Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. Januar 1996 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Rechtsstreit betrifft die Höhe der Arbeitslosenhilfe (Alhi) ab 1. Januar 1994; die Klägerin wendet sich gegen die Berücksichtigung von Gesetzesänderungen, die nach Bewilligung der Leistung in Kraft getreten sind.
Die 1935 geborene, kinderlose Klägerin bezog Alhi, die die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) zuletzt mit Bescheid vom 14. Oktober 1993 für die Zeit vom 26. Oktober 1993 bis zum 25. Oktober 1994 nach einem gerundeten wöchentlichen Bruttoarbeitsentgelt von 700,00 DM nach der Leistungsgruppe A in Höhe von 258,00 DM wöchentlich festgestellt hatte. Diese Regelung ist nicht angegriffen. Mit „Änderungsbescheid” vom 12. Januar 1994 setzte die BA die bewilligte Leistung ab 1. Januar 1994 auf 240,00 DM wöchentlich herab. Der verminderte Betrag ergab sich aus dem Inkrafttreten des 1. Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) vom 21. De-zember 1993 (BGBl I 2353), das den allgemeinen Leistungssatz der Alhi von 56 vH auf 53 vH herabsetzte, und der gleichfalls am 1. Januar 1994 in Kraft getretenen AFG-Leistungsverordnung 1994 vom 22. Dezember 1993 (BGBl I 2446), die höhere Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung in den Zahlbeträgen berücksichtigte.
Mit dem Widerspruch machte die Klägerin geltend, die am 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Regelungen seien verfassungswidrig. Den abschlägigen Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 1994 begründete die BA mit der am 1. Januar 1994 eingetretenen Gesetzeslage. Die dagegen gerichtete Klage blieb erfolglos (Gerichtsbescheid vom 19. Mai 1995).
Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Das LSG ist davon ausgegangen, der Anspruch auf Alhi sei trotz der Vorschrift des § 139a AFG „grundsätzlich unbegrenzt”. Die Anwendung der Bemessungsvorschriften in der ab 1. Januar 1994 geltenden Fassung hat das LSG gebilligt. Vertrauen der Klägerin auf die Leistungsfeststellung ab 26. Oktober 1993 sei weder nach Art 14 Grundgesetz (GG) noch nach dem Rechtsstaatsprinzip (unechte Rückwirkung) geschützt. Eine Abwägung zwischen dem Interesse der Klägerin, die Leistung in der 1993 bewilligten Höhe weiterzubeziehen, und dem Ziel des 1. SKWPG, die Leistungsfähigkeit des Sicherungssystems zu erhalten, rechtfertige nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Leistungskürzung. Auch die unmittelbare Umsetzung ohne Übergangsregelung sei gerechtfertigt. Soweit die Kürzung auf einer Erhöhung der Beiträge zur Kranken-und Rentenversicherung beruhe, komme Vertrauensschutz der Klägerin nicht in Betracht, weil die Leistungskürzung insoweit Folge der gesetzlichen Bemessungsvorschriften sei (§§ 136 Abs 3, 111 Abs 2 Arbeitsförderungsgesetz ≪AFG≫). Die Anhörungspflicht habe die BA nicht verletzt, weil sie nach Inkrafttreten des 1. SKWPG gleichartige Verwaltungsakte in großer Zahl habe erlassen müssen.
Die Klägerin rügt die Verletzung der Art 14 und 20 GG. Ihr Anspruch unterliege dem Eigentumsschutz, weil sie diesen Anspruch durch Beitragsentrichtung erworben habe. Die Kürzung der Leistung verstoße gegen das Rechts- und Sozialstaatsprinzip, weil ein Eingriff in einen durch bindenden Bescheid festgestellten Anspruch vorliege. Insoweit würden § 48 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren (SGB X) und § 78 (gemeint wohl: 77) Sozialgerichtsgesetz (SGG) „derogiert”. Ferner habe die BA mit ihrem Vorgehen die Anhörungspflicht nach § 24 SGB X verletzt.
Die Klägerin beantragt,
- das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. Januar 1996 sowie den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mainz vom 19. Mai 1995 und den Änderungsbescheid der Beklagten vom 12. Januar 1994 idF des Widerspruchsbescheids vom 23. Februar 1994 aufzuheben;
- die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Arbeitslosenhilfe für die Zeit vom 1. Januar 1994 nach den bis zum 31. Dezember 1993 geltenden Vomhundertsätzen zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verweist auf die seit 1. Januar 1994 geltende Rechtslage und vertritt mit Hinweis auf Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Ansicht, diese Rechtslage sei verfassungsgemäß.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das Urteil des LSG beruht nicht auf einer Rechtsverletzung. Die Bemessung der ab 1. Januar 1994 zustehenden Alhi entspricht den gesetzlichen Vorschriften. Diese stehen mit der Verfassung – insbesondere den Grundsätzen des sozialen Rechtsstaats – im Einklang.
1. Gegenstand der Revision ist ein Anspruch auf höhere Alhi für die Zeit vom 1. Januar bis 25. Oktober 1994. Für diese Zeit hat die BA die Leistung mit dem angefochtenen Bescheid vom 12. Januar 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. Februar 1994 nach einem gerundeten wöchentlichen Arbeitsentgelt von 700,00 DM, Leistungsgruppe A und dem allgemeinen Leistungssatz von 53 vH mit 240,00 DM wöchentlich festgestellt. Für die Annahme des LSG, die Alhi sei unbegrenzt bewilligt, fehlt es an tatsächlichen wie rechtlichen Grundlagen.
Ob für die Zeit ab 26. Oktober 1994 erlassene Bewilligungsbescheide nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden sind, kann hier dahinstehen, denn eine Verletzung dieser verfahrensrechtlichen Vorschrift ist nur auf Rüge zu berücksichtigen (BSGE 61, 45, 48 = SozR 4100 § 113 Nr 5 mwN). Eine entsprechende Verfahrensrüge hat die Klägerin nicht erhoben.
2. Der Senat ist an einer Sachentscheidung nicht durch in die Revisionsinstanz fortwirkende Verfahrensmängel gehindert, die von Amts wegen zu beachten und unabhängig von den tatsächlichen Feststellungen des LSG zu prüfen sind (BSGE 77, 48, 49 = SozR 3-4100 § 119 Nr 9 mwN). Bedenken unterliegt hier die Statthaftigkeit der Berufung. Nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG in der hier anzuwendenden Fassung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 (BGBl I 50) bedarf die Berufung der Zulassung im Urteil des Sozialgerichts (SG) oder auf Beschwerde durch Beschluß des LSG, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 1.000,00 DM nicht übersteigt und die Berufung nicht wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft. Weder das SG noch das LSG hat die Berufung zugelassen. Mit dem angefochtenen Bescheid hat die BA die der Klägerin zustehende Alhi von 258,00 DM auf 240,00 DM wöchentlich für die Zeit vom 1. Januar bis 25. Oktober 1994 herabgesetzt. Diese Regelung erreicht weder die gesetzlich festgelegte Berufungssumme von 1.000,00 DM noch betrifft sie wiederkehrende Leistungen für mehr als ein Jahr. Das LSG hat gemeint, die Berufung betreffe wiederkehrende Leistungen für mehr als ein Jahr, ohne Bezugszeiten nach dem 25. Oktober 1994 einzubeziehen (§ 106 Abs 1 SGG; vgl dazu: BSGE 61, 45, 48 = SozR 4100 § 113 Nr 5 mwN), weil der Anspruch auf Alhi zeitlich unbegrenzt sei.
Das kann hier auf sich beruhen.
Die Vorinstanzen haben nämlich – wie sogleich auszuführen ist – zu Recht entschieden, daß die Alhi der Klägerin ab 1. Januar 1994 nach den von diesem Tage an geltenden Vorschriften zu bemessen ist. Die prozessualen Rechte der Klägerin werden damit nicht beeinträchtigt. Für die Bindungswirkung des durch die Klagabweisung bestätigten Änderungsbescheides der BA ist es unerheblich, ob die Berufung der Klägerin unzulässig oder unbegründet ist (in diesem Sinne bereits BSG SozR 4100 § 41 Nr 47 mwN).
3. Sachlich ist die Revision nicht begründet.
3.1 Mit dem Bescheid vom 12. Januar 1994 hat die BA die Anhörungspflicht nach § 24 Abs 1 SGB X nicht verletzt, denn sie ist mit ihrer Entscheidung nicht von tatsächlichen Angaben der Klägerin abgewichen (§ 24 Abs 2 Nr 3 SGB X), sondern hat lediglich der durch das Inkrafttreten des 1. SKWPG am 1. Januar 1994 sowie der AFG-Leistungsverordnung eingetretenen Rechtslage Rechnung getragen. Die BA hatte dabei gleichartige Verwaltungsakte in großer Zahl zu erlassen, so daß sie auch aus diesem Grunde von einer Anhörung absehen konnte (§ 24 Abs 2 Nr 4 SGB X). Das war auch nicht begründungsbedürftig, denn es handelte sich insoweit um eine Gestaltung des Verwaltungsverfahrens, nicht aber eine Entscheidung in der Sache (Stelkens/Bonk/Leonhardt, VwVfG, 3. Aufl, 1990, § 28 RdNr 37; vgl ferner: BSGE 69, 247, 249 = SozR 3-1300 § 24 Nr 4 mwN). Im übrigen waren der Klägerin die Umstände, die zum Absehen von einer Anhörung führten, ohne weiteres erkennbar (§ 35 Abs 2 Nr 2 SGB X).
3.2 Gesetzliche Grundlage des Bescheids vom 12. Januar 1994 ist § 136 Abs 1 Nr 2 AFG idF des 1. SKWPG, das insoweit am 1. Januar 1994 in Kraft getreten und nach § 242q Abs 5 AFG auch auf vor Inkrafttreten entstandene Leistungsansprüche anzuwenden ist, sowie die AFG-Leistungsverordnung 1994, die die Leistungssätze für die Alhi auf der Grundlage des § 136 Abs 3 AFG bestimmt. Danach beträgt die Alhi ab 1. Januar 1994 53 vH des um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderten Arbeitsentgelts iS der §§ 136 Abs 2, 112 AFG. Aufgrund dieser Vorschrift hat die BA ausgehend von einem wöchentlichen Bruttoarbeitsentgelt von 700,00 DM für die Zeit ab 1. Januar 1994 ohne Rechtsverstoß den wöchentlichen Zahlbetrag von 240,00 DM ermittelt. Dagegen erhebt auch die Klägerin keine Einwände.
3.3 Die Klägerin wendet sich gegen die Anwendung der §§ 136 Abs 1 Nr 2, 242q Abs 5 AFG idF des 1. SKWPG auf ihre Leistung, weil diese bereits mit dem Bescheid vom 14. Oktober 1993 bindend festgestellt war. Mit ihren Hinweisen auf allgemeine verfahrensrechtliche Regelungen (§ 48 Abs 1 und 2 SGB X; § 77 SGG) und verfassungsrechtliche Grundsätze kann sie nicht durchdringen.
Soweit die Klägerin sich darauf beruft, daß die Voraussetzungen für eine Durchbrechung der Bindungswirkung des Bescheids vom 14. Oktober 1993 nicht gegeben seien, ist auf die Voraussetzungen des § 48 SGB X nicht einzugehen. Aus § 242q Abs 5 Satz 2 AFG iVm § 242q Abs 2 Satz 3 AFG ergibt sich, daß Änderungsbescheide mit Wirkung vom 1. Januar 1994 an wirksam sind. Diese eindeutigen gesetzlichen Vorschriften rechtfertigen die von der BA mit dem Bescheid vom 12. Januar 1994 für die Zeit ab 1. Januar 1994 vorgenommene Regelung. Sie gehen als Spezialtatbestände den allgemeinen Vorschriften über die Änderung bindender Verwaltungsakte (§§ 44 ff SGB X) vor (BSGE 76, 162, 173 = SozR 3-4100 § 112 Nr 22; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 12).
Verfassungsrechtlich sind die angeführten Vorschriften nicht zu beanstanden. Mit Recht hat das LSG offengelassen, ob der Anspruch auf Alhi überhaupt der Eigentumsgarantie des Art 14 GG unterliegt. Unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbots sind die Vorschriften an materiell gleichen Merkmalen verfassungsrechtlich zu messen. Danach besteht ein absolutes Verbot unechter Rückwirkung nicht. Vielmehr kommt es insoweit auf eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an dem Erlaß der Regelung und dem Schutz des Vertrauens Betroffener auf den Fortbestand des geltenden Rechts an (BVerfGE 72, 141, 154 f mwN). Wie beim Umfang des Eigentumsschutzes arbeitslosenversicherungsrechtlicher Positionen ist danach entscheidend, daß der Eingriff im öffentlichen Interesse unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Eingriff zum Erreichen des angestrebten Ziels geeignet und erforderlich ist und die Betroffenen dadurch nicht übermäßig und in für sie unzumutbarer Weise belastet werden (BVerfGE 76, 220, 238 = SozR 4100 § 242b Nr 3 mwN). Von diesen Grundsätzen ist der Senat bereits für die das Arbeitslosengeld betreffenden Regelungen des 1. SKWPG ausgegangen (BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 12 mwN). Für die Alhi kann nichts anderes gelten (so für Regelungen ab 1. Januar 1995: BSG SozR 3-4100 § 136 Nr 4). Wegen der Gründe im einzelnen, die den Eingriff in die zuerkannte Rechtsposition verfassungsrechtlich rechtfertigen, wird auf die erwähnte Rechtsprechung des BSG, die der Klägerin im Prozeßkostenhilfeverfahren zugänglich gemacht worden ist (BSGE 76, 162, 173 ff = SozR 3-4100 § 112 Nr 22; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 12), Bezug genommen. Auch die Erwägungen des LSG beruhen auf diesen Grundsätzen. Die Frage nach differenzierenden Übergangsvorschriften, die das BSG für die Bemessung des Unterhaltsgeldes bei Teilnahme an Maßnahmen der beruflichen Bildung aufgeworfen hat (BSGE 76, 162, 177 = SozR 3-4100 § 112 Nr 22), stellt sich bei Bezug von Alhi nicht.
3.4 Schließlich ist die Berücksichtigung höherer Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung in den Leistungssätzen der AFG-Leistungsverordnung 1994 nicht zu beanstanden. Insoweit ist darauf hinzuweisen, daß die Gesamtsozialversicherungsbeiträge unzweifelhaft zu den gesetzlichen Abzügen, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, gehören und die nach § 136 Abs 1 AFG bei der Feststellung der Alhi zu berücksichtigen sind. Da der Anspruch auf Alhi nur in diesem gesetzlichen Rahmen entsteht, stellt sich die in der Revision aufgeworfene verfassungsrechtliche Frage in diesem Zusammenhang nicht. Das hat das LSG zutreffend hervorgehoben. Der Senat hat bereits entschieden, daß es sich bei der Minderung des Zahlbetrages durch Erhöhung von gesetzlichen Abzügen um eine Folge des gesetzlichen Bemessungssystems handelt (BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 12). Daran ist nach erneuter Prüfung festzuhalten.
Die Revision der Klägerin war danach zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen