Leitsatz (amtlich)

1. Zum öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch des Rentenversicherungsträgers nach RVO § 1301.

2. Der Rentenversicherungsträger darf eine zu Unrecht gewährte Leistung vom Empfänger nicht zurückfordern, wenn die Überzahlung durch beiderseitige leichte Fahrlässigkeit herbeigeführt worden ist (Anschluß an BSG 1972-01-28 5 RKn 51/70 = BSGE 34, 29, Abgrenzung zu BSG 1976-09-14 11 RA 124/75 = SozR 2200 § 1301 Nr 3).

 

Normenkette

RVO § 1301 S. 2 Fassung: 1965-06-09

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 28.04.1977; Aktenzeichen L 6 J 495/76)

SG Gießen (Entscheidung vom 29.04.1976; Aktenzeichen S 10 J 36/75)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 28. April 1977 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin die nach Vollendung des 18. Lebensjahres ihrer Tochter in Empfang genommenen Waisenrentenbeträge zurückzuzahlen hat (§ 1301 Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Die 1915 geborene Klägerin beantragte im Oktober 1966 sowohl Witwenrente als auch Waisenrente. Auf dem Formblatt für Waisenrenten gab sie an, ihre am 12. Februar 1949 geborene Tochter E.B. befinde sich in keiner Schulausbildung und habe ausgelernt. Mit zwei getrennten, an die Klägerin gerichteten Bescheiden vom 5. Dezember 1966 gewährte die Beklagte Witwen- und Waisenrente. Im Bescheid über die (Halb-) Waisenrente von monatlich 83,60 DM hieß es, daß "Kinderzuschuß/Waisenrente" bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres gewährt werde und mit diesem Zeitpunkt wegfalle, ohne daß es einer besonderen Mitteilung bedürfe; zu Unrecht weiterbezogene(r) "Kinderzuschuß/Waisenrente" müsse zurückgezahlt werden. Dem schloß sich eine Aufzählung der Voraussetzungen an, unter denen über das 18. Lebensjahr hinaus "Kinderzuschuß/Waisenrente" zu zahlen sei, sowie der Hinweis, daß beim Vorliegen einer solchen Voraussetzung rechtzeitig ein Antrag auf Weiterzahlung "des Kinderzuschusses/der Waisenrente" gestellt werden möge. Die ab Februar 1967 zur laufenden Zahlung angewiesene Waisenrente wurde von der Klägerin neben der Witwenrente bei der Post jeweils bar in Empfang genommen. Als die Beklagte bemerkte, daß die Waisenrente bereits Ende Februar 1967 hätte wegfallen müssen, stellte sie deren Zahlung mit April 1973 ein. Die Klägerin erklärte hierzu, es sei ihr "nicht bekannt, zumindest nicht bewußt", für ihre Tochter Waisenrente erhalten zu haben; denn diese sei bereits seit dem 30. Juni 1967 verheiratet und nicht mehr im Hause.

Mit Bescheid vom 7. Februar 1974 forderte die Beklagte den Betrag von 7.645,80 DM (Waisenrente für März 1967 bis April 1973) zurück, weil sie an der Überzahlung kein Alleinverschulden treffe und der Klägerin die Rückzahlung wirtschaftlich zumutbar sei. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 6. Januar 1975).

Das Sozialgericht (SG) hat den Rückforderungs- und den Widerspruchsbescheid aufgehoben (Urteil vom 29. April 1976), das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und im Urteil vom 28. April 1977 ausgeführt:

Die Überzahlung sei primär darauf zurückzuführen, daß der Sachbearbeiter der Beklagten den Wegfall der Waisenrente nicht überwacht habe; ihn treffe leichtes Verschulden. Der Rückforderungsanspruch des § 1301 RVO setze aber das Fehlen jeglichen Verschuldens des Versicherungsträgers voraus. Auch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) führe zu keiner anderen Beurteilung; denn besondere Umstände, daß die Klägerin die unrechtmäßige Zahlung vorsätzlich oder grob fahrlässig bewirkt habe, seien weder vorgetragen noch ersichtlich. Der schlichte Empfang der Rente lasse nicht auf solche Umstände schließen.

Die Beklagte hat die - vom Senat zugelassene - Revision eingelegt: Das Urteil des LSG lasse nicht erkennen, weshalb der Klägerin keine grobe Fahrlässigkeit angelastet werden könne, obwohl die Berufungsschrift Hinweise auf eine Reihe von Umständen enthalte, die dies nahelegten. So habe die Klägerin in der Widerspruchsschrift eingeräumt, daß ihr die Rechtsgrundlosigkeit der weitergezahlten Waisenrente bekannt gewesen sei; außerdem habe sie zur Barauszahlung der beiden Renten sowohl eine Lebensbescheinigung für sich als auch für ihre Tochter vorlegen müssen. Das Verhalten der Klägerin stelle einen erheblichen Verstoß gegen die Sorgfaltspflichten eines Rentenempfängers dar. Aber selbst wenn es sich nur um leichtes Verschulden handele, schließe das den Rückforderungsanspruch nicht aus.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 28. April 1977 sowie das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 29. April 1976 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Nach ihrer Ansicht habe sie nicht zu wissen brauchen, daß der Anspruch auf Waisenrente entfallen sei, sondern davon ausgehen dürfen, die im Gesamtbetrag nicht hohe Rentensumme stehe ihr zu und werde aus von ihr nicht zu übersehenden Gründen in zwei verschiedenen Beträgen ausgezahlt. Sie habe der Behörde blind vertraut.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden muß. Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um entscheiden zu können, ob ein Rückforderungsanspruch der Beklagten besteht.

Die Vorinstanzen sind ohne Begründung, aber zu Recht davon ausgegangen, daß die Beklagte einen Rückforderungsbescheid gegen die Klägerin, die Mutter der Waise, richten konnte.

Der bescheidmäßig geltend gemachte Anspruch ist öffentlich-rechtlicher Natur. Dem Rückforderungsbescheid vom 7. Februar 1974 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Januar 1975) liegt hier ein öffentlichen-rechtliches Verhältnis schon deshalb zugrunde, weil der vorangegangene Bescheid vom 5. Dezember 1966 über die Bewilligung von Waisenrente seinem objektiven Erklärungsinhalt nach so verstanden werden durfte, daß der Adressatin, dh der Klägerin selbst, neben der Witwenrente ein weiterer Anspruch wegen der Sorge für die Waise - ähnlich dem Anspruch auf Kinderzuschuß - zustehe: Dieser Bescheid war allein an die Klägerin gerichtet, sah in seinen Zusätzen eine Rückerstattungspflicht vor, falls sie - die Adressatin - zurückzuzahlende Leistungen erhalten habe, und stellte ohne nähere Kennzeichnung, was hier zutreffe, "Kinderzuschuß/Waisenrente" gleich. Dementsprechend hat auch die Klägerin ihrem Vortrag zufolge die Waisenrente von Anfang an als Zuschuß zur Witwenrente angesehen.

Bei dieser Sachlage konnte offenbleiben, ob der Erstattungsanspruch generell auch dann öffentlich-rechtlicher Natur ist, wenn statt des materiell Berechtigten der Vertreter in Anspruch genommen wird (so Meyer-Ladewig, SGG, Rdn 16 zu § 51 SGG; vgl auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 43. Nachtrag, Stand: Februar 1975, S 730 g, der bei § 1301 RVO auf den (tatsächlichen) Empfang abhebt und den rechtsgeschäftlichen oder gesetzlichen Vertreter dem Leistungsempfänger gleichsetzt; aA zur KOV, § 47 VerwVG, BSGE 28, 258), oder ob zumindest im vorliegenden Fall die Klägerin dem Versicherungsträger nicht als "Dritter", sondern im Rahmen eines (öffentlich-rechtlichen) Versicherungsverhältnisses gegenüberstand, weil der Bewilligungsbescheid an sie gerichtet und sie dadurch in die Lage versetzt war, nach Vollendung des 18. Lebensjahres ihrer Tochter deren "Waisenrente" weiter in Empfang zu nehmen; sie hat dann auch nach ihrer Darstellung in eigener Sache gehandelt und persönlichen Nutzen erstrebt, so daß bei ihrer Inanspruchnahme die Grundsätze über die Haftung des eigennützigen Vertreters in Betracht kommen könnten (vgl auch BGH in LM Nr 49 unter 2 a zu § 278 BGB).

Der von der Beklagten geltend gemachte Erstattungsbetrag betrifft eine zu Unrecht gezahlte Leistung iS des § 1301 S 1 RVO; denn auf die in dieser Gesamthöhe für die Zeit von März 1967 bis April 1973 gezahlte "Waisenrente" bestand kein Anspruch. Der Gewährungsbescheid vom 5. Dezember 1966 steht dem nicht entgegen, weil mit Februar 1967 der Waisenrentenanspruch kraft Gesetzes weggefallen ist (§ 1292 RVO).

Zurückfordern darf der Versicherungsträger nach § 1301 S 2 RVO nur, wenn ihn für die Überzahlung kein Verschulden trifft (1. Voraussetzung), und (nur) soweit der Leistungsempfänger - in diesem Fall die Klägerin selbst, wie aus obigen Darstellungen folgt - bei Empfang wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand (2. Voraussetzung), und soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist (3. Voraussetzung). Das LSG hat, ohne daß hiergegen Revisionsgründe vorgebracht worden sind, festgestellt, die Überzahlung der Waisenrente sei primär dadurch entstanden, daß der zuständige Sachbearbeiter der Beklagten Dauer und Wegfall dieser Rente nicht überwacht habe. Es ist nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht bei diesem Sachverhalt ein leichtes Verschulden des Sachbearbeiters - und damit der Beklagten - bejaht. Daran scheitert jedoch der Rückforderungsanspruch der Beklagten noch nicht.

Der Gesetzeswortlaut allein stellt allerdings alle drei Voraussetzungen kumulativ nebeneinander; indem die Rückforderung "nur" möglich sein soll, wenn den Versicherungsträger "kein" Verschulden an der Überzahlung trifft, wird das Gewicht der ersten Voraussetzung betont (vgl 5. Senat des BSG im Urteil vom 29. September 1965 = SozR Nr 3 zu § 93 RKG = § 1301 RVO; zum Teilverschulden vgl auch VDR-Rdschr 100/65 Nr 180; abschwächend allerdings derselbe Senat im Urteil vom 28. Januar 1972 = SozR Nr 16 zu § 1301 = BSGE 34, 29 und der 11. Senat im Urteil vom 14. September 1976 - 11 RA 124/75 = SozR 2200 § 1301 Nr 3). Gleichwohl schließt ein Verschulden des Versicherungsträgers den Rückforderungsanspruch nicht schlechthin und in allen Fällen aus. Der reine Wortlaut des Gesetzes würde sogar den Versicherten schützen, der arglistig - etwa durch bewußt unwahre Angaben im Rentenantrag - eine ihm zustehende Leistung herbeigeführt hat, wenn deren Bewilligung auch auf leichter Fahrlässigkeit des Versicherungsträgers beruht. Der 5. und 11. Senat haben in den erwähnten Entscheidungen zutreffend darauf hingewiesen, daß ein solches Ergebnis unverständlich wäre und vom Gesetzgeber nicht gewollt sein kann. Auch der erkennende Senat hält eine Gesetzesanwendung, die darauf hinausliefe, "durch Unrecht zum Recht zu gehen", für unzulässig. Für diese Ansicht kann allerdings schwerlich als Hilfsargument dienen, § 1301 S 2 RVO enthalte Grundsätze, welche die Rechtsprechung vorher zum Vertrauensschutz mit Rücksicht auf Treu und Glauben entwickelt habe, so daß diese Grundsätze weiterhin zu gelten hätten (vgl aber SozR Nr 8 zu § 1301 RVO, SozR 2200 § 1301 Nr 3; ferner Urteil vom 29. Juni 1972 - 2 RU 256/68 = SozR Nr 4 zu § 628 RVO). § 1301 S2 RVO ist mit dem Ersten Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 angefügt und erst durch den 20. Ausschuß (für Sozialpolitik) in das Gesetz aufgenommen worden, um die Vorschrift der entsprechenden Regelung in der Unfallversicherung (§ 628 RVO) anzupassen (BT-Drs IV/3233 Nr 17 a). Dort hatte ebenfalls dieser Ausschuß die Ergänzung veranlaßt und ausgeführt, § 628 RVO (§ 625 des Entwurfs) sei "aus Gründen sozialer Billigkeit erweitert worden" (BT-Drs IV/938 zu § 625).

Daß auch bei einem Verschulden des Versicherungsträgers an der Überzahlung dessen Rückforderungsanspruch jedenfalls dann nicht scheitern darf, wenn der Versicherte die unrechtmäßige Leistung vorsätzlich oder sogar arglistig herbeigeführt hat, ergibt sich aus dem Sinn und Zweck des § 1301 S 2 RVO. Eine Sinnauslegung kommt selbst gegenüber einem an sich "eindeutigen" Gesetzeswortlaut in Betracht, wenn nämlich der Gesetzgeber, hätte er entsprechende Fälle bedacht oder Folgen erkannt, vernünftigerweise die Regelung anders getroffen haben würde (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 30. Nachtrag, Juli 1968, S 190 p IV und BSGE 26, 266,270 und die jeweils zitierte Rechtsprechung und Literatur). Wie erwähnt, muß es als schlechthin ausgeschlossen gelten, daß der Gesetzgeber auch den Versicherten (oder Hinterbliebenen) hat schützen wollen, der vorsätzlich die unrechtmäßige Leistung erwirkt. Im Mittelpunkt der Regelung steht das Vertrauensinteresse des "gutgläubigen" Leistungsempfängers; umgekehrt kommt dem Ausmaß, inwieweit dieser die Überzahlung verschuldet hat, zentrale Bedeutung zu (vgl SozR Nr 4 zu § 628 RVO). Vor allem können "Gründe sozialer Billigkeit" nicht einseitig auf den einzelnen Versicherten oder Hinterbliebenen bezogen, sondern müssen im Zusammenhang mit der Versichertengemeinschaft gesehen werden, deren Sachwalter der Versicherungsträger ist. Es ist für die Solidargemeinschaft der Versicherten nicht tragbar, daß derjenige, der vorsätzlich eine unrechtmäßige Leistung vom Versicherungsträger erstrebt und erhalten hat, nur wegen dessen Mitverschulden an der fehlerhaften Zahlung von der Rückzahlung verschont bleiben soll.

Im Anschluß an SozR Nr 16 zu § 1301 RVO (s.o.) muß auch nach der Ansicht des Senats eine vom Leistungsempfänger grob fahrlässig verursachte Überzahlung der durch Vorsatz herbeigeführten in den Rechtsfolgen gleichgestellt werden. Dies wird deutlich, wenn man unter grober Fahrlässigkeit die Nichtbeachtung dessen versteht, was unter den gegebenen Umständen jedem (Leistungsempfänger) hätte einleuchten müssen (zB BGH 10, 14, 16; 10, 69, 74). Es ist mit dem Prinzip der Sozialversicherung unvereinbar, daß derjenige, der infolge Außerachtlassung jeglicher Sorgfalt unrechtmäßige Leistungen bezogen hat, diese behalten darf; er kann nicht besser gestellt werden als derjenige, der - etwa weil er sich anhand von Bescheidzusätzen oder Mitteilungen des Versicherungsträgers von der Unrechtmäßigkeit der Zahlung überzeugt - die Leistung nicht annimmt oder im Zweifelsfall beim Versicherungsträger zurückfragt. Für die Einbeziehung der groben Fahrlässigkeit spricht weiter, daß in nicht seltenen Fallgruppen Leistungen entgegengenommen werden, obwohl bei Beachtung der Auflagen oder ausdrücklichen Vorbehalte und Hinweise in Verwaltungsakten des Versicherungsträgers es zur Leistung gar nicht hätte kommen dürfen. Es handelt sich um die Verletzung der Mitwirkungspflicht des Leistungsempfängers (als Gegenstück zur Aufklärungspflicht des Versicherungsträgers), wie sie jetzt in § 60 Abs 1 (hier Nr 2) Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil (SGB 1) normiert ist. Gerade in solchen Fällen wird - da es um die Beurteilung innerer Vorgänge geht - oft schwer abzugrenzen sein, ob die Überzeugung mit bedingtem Vorsatz oder grob fahrlässig herbeigeführt wurde; nicht nur der Sinn und Zweck des Gesetzes, auch die Interessenlage legt nahe, hinsichtlich der Rückzahlungspflicht keinen Unterschied zwischen diesen beiden Verschuldensarten zu machen. Es kann auch nicht darauf ankommen, ob sich die grobe Fahrlässigkeit in einem Handeln oder pflichtwidrigen Unterlassen des Empfängers äußert.

Soweit der 11. Senat (SozR 2200 § 1301 Nr 3) allerdings erwogen hat, auch bei beiderseitiger leichter Fahrlässigkeit des Versicherungsträgers und Leistungsempfängers an der Überzahlung sei der Rückforderungsanspruch nicht ausgeschlossen, vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen. Wenn über den Wortlaut hinaus der Sinn und Zweck einer Norm als Richtschnur für die Anwendung der Vorschrift dienen soll, kann dies nur in engen Grenzen geschehen; es muß sicher oder doch in hohem Grade wahrscheinlich sein, daß der Gesetzgeber bei Erkennen der gesamten Tragweite der von ihm geschaffenen Norm die Regelung in dem von der Rechtsprechung aufgezeigten Sinn getroffen hätte. Hier fällt ins Gewicht, daß die vom 11. Senat vorgeschlagene Lösung eine noch weitere Entfernung vom Gesetzeswortlaut bedeuten würde. Da nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers sich das Verschulden des Versicherungsträgers an der Überzahlung auf den Rückforderungsanspruch auswirken soll, erscheint es gerechtfertigt, den Grad des Verschuldens auf der Empfängerseite zu berücksichtigen. Dies bedeutet, daß bei nur leichter Fahrlässigkeit auf beiden Seiten ein die Rückforderung ausschließendes schutzwürdiges Interesse des Empfängers zu bejahen ist. Zu diesem Ergebnis ist bereits der 5. Senat gelangt (SozR Nr 16 zu § 1301 RVO). Zwar mögen die dort erwähnten Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes und Lohnfortzahlungsgesetzes sowie der beamtenrechtlichen Besoldung - wie der 11. Senat meint - einen anderen Wortlaut haben und auf nicht ohne weiteres vergleichbaren Interessenabwägungen beruhen; sie lassen aber doch erkennen, daß der Gesetzgeber jedenfalls auf Einzelgebieten des öffentlichen Leistungsrechts für die Rückzahlungspflicht nach ungerechtfertigter Bereicherung das Vorliegen zumindest grober Fahrlässigkeit vorausgesetzt hat.

Insoweit hat das LSG keine andere Rechtsansicht vertreten. Seinem Urteil ist jedoch aus folgenden Gründen nicht beizutreten: Es hat als "nicht erwiesen" angesehen, daß die Überzahlung von der Klägerin vorsätzlich oder grob fahrlässig bewirkt worden sei. Welcher Grad der Fahrlässigkeit vorliegt, ist eine vom Revisionsgericht innerhalb gewisser Grenzen zu prüfende Rechtsfrage (vgl Stein-Jonas, ZPO, 20. Aufl, § 549 III B 3 b, Rdn 14, 17 bis 20 und 25, wonach mit der Revision zumindest gerügt werden kann, das Berufungsgericht habe nicht alle festgestellten Tatsachen und Umstände bei der Subsumtion berücksichtigt). Die Ausführungen des Berufungsgerichts, die Klägerin habe sich darauf verlassen dürfen, daß der Rentenwegfall von Amts wegen beachtet werde und nur Renten zur Auszahlung kämen, auf die ein Anspruch bestehe, reichen unter Berücksichtigung des Sachverhalts und Geschehensablaufs nicht aus. Der Hinweis des LSG, auf (mindestens) leichtfertiges Verhalten der Klägerin hindeutende besondere Umstände seien "weder vorgetragen noch ersichtlich", ist von der Beklagten mit zulässigen Revisionsgründen angegriffen worden. Die Beklagte macht nämlich mit der Revision geltend, bereits in der Berufungsschrift vorgetragen zu haben, die Klägerin sei ihrer Widerspruchsbegründung zufolge davon ausgegangen, Waisenrente könne über das 18. Lebensjahr hinaus nur auf Antrag gewährt werden und habe deshalb keine Mitteilung gegenüber der Rentenabteilung für erforderlich gehalten; überdies sei bereits im Berufungsverfahren dargelegt worden, daß die Klägerin sowohl für die Witwenrente wie auch für die Waisenrente Lebensbescheinigungen habe vorlegen müssen. Diese Gesichtspunkte bedürfen im Zusammenhang mit den Bescheidzusätzen der Überprüfung und Auswertung. Erst danach läßt sich die Frage beantworten, ob die Klägerin gleichwohl, ohne sich zumindest dem Vorwurf grob leichtfertigen Verhaltens auszusetzen, davon ausgehen durfte, die nach Februar 1967 gezahlte "Waisenrente" sei ein Zuschuß zur Witwenrente. Auch der Umstand, daß die Tochter der Klägerin nach deren Vortrag seit dem 30. Juni 1967 verheiratet und nicht mehr im Hause gewesen sei, ist in die Betrachtung einzubeziehen. Die gesamten Umstände legen nahe, daß der Klägerin wenigstens ernste Zweifel gekommen sind; es müßten schon besondere, bisher noch nicht erkennbare Gründe dargelegt werden, um dennoch grobe Fahrlässigkeit der Klägerin verneinen zu können.

Die hiernach noch erforderlichen Feststellungen - ggf auch ergänzende Ermittlungen - kann nicht das Revisionsgericht, sondern muß das Berufungsgericht treffen. Falls es zu dem Ergebnis kommt, daß die Klägerin die Überzahlung vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hat, wird auch zu prüfen sein, ob die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin vertretbar ist.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653985

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