Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit der Revision bei Antrag auf Anerkennung besonderen beruflichen Betroffenseins. Verfahrensmangel

 

Orientierungssatz

1. Das Revisionsgericht muß von Amts wegen Mängel im Verfahren des LSG beanstanden, die sich aus dem Fehlen von unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen ergeben. Dazu gehört die Frage nach der Zulässigkeit der Berufung. Sie ist von Amts wegen zu prüfen, da sonst das Revisionsverfahren einer entsprechenden Grundlage entbehrt (vgl BSG vom 1979-07-26 8b RKg 11/78 = SozR 1500 § 150 Nr 18). Entscheidet das LSG über eine Berufung - wie hier - sachlich-rechtlich, obwohl es sie durch Prozeßurteil hätte als unzulässig verwerfen müssen, ist dies ein wesentlicher Verfahrensmangel, der die Grundlagen des weiteren Verfahrens berührt (vgl ua BSG vom 1969-12-09 9 RV 358/69 = SozR Nr 191 zu § 162 SGG).

2. Die Änderung der Sachabweisung in eine Prozeßabweisung stellt keine reformatio in peius dar.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 2 S. 2 Buchst. c Fassung: 1966-12-28; SGG § 148 Nr. 3 Fassung: 1958-06-25, § 150 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 22.02.1979; Aktenzeichen L 9 V 209/73)

SG Münster (Entscheidung vom 29.08.1973; Aktenzeichen S 6 V 54/67)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Februar 1979 wird zurückgewiesen mit der Maßgabe, daß die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 29. August 1973 zur beruflichen Betroffenheit als unzulässig verworfen wird.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Rahmen der nur teilweise zugelassenen Revision noch darüber, ob dem Kläger ab 1. Mai 1965 bis 30. September 1973 unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins (§ 30 Abs 2 Buchstabe c des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -) die Rente eines Erwerbsunfähigen zusteht. Für die Zeit danach erhält der Kläger bereits Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 vH im allgemeinen Erwerbsleben.

Der 1913 geborene Kläger hatte nach Volksschulbesuch und einer Lehre bei der staatlichen Kreiskasse W. diese mit der Kaufmannsgehilfenprüfung abgeschlossen; sodann war er als Kassenangestellter tätig. Nach Bestehen der ersten Verwaltungsprüfung trat er 1939 als Beamtenanwärter beim Landratsamt W. ein. 1940 wurde er zum Regierungsassistenten und 1943 zum Regierungssekretär ernannt. Während des Wehrdienstes wurde er 1942 schwer verwundet und war dann bis 1949 in der gewerblichen Wirtschaft tätig. Anschließend war er beim Finanzamt W. angestellt, wurde 1952 als Beamter des mittleren Dienstes übernommen, 1955 zum Steuerobersekretär, 1968 zum 1. Steuerhauptsekretär und schließlich zum Steueramtsinspektor befördert; 1975 ist er vorzeitig in den Ruhestand getreten.

Nach dem Bescheid des Beklagten vom 22. Januar 1959 bezog der Kläger wegen anerkannter Schädigungsfolgen Rente nach einer MdE von 80 vH. Er verzichtete auf Anfrage seines Vorgesetzten am 5. November 1955 darauf, zur Ausbildung für den gehobenen Dienst zugelassen zu werden, da eine Beförderung zum Steuerobersekretär bevorstand. 1958 wurde er aufgrund besonderer Förderungsmaßnahmen für Schwerbeschädigte zur Ausbildung für den gehobenen Dienst zugelassen. Er nahm vom 3. Mai bis 22. Juli 1958 an einem Finanzanwärterlehrgang für Schwerbeschädigte mit Erfolg teil, trat jedoch am 5. Juni 1959 von der noch etwa zwei weitere Jahre andauernden Ausbildung zurück.

Im Mai 1965 beantragte der Kläger, ein besonderes berufliches Betroffensein anzuerkennen und ihm Berufsschadensausgleich zu gewähren, weil ihn die Schädigungsfolgen (Stumpfbeschwerden während des Kurses) gehindert hätten, die Ausbildung fortzusetzen. Antrag, Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg (Bescheid vom 14. Juli 1966, Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 1967, Urteil des Sozialgerichts - SG - Münster vom 29. August 1973). Während des Berufungsverfahrens erließ der Beklagte die Bescheide vom 6. März und 24. April 1974, in denen er die MdE auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ab 1. Oktober 1973 und danach ab 1. November 1971 auf 90 vH heraufsetzte. Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und auf die Klage unter Abänderung des Bescheides vom 6. März 1974 den Beklagten verurteilt, unter Berücksichtigung der zusätzlich anerkannten Schädigungsfolgen ab 1. Oktober 1973 Rente nach einer MdE von 100 vH zu gewähren. Es hat ua ausgeführt, die an sich nach § 148 Nr 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossene Berufung sei zulässig, weil zu Recht ein wesentlicher Verfahrensmangel gerügt worden sei (§ 150 Nr 2 SGG). Das SG habe nämlich versäumt, näher aufzuklären, ob die 1958/1959 aufgetretene Fehlregulation, die es als mögliche Ursache für den Abbruch der weiterführenden Ausbildungsmaßnahme angesehen habe, als Schädigungsfolge anzuerkennen sei. Wegen widersprechender Gutachten hätte es der Anhörung eines kompetenten Fachgutachters bedurft. Ein besonderes berufliches Betroffensein (§ 30 Abs 2 BVG) komme aus rechtlichen Gründen nicht in Betracht. Auch ein Berufsschadensausgleich stehe dem Kläger nicht zu. Dagegen sei die dem Kläger mit dem gemäß § 96 SGG zum Gegenstand des Verfahrens gewordenen Bescheid vom 6. März 1974 ab 1. Oktober 1973 zugestandene MdE von 90 vH auf 100 vH unter Berücksichtigung der vom Beklagten zusätzlich anerkannten Schädigungsfolgen zu erhöhen. Das LSG hat die Revision zugelassen, soweit ein besonderes berufliches Betroffensein streitig ist.

Der Kläger hat Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 30 Abs 2 BVG.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Februar 1979 teilweise abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei dem Kläger ab 1. Mai 1965 ein besonderes berufliches Betroffensein anzuerkennen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil teilweise aufzuheben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Sie ist mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß seine Berufung als unzulässig verworfen wird, soweit die Revision zugelassen wurde.

Die auf eine Klärung der Frage der Anerkennung eines besonderen beruflichen Betroffenseins des Klägers beschränkte Zulassung der Revision ist in dieser Form unwirksam, weil sie nur auf die Entscheidung einer bestimmten Rechtsfrage abhebt (BSG SozR Nr 170 zu § 162 SGG). Das angefochtene Urteil ist in den Grenzen des Anspruchs nachzuprüfen, die das LSG durch seine Zulassung gezogen hat. Da das LSG über mehrere getrennte Ansprüche zu entscheiden hatte (Berufsschadensausgleich und Neufeststellung der Rente), war es befugt, die Zulassung auf einen bestimmten Anspruch zu begrenzen, hier die Erhöhung der MdE für die Zeit ab 1. Mai 1965 wegen der Anwendung des § 30 Abs 2 BVG (BSGE 3, 136). Für die Zeit ab 1. Oktober 1973 hat es unter Abänderung des gemäß § 96 SGG als mit der Klage angefochten geltenden Bescheides vom 6. März 1974 unter Berücksichtigung zusätzlicher Schädigungsfolgen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bereits Rente nach einer MdE von 100 vH zugesprochen, so daß es für diese Zeit wegen Erreichung der Erwerbsunfähigkeit am Rechtsschutzbedürfnis für eine Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit fehlt. Deshalb ist der Zulassungsanspruch dahin auszulegen, daß das LSG geklärt sehen wollte, ob die MdE des Klägers für die Zeit ab 1. Mai 1965 aufgrund des § 30 Abs 2 BVG höher als mit 80 vH bewertet werden kann.

Dafür hat das LSG auf die Rüge des Klägers hin zu Unrecht § 150 Nr 2 SGG herangezogen und in der Sache entgegen § 148 Nr 3 SGG entschieden. Das Revisionsgericht muß von Amts wegen Mängel im Verfahren des LSG beanstanden, die sich aus dem Fehlen von unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen ergeben. Dazu gehört die Frage nach der Zulässigkeit der Berufung. Sie ist von Amts wegen zu prüfen, da sonst das Revisionsverfahren einer entsprechenden Grundlage entbehrt (vgl Urteil des 8. Senats vom 26. Juli 1979 - 8b RKg 11/78 - mwN). Entscheidet das LSG über eine Berufung - wie hier - sachlich-rechtlich, obwohl es sie durch Prozeßurteil hätte als unzulässig verwerfen müssen, ist dies ein wesentlicher Verfahrensmangel, der die Grundlagen des weiteren Verfahrens berührt (BSGE 1, 283, 286 ff; 2, 157, 158; SozR Nr 40 und Nr 191 zu § 162 SGG).

Die Berufung des Klägers betraf, soweit sie in die Revisionszulassung einbezogen wurde, Rente nach einer höheren MdE als um 80 vH ab 1. Mai 1965 unter Berücksichtigung des § 30 Abs 2 BVG. Das LSG hat sie ungeachtet des § 148 Nr 3 SGG für zulässig erachtet, weil es die Rüge eines Verfahrensmangels durch den Kläger für begründet gehalten hat (§ 150 Nr 2 SGG). Es hat gemeint, das SG hätte sich von seinem Rechtsstandpunkt aus gedrängt fühlen müssen, Widersprüche zwischen zwei nicht fachkompetenten Sachverständigen aufzuklären. Dabei ist das LSG allerdings nicht sorgfältig genug vorgegangen, als es die Rechtsauffassung des SG ermittelt hat. Das SG ist nämlich dem Gutachten des Dr. B vom 11. Juli 1973 vor allem deswegen nicht gefolgt, weil es zu anderen Sachverhaltsfeststellungen gelangt ist, als sie dieser in seiner Beurteilung verwendet hat. Es hat demzufolge eine Würdigung der vorhandenen Beweise vorgenommen, die im Ergebnis mit den Folgerungen des Gutachters Dr. P übereinstimmten, auch wenn dieser nicht fachkompetent gewesen sein sollte. Das SG hat sich aufgrund seiner Rechtsauffassung und seiner Beweiswürdigung nicht zu einer weiteren Sachaufklärung (§ 103 SGG) gedrängt fühlen müssen, sondern konnte ohne Bindung an ärztliche Auffassungen entscheiden. Der vom LSG festgestellte Verfahrensmangel, der die nach § 148 Nr 3 SGG ausgeschlossene Berufung zulässig machen sollte, hat nach den begründeten Feststellungen des SG nicht vorgelegen. Demzufolge war die vom LSG für zulässig angesehene Berufung des Klägers als unzulässig zu verwerfen. Die Änderung der Sachabweisung in eine Prozeßabweisung stellt keine reformatio in peius dar. Der Revision des Klägers konnte sonach kein Erfolg beschieden sein.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653910

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