Leitsatz (redaktionell)
Verrichtungen, die wesentlich allein von der stationären Heilbehandlung unabhängigen privaten Interesse des Versicherten dienen, wie etwa Besuch kultureller oder geselliger Veranstaltungen oder Ausflüge in die Umgebung, werden von dem Unfallversicherungsschutz nach RVO § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a nicht erfaßt.
Orientierungssatz
1. Eine Tätigkeit steht in ursächlichem Zusammenhang mit der stationären Behandlung iS des RVO § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a, wenn sie dieser Behandlung dienlich ist. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich - ebenso wie bei Tätigkeiten im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses - nicht danach, ob die Tätigkeit der stationären Behandlung objektiv dienlich war, sondern es ist ausreichend, daß der Versicherte von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, die Tätigkeit sei geeignet, seiner stationären Behandlung zu dienen.
2. Ebenso wie der Versicherungsschutz bei einer versicherten Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses nicht eine ausdrückliche Anweisung des Arbeitgebers voraussetzt, ist auch der Versicherungsschutz nach RVO § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a iVm RVO § 548 nicht davon abhängig, daß die Tätigkeit vom Arzt oder seiner Hilfsperson zur Durchführung der stationären Behandlung ausdrücklich angeordnet wird. Konnte die Klägerin davon ausgehen, daß der Spaziergang, bei dem sie verunglückt ist, dem Erfolg der stationären Behandlung dienlich sei, so stand sie dabei auch unter Versicherungsschutz, wenn der Arzt den Spaziergang nicht ausdrücklich angeordnet hatte.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 17 Buchst. a Fassung: 1974-08-07, § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. April 1978 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) bewilligte der Klägerin für die Zeit vom 18. Februar bis 17. März 1976 in einem Sanatorium eine stationäre Heilbehandlung. Nach der Anreise am 18. Februar 1976 begannen die Heilbehandlungsmaßnahmen am nächsten Tag um 7.00 Uhr mit Laboruntersuchungen. Anschließend frühstückte die Klägerin gegen 8.35 Uhr. Da sie bis zur nächsten Untersuchung um 10.00 Uhr noch freie Zeit hatte, ging sie im Sanatoriumsgelände spazieren, wobei sie gegen 9.00 Uhr ausrutschte und sich beim Sturz eine Radiusfraktur links zuzog. Durch Bescheid vom 29. März 1977 lehnte die Beklagte Entschädigungsleistungen ab, da der Unfall nicht bei der Befolgung bzw Ausführung einer ärztlichen Anordnung geschehen sei.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 10. November 1977 die Beklagte verurteilt, die Klägerin aus Anlaß des Unfalles vom 19. Februar 1976 zu entschädigen, da der Spaziergang auf dem Sanatoriumsgelände in der frischen Luft angesichts der Einweisungsdiagnose auch ohne besondere ärztliche Anordnung als vernünftige Bewegungstherapie anzusehen sei.
Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 19. April 1978 zurückgewiesen und ua ausgeführt: Daß die Klägerin auf einem nicht von einem Arzt verordneten Spaziergang verunglückt sei, stehe dem Versicherungsschutz nicht entgegen. Der Spaziergang sei von ihr angetreten worden, weil sie angesichts ihres Gesundheitszustandes dringend der Erholung bedurft habe. Ihr Verhalten sei der Genesung förderlich gewesen, wie der Sanatoriumsarzt auch der Beklagten mitgeteilt habe und was gerichtsbekannt sei. Der Fall unterscheide sich damit wesentlich von einer anderen Freizeitgestaltung, zB eines privaten Stadtganges. Die Voraussetzungen eines Grundurteils nach § 130 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) seien aufgrund der von der Beklagten in Ausführung des Urteils des SG eingeholten Gutachten erfüllt.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Sie trägt vor: § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a der Reichsversicherungsordnung (RVO) beziehe Personen wegen einer Tätigkeit in den Versicherungsschutz ein, die lediglich oder zumindest wesentlich darin bestehe, daß sich die Personen stationäre Behandlung gewähren lassen. Allein diese Mitwirkung an der Rehabilitation stelle die versicherte Tätigkeit dar. Der Gesundheitszustand der Klägerin habe nur einen Kuraufenthalt verlangt, nicht jedoch die Vornahme von Spaziergängen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG und das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beigeladene beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Das LSG hat zutreffend entschieden, daß die Klägerin am 19. Februar 1976 einen gemäß § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a, § 548 Abs 1 Satz 1 RVO zu entschädigenden Arbeitsunfall erlitten hat.
Die Klägerin gehörte im Zeitpunkt des Unfalles zu den nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO versicherten Personen, da ihr die BfA als Trägerin der gesetzlichen Rentenversicherung stationäre Behandlung in einer Kureinrichtung gewährte.
Arbeitsunfall ist ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in §§ 539, 540 und 543 - 545 RVO aufgeführten Tätigkeit erleidet (s. § 548 Abs 1 Satz 1 RVO). Voraussetzung ist demnach, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall und einer dieser Tätigkeiten gegeben ist (s. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl, S. 480 b I). Das LSG hat deshalb zutreffend zum Ausdruck gebracht, daß ein Versicherungsschutz der Klägerin nach § 548 RVO somit nicht schlechthin während der gesamten Dauer der stationären Behandlung in der Kureinrichtung bestanden hat. Ein nur zeitlicher und örtlicher Zusammenhang zwischen der stationären Behandlung und dem Unfall genügt nicht, vielmehr wird auch hier ein innerer ursächlicher Zusammenhang vorausgesetzt. Ob ein Ursachenzusammenhang zwischen der stationären Behandlung und dem Unfall gegeben ist, entscheidet sich für die nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO versicherten Personen ebenfalls nach der in der gesetzlichen Unfallversicherung maßgebenden Kausalitätslehre von der wesentlichen Bedingung. Im Rahmen der hiernach in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze sind die besonderen Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalles maßgebend (vgl Brackmann aaO S. 480 e ff., 480 i).
Entgegen der Auffassung der Revision besteht Versicherungsschutz für die nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO versicherten Personen nicht nur bei Verrichtungen zur Durchführung von "medizinischen Maßnahmen" (BSG Urteil vom 27. Juni 1978 - 2 RU 30/78 - zur Veröffentlichung vorgesehen). Der Gesetzeswortlaut enthält keine Anhaltspunkte für eine derartige Beschränkung des Versicherungsschutzes, zumal da das Risiko der ärztlichen Behandlung selbst nicht Gegenstand des Versicherungsschutzes ist (s. das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des Senats vom 27. Juni 1978 - 2 RU 20/78). Für diese Auffassung ist auch die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift anzuführen. Sinn und Zweck des Versicherungsschutzes bei einer stationären Behandlung sprechen ebenfalls nicht dafür, abweichend von dem allgemeinen Grundsatz, daß Versicherungsschutz bei allen Verrichtungen besteht, die in ursächlichem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit - hier der stationären Behandlung - stehen, den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nur auf bestimmte Verrichtungen zu beschränken.
Die in ursächlichem Zusammenhang mit einem Beschäftigungsverhältnis stehende Tätigkeit ist dadurch gekennzeichnet, daß sie dem Unternehmen dienlich ist (BSG SozR Nr 22 zu § 548 RVO; Brackmann aaO S. 480 q). Somit steht auch eine Tätigkeit in ursächlichem Zusammenhang mit der stationären Behandlung im Sinne des § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO, wenn sie dieser Behandlung dienlich ist. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich - ebenso wie bei Tätigkeiten im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses (s. BSGE 20, 215, 218; BSG SozR aaO Nr 23, 25, 30; Brackmann aaO; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 548 Anm 7) - nicht danach, ob die Tätigkeit der stationären Behandlung objektiv dienlich war, sondern es ist ausreichend, daß der Versicherte von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, die Tätigkeit sei geeignet, seiner stationären Behandlung zu dienen. Bei Verrichtungen, die wesentlich allein von der stationären Behandlung unabhängigen privaten Interessen des Versicherten dienen, besteht demnach ebenso wie im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses kein Versicherungsschutz. Das wäre zB hier grundsätzlich der Fall, wenn der Versicherte einen Theaterabend oder eine sonstige kulturelle oder gesellige Veranstaltung besucht oder einen Ausflug mit dem Omnibus unternimmt, um sich in rein zeitlichem Zusammenhang mit der Kur die Umgebung anzusehen. Ebenso wie der Versicherungsschutz bei einer versicherten Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses nicht eine ausdrückliche Anweisung des Arbeitgebers voraussetzt (s. BGH AP Nr 6 zu § 637 RVO mit Anmerkung von Sokoll; Brackmann aaO), ist auch der Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO iVm § 548 RVO nicht davon abhängig, daß die Tätigkeit vom Arzt oder seiner Hilfsperson zur Durchführung der stationären Behandlung ausdrücklich angeordnet wird. Konnte die Klägerin davon ausgehen, daß der Spaziergang dem Erfolg der stationären Behandlung dienlich sei, so stand sie, wie das LSG mit Recht entschieden hat, dabei auch unter Versicherungsschutz, wenn der Arzt den Spaziergang nicht ausdrücklich angeordnet hatte (aA Spitzenverbände der Rehabilitationsträger in BKK 1975, 221, 222). Das LSG hat festgestellt, daß die Klägerin den Spaziergang zu ihrer Erholung angetreten hatte und ihr Verhalten auch nach Auskunft des Arztes des Sanatoriums der Genesung förderlich war. Auch die Klägerin hat deshalb davon ausgehen können, daß der Spaziergang, bei dem sie verunglückt ist, der stationären Behandlung gedient hat. Sie hat somit im Unfallzeitpunkt unter Versicherungsschutz gestanden.
Auch die Voraussetzungen für den Erlaß eines Grundurteils hat das LSG zutreffend bejaht.
Die Revision der Beklagten war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen