Leitsatz (amtlich)
Hat ein Versicherter - jedenfalls für eine nicht unbeträchtliche Zeit; hier: etwa 7 Monate - vor seinem Tode Rente wegen dauernder Erwerbsunfähigkeit bezogen, so gilt diese Zeit als "Zeit seines Todes" (RVO § 1265 S 1), auch wenn dieselbe Erkrankung, auf der die Erwerbsunfähigkeit beruhte, zum Tode geführt hat.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 16. März 1972 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Klägerin begehrt als frühere geschiedene Ehefrau des Versicherten Hinterbliebenenrente nach § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Das Landessozialgericht (LSG) hat ihr - abweichend von den Entscheidungen der Beklagten und des Sozialgerichts - SG - (Bescheid vom 4. März 1971, Urteil vom 16. September 1971) - die Rente zugesprochen (Urteil vom 16. März 1972). Nach den Feststellungen des LSG wurde die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten aus dessen alleinigem Verschulden im Jahre 1961 geschieden. Während des Ehescheidungsverfahrens verpflichtete sich der Versicherte schriftlich, der Klägerin einen Unterhaltsbeitrag von monatlich 100,- DM zu zahlen. Diese Verpflichtung erfüllte er zunächst; von April 1970 an kam er ihr jedoch nicht mehr nach. Zu dieser Zeit war er aus seinem Beschäftigungsverhältnis ausgeschieden. Nachdem er im Juni desselben Jahres einen Schlaganfall erlitten hatte, beantragte er im Juli 1970 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Vom 1. Juli 1970 an wurde ihm die Rente gewährt. Er starb im Januar 1971. Während des Bestehens der Ehe hatte die Klägerin nur gelegentlich aushilfsweise Lohnarbeiten verrichtet. Nach der Ehescheidung übte sie ständig eine Berufstätigkeit aus. Das LSG hat seine Entscheidung wie folgt begründet: Zwar habe der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode keinen Unterhalt geleistet. Denn er habe nicht, wie es das Gesetz verlange, die Unterhaltszahlung während des vollen Jahreszeitraums erbracht. Jedoch sei er zur Zeit seines Todes "aus sonstigen Gründen" zur Unterhaltszahlung verpflichtet gewesen. Die schriftliche Unterhaltsvereinbarung stelle einen sonstigen Grund i. S. des § 1265 Satz 1 RVO dar. Mit dem Begriff "zur Zeit seines Todes" sei der letzte wirtschaftliche Dauerzustand gemeint. In diesem Zusammenhang müsse die Zeit nach dem Schlaganfall des Versicherten außer Betracht bleiben. Es komme deshalb allein auf die Zeit bis April 1970 an. Bis zu diesem Zeitpunkt sei eine bedeutsame Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin und des Versicherten nicht eingetreten.
Mit der zugelassenen Revision wendet sich die Beklagte gegen die Auffassung des LSG, daß die Zeit von April 1970 bis zum Tode des Versicherten (Januar 1971) außer Betracht zu bleiben habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG vom 16. März 1972 aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Klägerin ist im Verfahren vor dem Bundessozialgericht nicht vertreten.
Die Revision der Beklagten hat Erfolg, das angefochtene Urteil muß aufgehoben, der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden. Die vom Berufungsgericht getroffenen Tatsachenfeststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung darüber, ob der Klägerin Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO zusteht, nicht aus. Dem LSG ist darin zuzustimmen, daß die Voraussetzungen der dritten Alternative des § 1265 Satz 1 RVO nicht erfüllt sind. Der Versicherte hat der Klägerin nicht im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet. In diesem Zusammenhang wird regelmäßig gefordert, daß sich die Unterhaltsleistung über den vollen Zeitraum eines Jahres erstreckt (vgl. hierzu BSG in SozR Nr. 55 zu § 1265 RVO. In bezug auf diese Jahresfrist wird nicht auf den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten abgestellt (vgl. BSG in SozR Nr. 48 zu § 1265 RVO). Nach den Feststellungen des LSG hat der Versicherte innerhalb des letzten Jahres vor seinem Tode nur während einer Zeitspanne von etwa 3 Monaten Unterhalt an die Klägerin gezahlt. Gründe, die es rechtfertigen könnten, dies als ausreichend anzusehen, sind nicht ersichtlich.
Dem LSG vermochte der Senat noch nicht darin zu folgen, daß der Versicherte der Klägerin zur Zeit seines Todes Unterhalt - sei es nach den Vorschriften des EheG oder aus sonstigen Gründen - zu leisten hatte. Es ist zwar richtig, daß eine Unterhaltsvereinbarung der Art, wie sie während des Ehescheidungsverfahrens zwischen der Klägerin und dem Versicherten getroffen worden ist, ein sonstiger Grund im Sinne des § 1265 RVO sein kann. Das LSG hat jedoch dem Begriff "zur Zeit des Todes" eine Deutung gegeben, die mit der ständigen Rechtsprechung des BSG, die von erkennenden Senat geteilt wird, nicht in Einklang zu bringen ist. Die Zeit der Erkrankung des Versicherten hat nicht deshalb, weil sie in weniger als einem Jahr zu seinem Tode geführt hat, bei der Abgrenzung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes unberücksichtigt zu bleiben (vgl. hierzu BSG in SozR Nr. 22 zu § 1265 RVO mit weiteren Hinweisen). Im Einzelfall mag es gerechtfertigt sein, solche Zeiten nicht in Betracht zu ziehen. Die Entscheidung wird jedoch in der Regel nicht allein von der Dauer der Erkrankung abhängig gemacht werden können. Dies wird deutlich aus der Erwägung, daß die Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO Unterhaltsersatzfunktion besitzt. Darauf hat das BSG bereits mehrfach hingewiesen. Der früheren Ehefrau des Versicherten wird nach § 1265 Satz 1 RVO Rente in der Regel dann gewährt, wenn sie einen Anspruch auf Unterhalt - mit dessen Erfüllung sie für die Zukunft rechnen konnte - durch den Tod des Versicherten verloren hat. Davon geht man bei einer nur kurzfristigen Unterhaltspflicht nicht aus. Ihr mag meistens, wenn auch nicht notwendig immer, nicht die Bedeutung beizumessen sein, daß sie ohne den Tod des Versicherten wahrscheinlich fortbestanden hätte. Dies hat dazu geführt, der "Zeit des Todes" den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten gleichzusetzen (vgl. SozR Nr. 22 zu § 1265 RVO mit weiteren Hinweisen). Eine allgemeingültige zeitliche Abgrenzung ist jedoch ausgeschlossen; es kommt vielmehr auf die Gegebenheiten des Einzelfalles an (vgl. SozR Nr. 48 zu § 1265 mit weiteren Hinweisen). In dem zu entscheidenden Fall hätte sich ein zukünftiger Unterhaltsanspruch der Klägerin an der wirtschaftlichen Situation des Versicherten, wie sie etwa seit Juli - möglicherweise schon seit April - 1970 bestanden hat, orientieren müssen. Der Versicherte hatte einen Schlaganfall erlitten; wegen der Folgen dieser Erkrankung war ihm vom 1. Juli 1970 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zugesprochen worden. Eine Wiederherstellung seiner Gesundheit und damit der Arbeitsfähigkeit innerhalb einer absehbaren Zeit erschien ausgeschlossen. Damit war jedenfalls seit Juli 1970 in den Verhältnissen des Versicherten eine neue auf Dauer gerichtete Situation - Rentenbezug statt Arbeitseinkommen - eingetreten. Diese Zeit - von Juli 1970 bis Januar 1971 - ist daher "die Zeit des Todes" des Versicherten.
Die vom LSG getroffenen Tatsachenfeststellungen gestatten noch keine Entscheidung darüber, ob der Versicherte während der vorbezeichneten Zeit "aus einem sonstigen Grund" Unterhalt zu leisten hatte. Möglicherweise hat eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten trotz der Unterhaltsvereinbarung wegen seiner veränderten wirtschaftlichen Lage nicht mehr bestanden (vgl. hierzu BSG in SozR Nr. 27 zu § 1265 RVO). Hierzu bedarf es noch weiterer Feststellungen - insbesondere über die Einkünfte der Klägerin sowie die des Versicherten in der Zeit von Juli 1970 bis Januar 1971. Diese sind vom LSG nachzuholen. Sollte eine Witwenrente nicht zu gewähren sein - das angefochtene Urteil läßt hierzu nichts erkennen -, so wird möglicherweise geprüft werden müssen, ob sich der Anspruch der Klägerin nicht aus § 1265 Satz 2 RVO ergibt.
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen