Entscheidungsstichwort (Thema)
Beiladung der Einvernehmungsstelle im sozialgerichtlichen Verfahren notwendig
Leitsatz (redaktionell)
Hat der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung vor einer Entscheidung das Einvernehmen einer anderen Stelle herbeizuführen, so ist diese Stelle im sozialgerichtlichen Verfahren notwendig beizuladen.
Beteiligte
Klägerin und Revisionsklägerin |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I
Die Klägerin, ein Elektrizitätsversorgungsunternehmen, erstrebt die Herabsetzung der Einsatzzeit ihres Betriebsarztes um die Hälfte. Ihr bei der Beklagten gestellter Antrag vom 12. Februar 1979 wurde durch Bescheid vom 1. März 1979 abgelehnt, weil die bestehenden Unfallgefahren die Herabsetzung nicht rechtfertigten; die Klägerin habe in den letzten drei Umlagejahren nicht den höchstmöglichen Beitragsnachlaß erhalten. Der hiergegen gerichtete Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 11. Mai 1979).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. Mai 1980). Die in den Unfallverhütungsvorschriften "Betriebsärzte" (UVV-Betriebsärzte) der Beklagten enthaltene Härteklausel stelle die Herabsetzung der Einsatzzeit unter den in § 2 genannten Voraussetzungen in das Ermessen der Beklagten; deren Entscheidung sei ermessensfehlerfrei ergangen.
Die hiergegen eingelegte Berufung ist zurückgewiesen worden (Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts - LSG - vom 6. Juli 1982). Die UVV-Betriebsärzte der Beklagten entspreche der in § 708 Abs. 1 Ziff. 4 Reichsversicherungsordnung (RVO) erteilten Ermächtigung. Die Orientierung an der Höhe des Beitragsnachlasses sei im Falle der Herabsetzung der Einsatzzeit von Betriebsärzten sachgerecht. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Nach ihrer Überzeugung hätte das LSG konkret überprüfen müssen, ob die Unfall- und Gesundheitsgefahren im Betrieb der Klägerin unterdurchschnittlich gering sind (§ 2 Abs. 3 UVV-Betriebsärzte). Hierzu reiche es nicht aus, den Beitragsnachlaß der letzten drei Umlagejahre heranzuziehen. Schon die UVV-Betriebsärzte der Beklagten enthalte in § 2 Abs. 3 eine von der Ermächtigungsnorm nicht getragene Pauschalierung, weil die Verhältnisse im konkreten Einzelfall nicht genügend berücksichtigt würden. Das in diesem Zusammenhang von ihr Vorgebrachte habe das LSG nicht genügend beachtet.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Bayerischen Landessozialgerichts vom 6. Juli 1982 sowie des Urteils des Sozialgerichts Augsburg vom 9. Mai 1980 und des Bescheides der Beklagten vom 1. März 1979 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 1979 zu verpflichten, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Nach ihrer Überzeugung sind die von ihr erlassenen UVV-Betriebsärzte nicht zu beanstanden. Sie habe dieses Satzungsrecht auch ermessensfehlerfrei angewendet.
II
Die Revision der Klägerin ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -); denn die zuständige Gewerbeaufsichtsbehörde, deren Einvernehmen für den Fall der Herabsetzung der Einsatzzeit des bei der Klägerin tätigen Betriebsarztes erforderlich gewesen wäre, war zum Verfahren notwendig beizuladen (§ 75 Abs. 2 Alternative 1 SGG). Dies ist unterlassen worden. Der hierin liegende Verfahrensmangel ist von Amts wegen zu beachten (BSG SozR 1500 § 75 Nrn. 1 und 21).
Die Beiladung ist nach § 75 Abs. 2 Alternative 1 SGG notwendig, wenn an dem streitigen Rechtsverhältnis Dritte derart beteiligt sind, daß die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Dies ist gegeben, wenn die im Rechtsstreit zu erwartende Entscheidung über das streitige Rechtsverhältnis zugleich in die Rechtssphäre eines Dritten unmittelbar eingreift (ständige Rechtsprechung: s. u.a. BSG SozR 1500 § 75 Nrn. 8, 15, 21, 34 m.w.N.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Gemäß § 717 RVO regelt der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung das Zusammenwirken der Berufsgenossenschaften und der Arbeitsschutzbehörden der Länder - Gewerbeaufsichtsbehörden -. Diese Regelung ist in der Form der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift vom 26. Juli 1968 (Bundesanzeiger 1968 Nr. 142 vom 2. August 1968 S. 1) getroffen worden. Nach § 6 Abs. 1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift hat der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung der Gewerbeaufsichtsbehörde Gelegenheit zur Äußerung zu geben, wenn er beabsichtigt, eine Maßnahme zu treffen, die für den Aufgabenbereich dieser Behörde von erheblicher Bedeutung sein kann. Dies gilt insbesondere, wenn beabsichtigt ist, von einer Vorschrift eine Ausnahme zu bewilligen.
Die zuständigen Landesbehörden haben gemäß § 12 Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit vom 12. Dezember 1973 (BGBl. I 1885 -ASiG-) die gebotenen Anordnungen gegenüber dem Arbeitgeber in dem dort genannten Rahmen zu treffen (vgl. Dittmeier/Krämmer, Arbeitssicherheitsrecht, 2. Aufl., § 12 Anm. 1; Graeff, Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit, 2. Aufl. 1979, § 13 Anm. 1; Giese/Ibels/Rehkopf, Gesetz über Betriebsärzte und Sicherheitsingenieure, 2. Aufl., § 12 Randnote 2; Kliesch/Nöthlichs/Wagner, Arbeitssicherheitsgesetz 1978, § 12 Anm. 3; Krebs/Asanger/Florian/Franz/Gönner/Sohnius, Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit, § 12 B 2). § 717 RVO und die sich hieraus ergebenden weiteren Normen sind Ausdruck des Zusammenwirkens der Berufsgenossenschaften und der Arbeitsschutzbehörden der Länder bei der Durchführung des ASiG.
Die Beklagte hat folgerichtig für den Fall der Herabsetzung der Einsatzzeit des Betriebsarztes im Einzelfall in § 2 Abs. 3 Satz 1 ihrer UVV-Betriebsärzte festgelegt, daß das Einvernehmen der zuständigen Arbeitsschutzbehörde einzuholen ist. Diese Regelung der Beklagten hätten SG und LSG beachten und die zuständige Landesbehörde beiladen müssen. Der Gewerbeaufsichtsbehörde ist durch die zuvor genannten Vorschriften wegen ihres weitgehend gleichgerichteten Interesses an einer wirksamen Unfallverhütung nach dem ASiG eine Berechtigung eingeräumt worden. Dadurch ist sie an dem Rechtsverhältnis zwischen der Klägerin und der Beklagten insbesondere deshalb beteiligt, weil hier im Einzelfall von einer der Unfallverhütung dienenden Regelung eine Ausnahme gemacht werden soll (vgl. BVerwGE 42, 8, 10 bis 12 m.w.N. für den Fall des notwendigen Einvernehmens einer Gemeinde nach § 36 Abs. 1 Satz 1 des Bundesbaugesetzes - BBauG -). Ein der Klage stattgebendes Urteil hätte die Rechtssphäre der Gewerbeaufsichtsbehörde unmittelbar berührt, weil die aus sachlichen Gründen vorgesehene Beteiligung dieser Behörde übergangen worden wäre.
Die Notwendigkeit der Beiladung ist nicht deshalb entfallen, weil auch das LSG der Klage nicht stattgegeben hat. Das Institut der Beiladung soll es einem Dritten ermöglichen, in einem anhängigen Rechtsstreit für den Kläger oder Beklagten mitzustreiten und durch eigene Prozeßhandlungen auf die Entscheidung des Gerichts Einfluß zu nehmen, weil seine berechtigten Interessen durch die Entscheidung berührt werden oder die Entscheidung auch ihm gegenüber nur einheitlich ergehen kann (vgl. BSGE 2, 289, 290; Peters/Sautter/Wolff, Sozialgerichtsgesetz, 4. Aufl., § 75 Anm. 1 - Seite 258/8 - 25). Die Beiladung dient somit nicht nur den Interessen des Beigeladenen, sondern auch der umfassenden Aufklärung des streitigen Sachverhalts und der erschöpfenden rechtlichen Erörterung und damit der Prozeßökonomie (Peters/Sautter/Wolff a.a.O.; Schäfer, Die Beiladung im Sozialgerichtsverfahren, 1983, Seite 46 ff.). Deshalb soll sie so früh als möglich erfolgen (Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl. 1981, § 75 Rdnr. 14; Peters/Sautter/Wolff a.a.O. § 75 Anm. 6 Buchst. e; Rohwer-Kahlmann, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl., § 75 Rdnr. 110). Daraus folgt aber bereits, daß die Notwendigkeit einer Beiladung nicht davon abhängig sein kann, wie die Entscheidung ausfällt; denn die Beiladung hat in einem Zeitpunkt zu erfolgen, in dem prozeßrechtlich noch nicht feststeht, wie das Gericht entscheiden wird, der noch Beizuladene vielmehr auf die Entscheidung Einfluß nehmen soll. Es ist zudem auch im vorliegenden Fall nicht zu unterstellen, daß die Arbeitsschutzbehörde ein rechtliches Interesse lediglich an einer Klageabweisung haben kann. Auch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat die Beiladung einer höheren Verwaltungsbehörde, die der beantragten Baugenehmigung der Klägerin zustimmen mußte, für notwendig erachtet und das Urteil den Verwaltungsgerichts wegen der unterbliebenen notwendigen Beiladung aufgehoben, obgleich das Berufungsgericht die Klage abgewiesen hatte (s. BVerwG Buchholz 406.11 § 35 Nr. 127; s. auch BSG SozR 1500 § 75 Nr. 39).
Da es im Revisionsverfahren unzulässig ist, die unterbliebene Beiladung nachzuholen (§ 168 SGG), mußte das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen werden. Zu der Frage, ob eine auf den Einzelbetrieb zugeschnittene Einsatzzeit von Betriebsärzten überhaupt erreichbar ist und es den Berufsgenossenschaften zugemutet werden kann, diese bis ins einzelne festzustellen, könnte der Forschungsbericht "Betriebliche Tätigkeiten und Zeitwerte für deren Durchführung" des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom Oktober 1979 möglicherweise Anhaltspunkte erhalten.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.2 RU 65/82
Bundessozialgericht
Verkündet am
31. August 1983
Fundstellen