt nicht als Beiträge im Sinne von § 15 FRG zu bewerten.
Die Klagen hatten in den beiden Vorinstanzen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Beklagten gegen das zusprechende Urteil des Sozialgerichts (SG) im wesentlichen mit folgender Begründung zurück: Es müsse davon ausgegangen werden, daß der Versicherte von der Versorgungsordnung vom 28. Februar 1953 erfaßt worden sei. Dafür spreche, daß für ihn nach einer Bescheinigung des FDGB der volle Verdienst von monatlich 1.000,- Ostmark der Versicherungspflicht unterlegen habe, während für Beiträge zur allgemeinen gesetzlichen Rentenversicherung der DDR die Beitragsbemessungsgrenze von 600,- Ostmark monatlich zu beachten gewesen wäre. Es müsse auch angenommen werden, daß die Versorgungsordnung vom 28. Februar 1953 für die Offiziere der Volkspolizei die günstige Versorgungsregelung für alle Angehörigen der Volkspolizei entsprechend den Vorschriften in der Versorgungsordnung vom 1. Juli 1954 vorweggenommen habe. Zwar seien im streitigen Zeitraum für den Versicherten Beiträge an den beim Ministerium des Innern der DDR eingerichteten Versorgungsfonds und damit an ein Sicherungssystem abgeführt worden, das gemäß § 15 Abs. 2 Satz 3 FRG nicht als gesetzliche Rentenversicherung im Sinne des § 15 Abs. 1 FRG in Betracht kommen könne. Gleichwohl müsse die Beklagte die streitige Zeit als Beitragszeit im Sinne des § 15 Abs. 1 FRG berücksichtigen, weil der Versicherte durch seine Flucht in die Bundesrepublik Deutschland nicht nur Versorgungsansprüche, sondern auch Rechte gegen den Träger der gesetzlichen Rentenversicherung in der DDR verloren habe. Dies ergebe sich aus den Vorschriften der §§ 30 und 31 der Versorgungsordnung, wonach die vor Erreichen der Altersgrenze - außer in Rentenfällen - ausscheidenden Angehörigen der Volkspolizei wieder von der Sozialversicherung der DDR betreut, die vor Eintritt in die Volkspolizei erworbenen Rechte bei der Sozialversicherung wieder aufleben und die Dienstzeiten bei der Volkspolizei rentensteigernd berücksichtigt würden. Sie seien aber auch rentensteigernd anrechenbar, wenn der Angehörige der Volkspolizei aus der Sicht der DDR unehrenhaft aus dem Dienst ausscheide. Zwar schreibe § 32 der Versorgungsordnung insoweit vor, daß die Vergünstigungen der Versorgungsordnung entfallen. Dies bedeute aber nicht, daß eine rentenmäßige Berücksichtigung der Dienstzeiten aus Gründen unehrenhaften Ausscheidens ausgeschlossen sei. Vielmehr entfalle - wie auch aus der 1. Durchführungsbestimmung zu § 31 der Versorgungsordnung erhelle - nur die durch die Versorgungsordnung eingeräumte Vergünstigung, daß anstelle des versicherungspflichtigen Jahresverdienstes die vollen, die Pflichtversicherungsgrenze überschreitenden Dienstbezüge einer künftigen Rentenberechnung zugrunde gelegt würden. Hieraus folge im Ergebnis, daß die Dienstzeit der ausgeschiedenen Angehörigen der Volkspolizei als Versicherungszeit der DDR gelte. Durch die vom SG und LSG eingeholten Auskünfte werde darüber hinaus auch bestätigt, daß die Verwaltungsträger der DDR Dienstzeiten bei der Volkspolizei als Versicherungszeiten behandeln. Die Ausführungen zur Versorgungsordnung vom 1. Juli 1954 seien nach Überzeugung des Senats auch für die rechtliche Beurteilung der vor Erreichen der Altersgrenze unter dem Geltungsbereich der Versorgungsordnung vom 28. Februar 1953 ausgeschiedenen Offiziere maßgeblich. Die Anrechnung der fraglichen Zeit als Beitragszeit nach § 15 Abs. 1 FRG scheitere nicht daran, daß Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung der DDR nicht entrichtet worden seien und auch eine - dem bundesdeutschen Recht vergleichbare - Nachversicherung nicht stattgefunden habe. Die Vorschrift des § 15 Abs. 1 FRG schließe die Anrechnung einer beitragsfreien Versicherungszeit nicht aus. Die dem inländischen Recht eigentümliche enge Verbindung von Beitrag und Rentenanspruch sei bei fremden Versicherungssystemen nicht notwendig zu fordern. Für die Anerkennung einer Beitragszeit im Sinne des § 15 Abs. 1 FRG sei - wie das Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 10. Dezember 1971 - 11 RA 64/71 - ausgeführt habe - jede auf Versicherungspflicht beruhende Zugehörigkeit zu einer Versicherungseinrichtung ausreichend, die den Anforderungen des § 15 Abs. 2 Satz 1 FRG genüge und durch ein irgendwie geartetes Beitragssystem finanziert werde. Den an eine gesetzliche Rentenversicherung nach § 15 Abs. 2 FRG zu stellenden Anforderungen genüge die - für den Versicherten in der streitigen Zeit hier zuständige - Rentenversicherung der DDR, wie sich bereits aus § 1 Nr. 1 der Verordnung über die Anerkennung von Systemen und Einrichtungen der sozialen Sicherheit als gesetzliche Rentenversicherung vom 11. November 1960 ergebe (Urteil vom 30. Januar 1976).
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 15 FRG durch das Berufungsgericht.
Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG Hamburg vom 2. Juli 1973 die Klagen abzuweisen.
Die Klägerinnen beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Das LSG ist davon ausgegangen, daß der Versicherte im streitigen Zeitraum als damaliger Offizier der Volkspolizei von der Versorgungsordnung vom 28. Februar 1953 erfaßt wurde und diese die günstige Versorgungsregelung für alle Angehörigen der Volkspolizei in der Versorgungsordnung vom 1. Juli 1954 vorweggenommen hat. Es hat insoweit angenommen, daß die §§ 30, 31 und 32 der Versorgungsordnung vom 1. Juli 1954 auch für die rechtliche Beurteilung der vor Erreichen der Altersgrenze unter dem Geltungsbereich der Versorgungsordnung vom 28. Februar 1953 ausgeschiedenen Offiziere gelten. Durch Auslegung dieser Vorschriften ist das LSG sodann zu der Auffassung gelangt, daß die aus dem Dienst der Volkspolizei ausgeschiedenen Personen hinsichtlich der dort zurückgelegten Dienstzeiten bei der gesetzlichen Rentenversicherung der DDR pflichtversichert sind, weil die Dienstzeiten nach dem Ausscheiden gemäß den angeführten Rechtsvorschriften der DDR ohne Durchführung einer dem bundesdeutschen Recht vergleichbaren Nachversicherung als Versicherungszeiten gelten.
An dieser Entscheidung des Berufungsgerichts über Bestehen und Inhalt des DDR-Rechts ist das Revisionsgericht gebunden, weil es sich hierbei um nichtrevisibles Recht handelt (§ 162 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und das Zustandekommen dieser Entscheidung nicht wie eine Tatsachenfeststellung mit Revisionsrügen angegriffen worden ist (vgl. hierzu BSG-Urteil vom 17.1.1973 - 11 RA 34/72 -, insoweit in SozR Nr. 6 zu § 1 FRG nicht abgedruckt). Desgleichen ist dem Revisionsgericht eine von der Entscheidung des LSG abweichende Auslegung des nichtrevisiblen Rechts verwehrt; es ist insoweit an die rechtlichen Schlußfolgerungen des LSG ebenso gebunden wie nach § 163 SGG an die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts (so bereits Urteil des erkennenden Senats vom 3.10.1973 in SozR Nr. 19 zu § 15 FRG unter Bezugnahme auf BSGE 25, 20, 23 und das dort angegebene Schrifttum).
Bei dieser für das Revisionsgericht bestehenden Bindung hat das LSG unter Berufung auf das Urteil des BSG vom 10. Dezember 1971 (SozR Nr. 16 zu § 15 FRG) zu Recht entschieden, daß auch ohne besondere Nachentrichtung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung der DDR die Zeit vom 1. März 1953 bis 17. Juni 1954 als weitere nachgewiesene Beitragszeit des Versicherten gemäß § 15 Abs. 1 FRG bei den den Klägerinnen zustehenden Hinterbliebenenrenten zu berücksichtigen ist. Nach der genannten Entscheidung des BSG ist in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift auch eine nach dem Recht der DDR beitragsfreie, aber auf Versicherungspflicht beruhende Zugehörigkeit zu einer Versicherungseinrichtung im Sinne des § 15 Abs. 2 Satz 1 FRG, deren Anforderungen die gesetzliche Rentenversicherung der DDR genügt (vgl. § 1 Nr. 1 der Verordnung vom 11.11.1960, BGBl I 849), einzubeziehen. Der erkennende Senat hat sich diese Rechtsauffassung bereits im Urteil vom 3. Oktober 1973 aaO zu eigen gemacht und im Urteil vom 31. August 1977 - Az.: 1 RA 155/75 - eingehend begründet, weshalb für ihn kein Anlaß besteht, die von der Beklagten bekämpfte Rechtsprechung des BSG aufzugeben.
Der Meinung der Beklagten, das LSG hätte sich auf das Urteil des BSG vom 10. Dezember 1971 aaO nicht stützen dürfen, weil der Versicherte während seiner Dienstzeit als Offizier bei der Volkspolizei der DDR einem die Anrechnung einer Beitragszeit nach § 15 Abs. 1 FRG ausschließenden Sicherungssystem im Sinne des Absatzes 2 Satz 3 der Vorschrift angehört habe, kann nicht gefolgt werden. Die Beklagte übersieht, daß das LSG - für das Revisionsgericht bindend - aus den eingangs angeführten Rechtsvorschriften der DDR die nach dem Urteil des BSG vom 10. Dezember 1971 maßgebliche Zugehörigkeit des Versicherten zur gesetzlichen Pflichtversicherung für den streitigen Zeitraum hergeleitet hat. Insoweit kann nur rechtserheblich sein, daß die Versicherten nach dem Ausscheiden aus dem Dienst der Volkspolizei für die bis dahin verbrachte Dienstzeit aufgrund dort geltender Rechtsvorschriften mit Wirkung ex tunc von einer gesetzlichen Rentenversicherung im Sinne des § 15 Abs. 2 Satz 1 FRG erfaßt werden.
Wenn die Beklagte in diesem Zusammenhang vom Versicherten "zurückgelegte" Beitragszeiten im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 FRG vermißt, so liegen diese im streitigen Zeitraum vor, weil im Rahmen dieser Vorschrift der Begriff der Beitragszeiten nicht - wie die Beklagte meint - auf tatsächlich entrichtete Beiträge beschränkt ist. Wie der erkennende Senat im Urteil vom 31. August 1977 aaO im einzelnen dargelegt hat, kann der Begriff der zurückgelegten Beitragszeiten in § 15 Abs. 1 Satz 1 FRG nicht anders verstanden werden als in der Legaldefinition der §§ 1250 Abs. 1 Buchst. a der Reichsversicherungsordnung, 27 Abs. 1 Buchst. a des Angestelltenversicherungsgesetzes. Danach sind Beitragszeiten aber nicht nur solche, für die Beiträge wirksam entrichtet sind, sondern auch solche, für die Beiträge als entrichtet gelten. Für diese Fiktion kann aber im Rahmen des § 15 Abs. 1 Satz 1 FRG - ebenso wie für die andere Alternative der Beitragszeit in Form der Beitragsentrichtung - nicht entscheidend sein, ob sie nach Reichs- oder Bundesrecht wirksam wäre. Vielmehr muß auch bei der Beitragszeit in Form einer gesetzlich fingierten Beitragsentrichtung von dem Recht des Staates ausgegangen werden, in dem die Zeit zurückgelegt worden ist. Entgegen der Ansicht der Beklagten kann deshalb die zurückgelegte Beitragszeit im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 FRG nicht davon abhängen, ob die Beiträge des Versicherten nach dem Ausscheiden aus dem Dienst der Volkspolizei vom Versorgungsfonds an die allgemeine Sozialversicherung überwiesen worden sind, weil nach den bindenden Feststellungen des LSG über das Recht der DDR eine derartige, dem im Bundesgebiet geltenden Nachversicherungsrecht vergleichbare Regelung, für die rechtsgültige Fiktion einer wirksamen Beitragszeit bei der gesetzlichen Rentenversicherung der DDR im Falle des Ausscheidens aus dem Dienst der Volkspolizei für die dort verbrachten Zeiten gerade nicht erforderlich ist.
Nach alledem hat das LSG zutreffend und im Einklang mit der aufgezeigten Rechtsprechung des BSG die im Rahmen einer gesetzlichen Rentenversicherung im Sinne des § 15 Abs. 2 Satz 1 FRG ohne Beitragsentrichtung als Beitragszeit geltende Zeit vom 1. März 1953 bis 17. Juni 1954 in die Gleichstellungsvorschrift des § 15 Abs. 1 Satz 1 FRG einbezogen. Der Revision der Beklagten muß somit der Erfolg versagt bleiben.
Die Entscheidung über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen