Leitsatz (redaktionell)

Eine Schul- oder Berufsausbildung iS des RVO § 1267 erfordert, daß Zeit und Arbeitskraft des Schülers ganz oder überwiegend von ihr in Anspruch genommen werden.

 

Normenkette

RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 29. Juni 1961 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der am 1. Februar 1941 geborene Kläger hatte zunächst die Volksschule besucht. Anschließend machte er bis zum 31. März 1959 eine dreijährige Lehrzeit als kaufmännischer Lehrling durch. Außerdem besucht er die Abendschule der Volkshochschule in L, um das Abschlußzeugnis einer Mittelschule zu erlangen. Er beabsichtigt, Mittelschullehrer zu werden. Der Abendschulkursus dauert zwei Jahre. Der Unterricht wird wochentags an vier Abenden von 18 bis 22 Uhr erteilt. Die Mehrzahl der Teilnehmer ist berufstätig. Der Kläger übt seit der Beendigung seiner Lehrzeit keine Erwerbstätigkeit aus.

Er begehrt wegen des Abendschulbesuchs die Weiterzahlung der Waisenrente aus der Invalidenversicherung seines Vaters über sein 18. Lebensjahr und seine Lehrzeit hinaus. Die Beklagte hat seinen dahingehenden Antrag durch Bescheid vom 31. März 1959 abgelehnt, weil der Besuch der Abendschule der Volkshochschule keine Schulausbildung darstelle und deshalb ein Anspruch auf Waisenrente nach Beendigung der Lehrzeit nicht mehr bestehe.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung des ablehnenden Bescheides verurteilt, dem Kläger die Waisenrente über den 31. März 1959 hinaus weiterzugewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat die hiergegen eingelegte Berufung der Beklagten am 29. Juni 1961 zurückgewiesen, nachdem es eine schriftliche Auskunft von dem Mittelschulrektor E in L über die Form und die Anforderungen des Abendmittelschulkursus eingeholt und ihn ferner als Zeugen gehört hatte. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, dem Kläger stehe die Waisenrente weiterhin zu, weil der Abendschulkursus als Schulausbildung im Sinne des § 1267 der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzusehen sei. Er entspreche dem Besuch einer herkömmlichen Mittelschule und sei dieser gleichzustellen. Zwar seien die Unterrichtsstunden so angesetzt, daß jedem Schüler zeitlich die Möglichkeit bleibe, tagsüber einem Erwerb nachzugehen. Die Mehrzahl der Schüler mache auch von dieser Möglichkeit Gebrauch. Der Kläger habe sich jedoch während des Abendschulbesuchs unstreitig ausschließlich der Arbeit in und für den Unterricht gewidmet, ohne daß sein Verhalten als unsachgemäß oder übertrieben zu bezeichnen wäre. Durch eine gleichzeitige Erwerbstätigkeit würden die Aussichten auf eine erfolgreiche Abschlußprüfung gemindert. Der Besuch einer solchen Abendschule bedeute mindestens dann eine Schulausbildung, wenn daneben eine Erwerbstätigkeit nicht ausgeübt werde. Dagegen sei unerheblich, ob eine solche Tätigkeit nebenher ausgeübt werden könnte. Da der Kläger einem Lohnerwerb nicht nachgehe, sei er somit waisenrentenberechtigt.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das ihr am 20. Juli 1961 zugestellte Urteil des LSG hat die Beklagte am 8. August 1961 Revision eingelegt und das Rechtsmittel am 25. August 1961 begründet.

Sie rügt sachlich-rechtlich Verletzung des § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO, und ferner als wesentliche Mängel des Verfahrens unzureichende Sachaufklärung und Überschreitung der Grenzen des Rechts zur freien Beweiswürdigung. Sie meint, das LSG habe bei der Anwendung des § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO außer acht gelassen, daß die Abendschulen der Volkshochschulen gerade für Berufstätige geschaffen worden seien, um ihnen Gelegenheit zur Weiterbildung zu geben. Der Unterricht umfasse deshalb nur 16 Wochenstunden und finde nur an vier Wochentagen abends statt. Der Unterrichtsstoff und der gesamte Schulbetrieb seien auch sonst darauf ausgerichtet, daß der Schüler nebenher seinen Beruf voll ausüben könne. Dementsprechend würden die Abendschulen vorwiegend von Berufstätigen besucht. Der Kläger sei nicht gezwungen, sich ausschließlich oder überwiegend seinen Schulaufgaben zu widmen. Er sei nicht gehindert, neben dem Besuch der Abendschule eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Wenn er dies nicht tue und mehr Zeit als andere berufstätige Schüler für die Schulaufgaben aufwende, sei das unerheblich. Der Besuch eines Abendschulkursus könne nicht als Schulausbildung anerkannt werden. Im übrigen sei eine mangelhafte Sachaufklärung und Überschreitung des Rechts der freien Beweiswürdigung darin zu erblicken, daß das LSG die Feststellung, der Kläger habe sich ausschließlich der Arbeit in und für den Unterricht gewidmet, nur auf dessen einseitige Behauptungen gestützt habe; unstreitig sei dies nicht gewesen. Eine weitere Sachaufklärung durch Vernehmung von Angehörigen und Freunden des Klägers hätte ergeben, daß er zwar möglicherweise etwas mehr Zeit als andere für seine Schulaufgaben verwende, daß er sich aber nicht ausschließlich damit beschäftige.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 29. Juni 1961 und das Urteil des SG Lübeck vom 26. Januar 1960 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig und trägt ergänzend vor, er habe den Mittelschullehrgang inzwischen erfolgreich beendet. Er nehme seitdem an einem Abendkursus der Volkshochschule zur Erlangung des Abiturs teil.

Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, sie ist auch begründet.

Hierfür kann dahingestellt bleiben, ob die Verfahrensrügen durchgreifen, da das Urteil des Berufungsgerichts auch aus sachlich-rechtlichen Gründen nicht aufrechterhalten werden kann (BSG SozR § 162 SGG Bl. Da 36 Nr. 122).

Wie die Beklagte zu Recht rügt, hat das LSG die Vorschrift des § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO unrichtig angewendet. Es hat den Begriff Schulausbildung im Sinne der Vorschrift deshalb als erfüllt angesehen, weil der vom Kläger besuchte Abendmittelschulkursus in allem den Anforderungen einer öffentlichen Mittelschule entspreche, die Abstandnahme vom Lohnerwerb sachdienlich erscheine und der Kläger einer Erwerbstätigkeit nicht nachgehe. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Schul- oder Berufsausbildung im Sinne des § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO liegt nach der in Rechtsprechung und Schrifttum herrschenden Ansicht nur dann vor, wenn die Arbeitszeit und Arbeitskraft der Waise durch die Ausbildung ganz oder überwiegend in Anspruch genommen werden (BSG 14, 285, 287 mit weiteren Hinweisen). Beim Besuch einer Abendschule sind jedoch, selbst wenn deren Unterricht nach staatlich genehmigten Lehrplänen für öffentliche Schulen ausgerichtet ist, diese Voraussetzungen nicht ohne weiteres gegeben, weil vor allem der Unterricht nach der allgemein üblichen Arbeitszeit in den Abendstunden erteilt wird, um auch den Berufstätigen die Teilnahme zu ermöglichen. Nach den Feststellungen des LSG sind bei dem Abendmittelschulkursus der Volkshochschule in Lübeck die Unterrichtsstunden ebenfalls so angesetzt, daß jedem Abendschüler die Möglichkeit verbleibt, tagsüber einem Erwerb nachzugehen. Der Besuch einer Abendschule kann daher nur dann den Begriff der Schulausbildung im Sinne des § 1267 Abs. 1 Nr. 2 RVO erfüllen, wenn jene gleichwohl die Arbeitskraft und Arbeitszeit des Schülers durch die Unterrichtsstunden, die häuslichen Arbeiten und die erforderlichen Schulwege ganz oder doch wenigstens überwiegend beansprucht. Dabei kommt es indes nicht darauf an, wieviel Zeit der Kläger auf die Verrichtung der häuslichen Arbeiten verwendet oder gern verwenden möchte. Vielmehr ist ein objektiver Maßstab zugrunde zu legen. Es ist - wie aus dem Wort "beansprucht" folgt - darauf abzustellen, wieviel Arbeitszeit zur Verrichtung der häuslichen Aufgaben erforderlich ist.

Hierüber hat das Berufungsgericht bisher keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen getroffen. Es hat zwar insoweit sowohl auf die schriftliche Auskunft des Mittelschulrektors E vom 8. November 1960 als auch auf dessen Aussage vom 29. Juni 1961 Bezug genommen. Es ist jedoch nicht zu erkennen, was es auf Grund dieser Angaben als erwiesen ansieht, zumal der Zeuge über den Zeitbedarf für die Verrichtung der häuslichen Schulaufgaben widersprüchliche Angaben gemacht hat. In seiner schriftlichen Auskunft vom 8. November 1960 hat er erklärt, der Abendschüler müsse "seine ganze Freizeit" benutzen, um die häuslichen Arbeiten zu erledigen. Hingegen hat er bei seiner Vernehmung als Zeuge in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG bekundet, die Schulaufgaben nähmen je nach Begabung des Schülers nur etwa vier bis sechs Stunden täglich in Anspruch. Auch an der Richtigkeit dieser Bekundung können Zweifel bestehen, da die Mehrzahl der Abendschüler berufstätig sein soll. Bei derart unklaren Aussagen ist nicht zu erkennen, welchen Angaben des Zeugen über den Zeitbedarf für die häuslichen Arbeiten das Berufungsgericht gefolgt ist. Vollends über den für die Schulwege erforderlichen Zeitaufwand enthält das angefochtene Urteil keine Feststellungen. Da das Revisionsgericht diese Feststellungen nicht selbst zu treffen vermag, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Schließlich wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324568

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