Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 18.02.1987; Aktenzeichen L 11 Kr 41/83) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. Februar 1987 – L 11 Kr 41/83 – aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob die klagende Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) oder die beklagte Innungskrankenkasse (IKK) der zuständige Krankenversicherungsträger der pflichtversicherten Arbeitnehmer des Bekleidungsunternehmens B. …, der Beigeladenen zu 1) und 4) ist.
Der Beigeladene zu 4) betreibt als Kaufmann und Schneidermeister in H. … 2 ein Bekleidungsunternehmen, zum Teil als Komplementär einer Kommanditgesellschaft, zum Teil als Handelsgewerbe eines Einzelkaufmannes. Während die Kommanditgesellschaft Damenbekleidung herstellt, wird über den Handelsbetrieb Damenund Herrenbekleidung verkauft.
Seit dem 10. Februar 1966 ist der Beigeladene zu 4) in die Handwerksrolle der Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe eingetragen und wird mit einem 80%-igen Handwerkskammerbeitrag veranlagt. Mit seinem Produktionsbetrieb ist er auch Mitglied der Innung für das Bekleidungshandwerk in G. …, der Trägerinnung der Beklagten. Das Bekleidungsunternehmen B. … ist Mitglied der Industrieund Handelskammer Ostwestfalen. Die Arbeitnehmer des Bekleidungsunternehmens B. … sind, soweit sie nicht Mitglieder einer Ersatzkasse sind, bei der Beklagten versichert.
Die Klägerin vertritt die Auffassung, aus dem früheren Handwerksbetrieb sei inzwischen ein Fabrikationsbetrieb und ein Handelsunternehmen geworden. Diese Änderung in der Unternehmensstruktur bedinge einen Wechsel in der Kassenzuständigkeit. Demgegenüber sind die Beklagte und die Beigeladenen zu 1) und 3) der Auffassung, daß das Bekleidungsunternehmen B. … die Damenoberbekleidung weiterhin auf handwerkliche Weise herstelle und deshalb kein Wechsel in der Kassenzuständigkeit eingetreten sei.
Die Klage auf Feststellung, daß die klagende AOK der zuständige Versicherungsträger sei, blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- Detmold vom 6. Mai 1983). Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) festgestellt, daß die versicherungspflichtig Beschäftigten der Beigeladenen zu 1) sowie des Einzelunternehmens Bekleidungsfabrik Heiner B. … (Beigeladener zu 4)) Pflichtmitglieder der Klägerin sind. Es hat zur Begründung ausgeführt, zwar hätten die Versicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht zu prüfen, ob die Eintragung in die Handwerksrolle und die Mitgliedschaft in der Trägerinnung zu Recht bestehe, doch habe die Tatbestandswirkung der Eintragung in die Handwerksrolle und die Mitgliedschaft in der Trägerinnung auch ihre Grenzen. Sie müsse dann entfallen, wenn der Betrieb in vollem Umfang von der handwerklichen Fertigung zur industriellen Produktion übergegangen sei. Dies treffe auf den einheitlichen Gesamtbetrieb zu. Hierfür spreche auch, daß das Unternehmen der Industrie- und Handelskammer angehöre. Die Auszubildenden müßten ihre Prüfungen vor der Industrie- und Handelskammer ablegen.
Gegen diese Rechtsauffassung wendet sich die Beklagte mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision. Sie rügt die Verletzung der §§ 250 Abs 1 und 2 und 234 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und trägt dazu vor, maßgebend sei die Eintragung eines Betriebsinhabers in die Handwerksrolle. Hierbei hätten die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht zu prüfen, ob diese Eintragung sowie die Aufnahme in eine Trägerinnung zu Recht erfolgt sei. Die Entscheidungskompetenz für die Eintragung in die Handwerksrolle hätten allein die Handwerkskammern. Von diesem Grundsatz könne allenfalls dann abgegangen werden, wenn ein Betrieb zu einem anderen Gewerbe übergegangen sei als das, für das eine Eintragung in die Handwerksrolle bestehe. Der Einsatz moderner Produktionsmethoden stehe der Eigenschaft eines Handwerksbetriebes nicht entgegen. Schließlich sei der Sachverhalt nur unzureichend aufgeklärt worden. Bei der Betriebsbesichtigung im Rahmen der Beweisaufnahme durch das LSG sei nicht beachtet worden, daß in dem Betrieb auch Schneiderinnen arbeiteten, die die dort zum Verkauf angebotenen Waren noch den individuellen Wünschen der Kunden anpassen würden.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. Februar 1987 – Az.: L 11 Kr 41/83 – die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt vor, eine Eintragung in die Handwerksrolle könne ohne weiteres weiter bestehen, obwohl die gewerbliche Betätigung nicht oder nicht mehr in handwerklicher Weise erfolge. Dies sei hier eindeutig. Bei einem Mischbetrieb wie im vorliegenden Falle sei die Handwerksrolleneintragung ohnehin nicht das allein entscheidende Kriterium für die Kassenzuständigkeit. Nach der Neuregelung der §§ 41, 157 und 175 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) komme es weniger auf die Eintragung in die Handwerksrolle als darauf an, daß es sich um einen „Handwerksbetrieb” handele.
Die Beigeladenen stellen keine Anträge.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.
Nach § 250 RVO kann eine Innung, deren Mitglieder in die Handwerksrolle eingetragen sind, eine IKK errichten, der die in den Betrieben der Innungsmitglieder beschäftigten Versicherungspflichtigen angehören. Diese Vorschrift ist bis zum Inkrafttreten des SGB V (1. Januar 1989) anzuwenden. Nach § 157 SGB V können IKKen für Handwerksbetriebe der Innungsmitglieder, die in die Handwerksrolle eingetragen sind, errichtet werden. Nach § 175 SGB V gehören Versicherungspflichtige, die in einem Handwerksbetrieb eines Mitglied einer Handwerksinnung beschäftigt sind, der IKK an. Diese Neuregelung entspricht inhaltlich weitgehend dem früheren Recht (vgl BT-Drucks Nr 200/88 vom 29. April 1988 zu § 184). Eine Änderung der Rechtslage war ersichtlich nicht beabsichtigt. Sie ergibt sich auch nicht aus der Formulierung „Handwerksbetrieb”, weil das Gesetz hierfür keine besonderen Zuordnungskriterien nennt. Zur Bestimmung des Handwerksbetriebes muß deshalb auch weiterhin auf allgemeine Merkmale zurückgegriffen werden, zu denen die Eintragung in die Handwerksrolle zählt. Nach den Feststellungen des LSG ist der Beigeladene zu 4) in die Handwerksrolle eingetragen und Mitglied der Trägerinnung der Beklagten. Streitig ist, ob der Handwerksbetrieb im Laufe der Zeit zur industriellen Fertigung übergegangen ist und deswegen für die Frage der Kassenzuständigkeit nicht auf die Eintragung in die Handwerksrolle und die Mitgliedschaft in der Trägerinnung zurückgegriffen werden darf. Auszugehen ist dabei davon, daß es sich bei dem Betrieb nach den bindenden Feststellungen des LSG um einen einheitlichen Gesamtbetrieb handelt, daß nämlich der Produktionsbetrieb und der Handelsbetrieb räumlich und organisatorisch eine Einheit bilden.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG-Urteil vom 22. April 1986 – 8 RK 4/85 – = SozR 2200 § 250 Nr 12 mwN) hat eine Eintragung in die Handwerksrolle für die sozialversicherungsrechtlichen Folgen Tatbestandswirkung, es sei denn, sie ist erkennbar nichtig. In diese Richtung geht auch die Rechtsprechung des BSG zur Versicherungspflicht eines Handwerkers nach § 1 des Handwerkerversicherungsgesetzes (HwVG) aufgrund der Eintragung in die Handwerksrolle (Urteil vom 26. Mai 1977 – 12/3 RK 29/75 = SozR 5800 § 1 Nr 1 S 3) sowie zum Ausschluß des Anspruchs auf Erwerbsunfähigkeitsrente (EU-Rente) nach § 1247 Abs 2 letzter Satz RVO wegen der Eintragung des Handwerkers in die Handwerksrolle (Urteil vom 10. August 1982 – 4 RJ 19/81 = SozR 2200 § 1247 Nr 37 S 75 f).
Diese Grundsätze müssen im Interesse der Rechtseinheit und Rechtssicherheit auch für die Kassenzuständigkeiten gelten. Anderenfalls könnte ein Handwerker wegen seiner Eintragung in die Handwerksrolle beitragspflichtig in der Rentenversicherung sein, ohne im Falle der Erwerbsunfähigkeit einen Anspruch auf EU-Rente zu haben, auf der anderen Seite aber könnten er und seine Mitarbeiter nicht einer IKK angehören, weil insoweit die Eintragung in die Handwerksrolle unbeachtlich ist. Umgekehrt sind die Sozialversicherungsträger auch daran gebunden, wenn ein Handwerksmeister zu Unrecht nicht in die Handwerksrolle eingetragen wird, weil es sich bei seinem Betrieb angeblich um ein Industrieunternehmen handelt. In allen diesen Fällen liegt die Entscheidungskompetenz bei den Handwerkskammern. Ihre Entscheidungen können von den Ortskrankenkassen nicht mit der Klage vor den Verwaltungsgerichten angegriffen werden, weil die Kassen hierdurch nicht in ihren Rechten verletzt sind (vgl Siegert-Musielak, Das Recht des Handwerks, 2. Aufl, 1984, § 12 HwO, Rdn 10 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit).
Es steht auch nicht im Belieben eines Handwerkers, sich in die Handwerksrolle eintragen oder dort löschen zu lassen. Handelt es sich um einen Handwerksbetrieb, so muß der Inhaber nach § 1 Abs 1 der Handwerksordnung (HwO) in die Handwerksrolle eingetragen sein. Hierfür muß er besondere persönliche Voraussetzungen erfüllen (§§ 7 ff HwO). Wird ein Gewerbe handwerksmäßig betrieben, so kann es nach Löschung des Inhabers in der Handwerksrolle von diesem nicht mehr weiterbetrieben werden. Wird ein Gewerbe nicht mehr handwerksmäßig betrieben, so wird die Eintragung in die Handwerksrolle auf Antrag oder von Amts wegen gelöscht (§§ 13, 14 HwO). Die hierzu notwendigen Ermittlungen obliegen der Handwerkskammer (§ 17 HwO).
Der Senat hält aus den vorstehenden Gründen an der Tatbestandswirkung der Eintragung in die Handwerksrolle fest. Der Aufnahme in die Innung kommt dieselbe Wirkung zu. Aus den Gründen, die für die Tatbestandswirkung sprechen, ergibt sich auch, daß bei der Anwendung des § 157 SGB V bei Eintragung in die Handwerksrolle und Aufnahme in die Trägerinnung von einem Handwerksbetrieb auszugehen ist. Die Tatbestandswirkung hat allerdings Grenzen. Sie erstreckt sich nicht darauf, daß das Gewerbe, mit dem eine Person in die Handwerksrolle eingetragen und in eine Trägerinnung aufgenommen ist, nur einen unselbständigen Teil eines Gesamtbetriebes darstellt. Hier besagt die Eintragung nichts darüber, welches Gewerbe dem Gesamtbetrieb das Gepräge gibt (BSG SozR 2200 § 250 RVO Nr 12). Ein solcher Fall liegt aber nach den Feststellungen des LSG nicht vor.
In seinem Urteil vom 10. Dezember 1985 (8 RK 3/85 = KVRS A 4000/19) hat das BSG noch offengelassen, ob die Tatbestandswirkung der Eintragung in die Handwerksrolle unbeachtlich ist, wenn ein Handwerksbetrieb zur industriellen Produktion übergeht. Der Senat geht davon aus, daß die Tatbestandswirkung auch in diesem Fall zunächst bestehen bleibt. Auch nach einer solchen Änderung, die hier das LSG angenommen hat, ist der Inhaber mit dem ganzen Betrieb eingetragen und Mitglied der Innung; der fortbestehenden Eintragung in die Handwerksrolle kann entnommen werden, daß es sich noch um einen Handwerksbetrieb handelt. Im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtseinheit ist jedoch zu fordern, daß die Tatbestandswirkung erst bei offensichtlicher Unrichtigkeit entfällt (BSG SozR 2200 § 250 RVO Nrn 11 und 12). Dann besteht auch die eindeutige Möglichkeit der Löschung der Eintragung nach § 13 HwO mit ihren Folgen für alle Rechtsbereiche. Bei fehlender Offensichtlichkeit könnte hingegen der Fall eintreten, daß ein Betrieb gewerbe- und rentenversicherungsrechtlich als Handwerksbetrieb, für die Kassenzuständigkeit dagegen als Industriebetrieb gilt. Vergleichbare Folgen könnten sich auch aus der Nichteintragung oder Löschung in der Handwerksrolle ergeben.
Auch das LSG geht von der Tatbestandswirkung der Eintragung in die Handwerksrolle aus. Allerdings beschränkt es sich nicht auf die Ermittlung der offensichtlichen Unrichtigkeit, sondern dehnt den Kreis der Ausnahmen von der Tatbestandswirkung zu weit aus. Die aufgrund der Betriebsbegehung getroffenen Feststellungen mögen Anhaltspunkte dafür bieten, daß es sich bei dem Betrieb des Beigeladenen zu 4) offensichtlich nicht mehr um einen Handwerksbetrieb handelt. Eine abschließende Beurteilung kann jedoch nicht allein auf das Ergebnis dieser Betriebsbegehung gestützt werden. Im Interesse der Rechtseinheit und der Rechtssicherheit ist eine weitere Sachaufklärung erforderlich. Von Bedeutung ist, von welchen Maßstäben sich die Organisationen der Wirtschaft – Handwerkskammern, Industrie- und Handelskammern, aber auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände –, unter Beachtung einer gefestigten Rechtsprechung für die Zuordnung eines Betriebes zum Handwerk leiten lassen. Hierbei ist schon nicht sicher, welche Bedeutung die Betriebsgröße sowie die Beschäftigung ungelernter Kräfte einnehmen „Großhandwerk” – vgl BAG-Urteil vom 11. März 1981 – 4 AZR 1022/78). Von größerer Bedeutung kann demgegenüber sein, ob und in welchem Umfang der Arbeitsablauf von einem Handwerksmeister organisiert und überwacht wird. Von Bedeutung kann auch sein, ob es spezielle Tarifverträge für Industrie und Handwerk gibt und welcher Tarifvertrag für einen Betrieb wie der des Beigeladenen zu 4) gilt (vgl BAG aaO). Insgesamt wird das LSG die im Wirtschaftsleben herrschenden Abgrenzungsmerkmale ermitteln und für seine Feststellungen zu dem Betrieb des Beigeladenen zu 4) auswerten müssen. Dabei ist zumindest nicht auszuschließen, daß nach diesen Maßstäben der einheitliche Gesamtbetrieb des Beigeladenen zu 4) noch dem Handwerk zugeordnet werden kann. Ohne eine Stellungnahme der Handwerkskammer zur Frage der Löschung von Amts wegen sollte die offensichtliche Unrichtigkeit der Eintragung nur ausnahmsweise festgestellt werden. Ergibt sich allerdings, daß nach den in der Wirtschaft herrschenden Maßstäben der Betrieb des Beigeladenen zu 4) seinen Charakter als Handwerksbetrieb offensichtlich verloren hat, die Handwerkskammer aber gleichwohl von einer Löschung der Eintragung in die Handwerksrolle Abstand nimmt, weil entweder kein Antrag vorliegt oder sie auch sonst keinen hinreichenden Grund sieht, von Amts wegen tätig zu werden, so entfällt für die Kassenzuständigkeit die Tatbestandswirkung der Eintragung in die Handwerksrolle.
Nicht entscheidend ist die Mitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer. Den Status als Handwerker verliert ein Betriebsinhaber nicht schon dadurch, daß er Mitglied der Industrie- und Handelskammer wird. Nach § 2 Abs 3 des Gesetzes zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern vom 18. Dezember 1956 (BGBl I S 920) sind Personen, die in die Handwerksrolle eingetragen worden sind, berechtigt, aber nicht verpflichtet, der Industrie- und Handelskammer anzugehören. Eine Doppelmitgliedschaft bei der Handwerkskammer sowie bei der Industrieund Handelskammer ist somit möglich.
Nach allem war auf die Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Über die Kosten wird das LSG zu entscheiden haben.
Fundstellen