Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Revision. Überprüfbarkeit der festgestellten Bestandskraft oder Bindungswirkung eines Verwaltungsakts durch das Revisionsgericht. Zweifel an tatsächlicher Bekanntgabe des Verwaltungsakts. Fehlen diesbezüglicher Feststellungen der Tatsacheninstanz. Divergenz. unterschiedliche Subsumtionsergebnisse bei Anwendung eines Rechtssatzes. Verjährung
Leitsatz (amtlich)
Die Feststellung der Tatsacheninstanz, ein Bescheid sei bestandskräftig oder bindend geworden, enthält eine durch das Revisionsgericht überprüfbare Rechtsanwendung.
Orientierungssatz
1. Zwar mag dann, wenn an der Bekanntgabe eines Bescheids weder nach dem Akteninhalt noch nach dem Vorbringen der Beteiligten irgendwelche Zweifel bestehen, die Aussage, die Behörde habe "mit Bescheid vom …." eine bestimmte Regelung getroffen, im Gesamtzusammenhang als noch ausreichende Feststellung auch zur erfolgten Bekanntgabe dieses Bescheids an den Betroffenen hingenommen werden. Eine solche Handhabung ist jedoch ausgeschlossen, wenn aufgrund konkreter Umstände begründete Zweifel an der tatsächlichen Bekanntgabe des Bescheids bestehen.
2. Eine Divergenz liegt nur vor, wenn eine Abweichung in einer Rechtsfrage revisiblen Rechts beabsichtigt ist und dies in einem divergierenden (abstrakten) Rechtssatz zum Ausdruck kommt (BSG vom 24.6.1985 - GS 1/84 = BSGE 58, 183, 186f = SozR 1500 § 42 Nr 10 S 14). Wenn sich hingegen lediglich im Einzelfall aufgrund der jeweils konkreten Sachverhalte unterschiedliche (Subsumtions-)Ergebnisse bei der Anwendung eines als solchen nicht in Frage gestellten Rechtssatzes ergeben, ist kein Verfahren nach § 41 SGG durchzuführen.
3. Die Verjährung wird auch durch schriftlichen Antrag auf die Altersrente gehemmt (vgl § 45 Abs 3 SGB 1). Zusätzlicher "mahnungsähnlicher Handlungen" gegenüber einer längere Zeit untätig gebliebenen Behörde bedarf es nicht.
Normenkette
SGG §§ 164, 163, 77, 41; SGB 10 §§ 37, 39 Abs. 1, § 44 Abs. 4; SGB 1 § 45
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 14. April 2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen früheren Beginn der Regelaltersrente der Klägerin.
Die im September 1932 in Polen geborene Klägerin lebt in Israel. Als anerkannte Verfolgte des Nationalsozialismus erhält sie seit 1972 eine monatliche Rentenzahlung nach dem Bundesentschädigungsgesetz. Im Oktober 2002 stellte sie beim israelischen National Insurance Institute einen von dort an die Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz (Bezeichnung ab Oktober 2005: Deutsche Rentenversicherung Rheinland - im Folgenden einheitlich: Beklagte) weitergeleiteten Antrag auf Altersrente aufgrund von Arbeitszeiten in den Ghettos Tłuste und Zaleszczyki. Ein weiterer, ausdrücklich auf Altersrente ab Juli 1997 unter Berücksichtigung des ZRBG gerichteter Antrag, den sie im Juni 2003 über ihren (jetzigen) deutschen Prozessbevollmächtigten unter Vorlage einer Vollmacht bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte eingereicht hatte, wurde ebenfalls der Beklagten zugeleitet und dort mit dem Antrag vom Oktober 2002 in einer Akte zusammengeführt.
Die Beklagte erstellte unter Angabe der der Klägerin zugeteilten Versicherungsnummer unter dem 28.6.2004 einen Bescheid, in dem sie "den Antrag vom 22.10.2002" ablehnte. Die Klägerin habe sich im Zeitraum 1942/43 in Tłuste aufgehalten, wo lediglich ein Zwangsarbeitslager bestanden habe, sodass keine Arbeitszeiten nach dem ZRBG angerechnet werden könnten. Der Bescheid war unmittelbar an die Klägerin unter der Anschrift "Str. Mivta , Haiva" (statt zutreffend: Str. Mivtza Haifa) gerichtet und sollte ihr mittels Einschreiben/Rückschein übersandt werden. Ein Rückschein befindet sich jedoch nicht bei den Akten. Diese enthalten auch keinen Vermerk über die Aufgabe des Bescheids zur Post; ebenso wenig geht aus ihnen hervor, dass ein Abdruck des Bescheids dem Bevollmächtigten der Klägerin übersandt wurde.
Am 16.7.2009 stellte die Klägerin über ihren deutschen Prozessbevollmächtigten bei der Beklagten mit der Angabe "Versicherungsnummer unbekannt" und unter Hinweis auf die neue Rechtsprechung des BSG zum ZRBG "erneut den Antrag auf Anerkennung einer Altersrente rückwirkend ab Juli 1997". Die Beklagte erkannte nunmehr den Zeitraum 1.7.1942 bis 30.6.1943 als Beitragszeit nach dem ZRBG an und bewilligte mit Bescheid vom 30.3.2010 ab 1.1.2005 Regelaltersrente. Unter Berücksichtigung eines Zugangsfaktors von 1,435 (Zuschlag von 0,005 je Monat für 87 Kalendermonate der Nichtinanspruchnahme der Rente nach Erreichen der Regelaltersgrenze im September 1997 bis Ende 2004) ergab sich ab April 2010 eine laufende Rentenzahlung in Höhe von monatlich 93,91 Euro sowie eine Nachzahlung für den Zeitraum Januar 2005 bis März 2010 in Höhe von 6299,82 Euro (einschließlich 569,07 Euro Zinsen). Zum Rentenbeginn ist in dem Bescheid ausgeführt, dass die Anspruchsvoraussetzungen ab 9.1997 erfüllt seien, die "höhere Leistung" jedoch "längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme des Bescheides erbracht" werde.
Der auf einen früheren Rentenbeginn gerichtete Widerspruch der Klägerin - unter Berufung darauf, dass § 3 ZRBG lex specialis gegenüber § 44 SGB X sei - ist erfolglos geblieben. Im Widerspruchsbescheid vom 26.8.2010 hat die Beklagte ausgeführt, die Ablehnung der Altersrente im Bescheid vom 28.6.2004 sei bestandskräftig geworden; diese Entscheidung habe sie gemäß § 44 SGB X überprüft und nunmehr die begehrte Rente bewilligt. Ausgehend von dem am 16.7.2009 gestellten Überprüfungsantrag werde die Rente gemäß § 44 Abs 4 SGB X zutreffend ab dem 1.1.2005 geleistet.
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 14.4.2011). Es hat im Tatbestand seiner Entscheidung festgestellt, dass die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin von Oktober 2002 mit Bescheid vom 28.6.2004 abgelehnt und dass diese hiergegen keine Rechtsmittel erhoben habe. In den Gründen ist ausgeführt, es ergebe sich aus § 44 Abs 4 SGB X, dass der Anspruch der Klägerin auf Rentenzahlung erst ab Januar 2005 bestehe. Diese Vorschrift werde hier nicht durch eine Spezialregelung verdrängt. Denn gemäß § 3 Abs 1 S 1 ZRBG sei ein Rentenbeginn zum 1.7.1997 nur für bis zum 30.6.2003 gestellte Rentenanträge möglich; dies komme für die Klägerin aber bereits aufgrund ihres Lebensalters ohnehin nicht in Betracht. Aus ihrem ursprünglichen (fristgerechten) Rentenantrag vom Oktober 2002 könne sie wegen der bestandskräftigen Ablehnung, die nach § 77 SGG bindend geworden sei, nichts mehr herleiten. Entscheidend sei daher allein der außerhalb der Frist von ihr gestellte Überprüfungsantrag. Es verstoße nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, dass Verfolgte, deren ursprünglicher (fristgemäßer) Rentenantrag noch nicht bestandskräftig abgelehnt worden sei, regelmäßig unter Berücksichtigung der Urteile des BSG vom Juni 2009 Rente ab dem 1.7.1997 bezögen, während im Rahmen von Überprüfungsbescheiden Verfolgte immer nur rückwirkend für die letzten vier Kalenderjahre Rente erhielten, wenn ihr ursprünglicher Rentenantrag zuvor bindend abgelehnt worden sei.
Mit ihrer vom SG zugelassenen Sprungrevision, deren Einlegung die Beklagte zugestimmt hat, rügt die Klägerin in ihrer Revisionsbegründung vom 1.7.2011 eine Verletzung von § 3 Abs 1 ZRBG, von § 99 Abs 1 SGB VI und von Art 3 Abs 1 GG. Zu Unrecht gehe das SG davon aus, dass § 44 Abs 4 SGB X den geltend gemachten Anspruch auf Zahlung der Rente ab dem 1.7.1997 ausschließe. Dem stehe hier die spezialgesetzliche Rückwirkungsregelung in § 3 Abs 1 ZRBG entgegen, nach der ein bis zum 30.6.2003 gestellter Antrag als am 18.6.1997 gestellt gelte. Zudem verletze die Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X den allgemeinen Gleichheitssatz, denn bei einem vergleichbaren Verfolgungsschicksal sei eine Differenzierung des Rentenbeginns nach dem Zeitpunkt der Antragstellung nicht vertretbar (Hinweis auf das Senatsurteil vom 3.5.2005 - B 13 RJ 34/04 R). Ebenso wenig sei dies mit der Intention des Gesetzgebers vereinbar, durch das ZRBG eine letzte Lücke im Recht der Wiedergutmachung zu schließen. Der Entschädigungsgedanke gebiete es vielmehr, für die Neufeststellung von ZRBG-Renten den Rentenbeginn auf den 1.7.1997 festzulegen.
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Die Klägerin beantragt sinngemäß, |
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das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 14. April 2011 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheids vom 30. März 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. August 2010 zu verurteilen, die Regelaltersrente bereits ab 1. Juli 1997 zu gewähren sowie die Nachzahlung zu verzinsen. |
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Die Beklagte beantragt, |
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die Revision als unbegründet zurückzuweisen. |
Sie hält an ihren Entscheidungen fest und verteidigt das angefochtene Urteil.
Im Revisionsverfahren hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin auf Nachfrage des Senats mit Schreiben vom 21.2.2012 mitgeteilt, es sei nicht mehr aufklärbar, wann genau der Bescheid vom 28.6.2004 der Klägerin bekanntgegeben worden sei; ihm selbst liege er nicht vor. Dem ist die Beklagte mit dem Hinweis entgegengetreten, dass die Klägerin den Zugang dieses Bescheids bislang nicht in Abrede gestellt habe. Hierauf hat ihr Prozessbevollmächtigter im Schriftsatz vom 3.5.2012 "vorsorglich bestritten", dass der Bescheid vom 28.6.2004 der Klägerin wirksam bekanntgegeben worden sei. Diese sei in dem früheren Verfahren nicht von ihm vertreten worden. Das Urteil des SG erwähne den Bescheid zwar, thematisiere dessen Zustellung jedoch nicht. Wenn dem Urteil zufolge die Klägerin kein Rechtsmittel gegen jenen Bescheid eingelegt habe, spreche dies dafür, dass der Bescheid ihr nicht bekanntgegeben worden sei. Daraus folge, dass der Rentenantrag vom Oktober 2002 noch nicht rechtskräftig abgelehnt und § 44 SGB X hier ohne Bedeutung sei.
Die Beklagte ist demgegenüber der Meinung, das SG sei sowohl in der Sachverhaltsdarstellung als auch in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils davon ausgegangen, dass der Erstantrag mit Bescheid vom 28.6.2004 wirksam abgelehnt worden sei. Da die Klägerin dies nicht fristgerecht mit Rügen angegriffen habe, müsse im Revisionsverfahren dieser Sachverhalt zugrunde gelegt werden. Entsprechend habe der 5. Senat des BSG im Urteil vom 8.2.2012 zu dem im Wesentlichen gleich gelagerten Verfahren B 5 R 76/11 R entschieden. Wenn der erkennende Senat dies hier anders sehen wolle, liege ein Fall der Divergenz vor. Im Übrigen verweist die Beklagte darauf, dass der Prozessbevollmächtigte - anders als er es nunmehr darstelle - die Klägerin schon im ersten Verwaltungsverfahren vertreten habe.
Auf einen Hinweis des Senats hat der Prozessbevollmächtigte eine persönliche Stellungnahme der Klägerin vorgelegt. Ihre handschriftlich abgefasste Erklärung vom 8.8.2012 hat folgenden Wortlaut: "To your request I checked once again all of my papers and could not find any of a negative decision of the German Social Security dated 28.06.2004. I hereby declare that I can not remember ever to have received any of this notification."
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision der Klägerin hat im Sinne der Aufhebung des SG-Urteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Erfolg (§ 170 Abs 2 S 2, Abs 4 S 1 SGG). Auf der Grundlage der vom SG getroffenen Feststellungen kann der Senat über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids vom 30.3.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.8.2010 nicht abschließend entscheiden.
1. Die Revision ist zulässig. Das SG hat dieses Rechtsmittel in seinem Urteil ausdrücklich zugelassen und die Klägerin hat die schriftliche Zustimmung der Beklagten zur Einlegung der Sprungrevision im Original rechtzeitig vorgelegt (§ 161 Abs 1 SGG). Auch ihre Revisionsbegründung genügt noch den Anforderungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Die Klägerin hat einen bestimmten Antrag gestellt, die ihrer Meinung nach verletzten Rechtsnormen konkret bezeichnet und zudem dargelegt, warum sie die Ausführungen des SG zur Anwendbarkeit des § 44 Abs 4 SGB X im Hinblick auf § 3 Abs 1 ZRBG und Art 3 Abs 1 GG für rechtsfehlerhaft halte. Dass sie dabei Argumente und Formulierungen aus anderen sozialgerichtlichen Entscheidungen übernommen hat, ist unschädlich.
2. Bei der Entscheidung über die zulässige Revision hat der Senat in vollem Umfang und grundsätzlich unabhängig von den vorgetragenen Revisionsgründen (§ 202 SGG iVm § 557 Abs 3 ZPO - vgl Lüdtke in ders, SGG, 4. Aufl 2012, § 170 RdNr 3; Fichte in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 170 RdNr 7; s auch May, Die Revision, 2. Aufl 1997, Kap VI RdNr 265 ff, 279 ff, 429 f) zu überprüfen, ob sich auf der Grundlage der im SG-Urteil festgestellten Tatsachen die dort ausgesprochene Rechtsfolge - Abweisung der Klage als unbegründet, weil der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 30.3.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.8.2010 rechtmäßig sei - herleiten lässt. Der Prüfungsumfang ist lediglich insofern beschränkt, als im Rahmen der Sprungrevision eventuelle Mängel im Verfahren des SG unbeachtlich sind (§ 161 Abs 4 SGG). Zudem ist das Revisionsgericht an die im Urteil des SG enthaltenen tatsächlichen Feststellungen gebunden (§ 163 SGG ).
Nach diesen Maßstäben kann der Senat nicht abschließend entscheiden, ob die angefochtenen Bescheide der Beklagten rechtmäßig sind.
a) Der in ihnen festgesetzte Beginn der Regelaltersrente der Klägerin aufgrund von Beitragszeiten nach dem ZRBG rückwirkend erst ab dem 1.1.2005 wäre allerdings rechtmäßig, wenn die Ablehnung einer solchen Altersrente im vorangegangenen Bescheid der Beklagten vom 28.6.2004 gegenüber der Klägerin bindend geworden wäre. In diesem Fall wäre ihr erneuter Rentenantrag vom 16.7.2009 als Überprüfungsantrag nach Maßgabe des § 44 SGB X zu beurteilen und könnte nach Korrektur der ursprünglich ablehnenden Entscheidung eine Rentenzahlung für zurückliegende Zeiträume nur unter den in § 44 Abs 4 SGB X genannten, in den angefochtenen Bescheiden umgesetzten zeitlichen Einschränkungen erfolgen (Senatsurteil vom 7.2.2012, zur Veröffentlichung in BSGE 110, 97 = SozR 4-5075 § 3 Nr 2 vorgesehen, sowie Urteil des 5. Senats vom 8.2.2012, zur Veröffentlichung in SozR 4-5075 § 3 Nr 1 vorgesehen).
b) Der erkennende Senat ist entgegen der Rechtsmeinung der Beklagten aufgrund der Regelung in § 163 SGG jedoch nicht gehalten, seiner Entscheidung zugrunde zu legen, dass nach den Ausführungen im SG-Urteil der ablehnende Bescheid vom 28.6.2004 gegenüber der Klägerin bindend geworden sei.
aa) Nach § 163 SGG ist das BSG nur an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen "tatsächlichen Feststellungen" gebunden; Einschränkungen der Entscheidungskompetenz des Revisionsgerichts in Bezug auf die Rechtsanwendung enthält die Vorschrift dagegen nicht (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 163 RdNr 2; s auch May, aaO Kap VI RdNr 429 f, zur Subsumtion des Sachverhalts unter eine Rechtsnorm als revisionsgerichtlich zu überprüfende Rechtsanwendung; zum Ganzen s auch BSG SozR 3-4100 § 64 Nr 3 S 17 f).
bb) Um Rechtsanwendung - mithin um eine revisionsgerichtlich zu überprüfende rechtliche Bewertung - handelt es sich bei der Aussage im SG-Urteil, die Ablehnung des ursprünglichen Rentenantrags der Klägerin vom Oktober 2002 sei "bestandskräftig" bzw "nach § 77 SGG bindend". Dabei hat die Rechtsfolge der Bindung an die in einem Verwaltungsakt getroffenen Regelungen gemäß § 77 SGG zur Voraussetzung, dass ein wirksamer Verwaltungsakt existiert, gegen den der Betroffene einen gegebenen Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt hat. Um diesen vom SG für zutreffend erachteten Subsumtionsschluss revisionsgerichtlich beurteilen zu können, bedarf es hinreichender tatsächlicher Feststellungen zu beiden Tatbestandsmerkmalen, nämlich dass (1) nach amtlicher Bekanntgabe einer behördlichen Entscheidung (§§ 31, 37 SGB X) (2) der davon Betroffene Rechtsbehelfe nicht oder erfolglos eingelegt hat (s hierzu BSG vom 31.1.2012 - SozR 4-2700 § 112 Nr 1 RdNr 28, 46).
cc) Entsprechende Feststellungen enthält das angefochtene SG-Urteil nicht in ausreichendem Umfang.
Im Tatbestand ist zwar (auf S 2) ausgeführt, die Klägerin habe gegen den "Bescheid vom 28.6.2004 … keine Rechtsmittel" erhoben. Es finden sich aber keine Anhaltspunkte tatsächlicher Art, die den Schluss darauf zulassen, dass dieser Bescheid der Klägerin bekanntgegeben und somit existent wurde. Nichts anderes folgt aus den Entscheidungsgründen des SG-Urteils, die ebenfalls Feststellungen im Sinne von § 163 SGG enthalten können (vgl BSG vom 10.8.2000 - B 11 AL 83/99 R - Juris RdNr 21; BSG SozR 4-2700 § 8 Nr 12 RdNr 9). Hier ist lediglich (auf S 5) vermerkt, die Klägerin habe "den Überprüfungsantrag 2009 gestellt".
Zwar mag dann, wenn an der Bekanntgabe eines Bescheids weder nach dem Akteninhalt noch nach dem Vorbringen der Beteiligten irgendwelche Zweifel bestehen, die Aussage, die Behörde habe "mit Bescheid vom …." eine bestimmte Regelung getroffen, im Gesamtzusammenhang als noch ausreichende Feststellung auch zur erfolgten Bekanntgabe dieses Bescheids an den Betroffenen hingenommen werden. Eine solche (pragmatische) Handhabung vermeidet der Prozessökonomie zuwiderlaufende Zurückverweisungen bei letztlich doch klarem Sachverhalt; sie ist jedoch ausgeschlossen, wenn aufgrund konkreter Umstände begründete Zweifel an der tatsächlichen Bekanntgabe des Bescheids bestehen.
Dies ist hier der Fall. Denn den Verwaltungsakten der Beklagten lässt sich nicht entnehmen, dass der Bescheid vom 28.6.2004 den Machtbereich der Beklagten verlassen und die Klägerin erreicht hat. Weder trägt der Entwurf des Bescheids einen Absendevermerk noch enthält die Akte das in anderen Fällen bei der Beklagten verwandte gesonderte Verfügungsblatt (Formblatt V0-60) mit detaillierten Anordnungen zur Art der Übermittlung des Bescheids und Angaben zum Tag der Erledigung. Ebenso wenig befindet sich ein Rückschein bei den Akten. Diese enthalten mithin - abgesehen von dem von der Sachbearbeiterin am 25.6.2004 abgezeichneten Entwurf des Bescheids vom 28.6.2004 - keinerlei Indizien, aus denen geschlossen werden kann, dass dieser Bescheid abgesandt worden wäre und die Klägerin in Israel oder ihren Bevollmächtigten in Deutschland erreicht hätte.
In einer solchen Situation kann der Angabe im SG-Urteil, die Klägerin habe gegen den "Bescheid vom 28.6.2004 (…) keine Rechtsmittel" erhoben, nicht - auch nicht inzident - die Feststellung entnommen werden, dass ihr dieser Bescheid bekanntgegeben worden sei. Zwar wird ein Verwaltungsakt erst durch Bekanntgabe an mindestens einen Betroffenen rechtlich existent (§ 39 Abs 1 SGB X - s hierzu Roos in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 39 RdNr 3; Engelmann ebenda, § 37 RdNr 3 mwN). Dennoch kann nicht allein aus der Erwähnung eines Bescheids in einem Gerichtsurteil darauf geschlossen werden, dass dieser auch ordnungsgemäß bekanntgegeben wurde. Entsprechendes gilt für die Feststellung, dass kein Rechtsmittel eingelegt wurde, denn das Fehlen eines Rechtsbehelfs ist auch dann zu erwarten, wenn kein Bescheid zugegangen ist.
Ebenso verhält es sich mit der Bemerkung in den Entscheidungsgründen des SG-Urteils, die Klägerin habe im Jahr 2009 einen "Überprüfungsantrag" gestellt. Hieraus ergeben sich nicht einmal ansatzweise tatsächliche Feststellungen zur Bekanntgabe des Bescheids vom 28.6.2004. Zudem handelt es sich bei der Einordnung als Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X um eine rechtliche Bewertung, die sich überdies nicht zwingend aus der im Tatbestand des SG-Urteils wiedergegebenen Feststellung ergibt, die Klägerin habe am 16.7.2009 "erneut die 'Anerkennung einer Altersrente' rückwirkend ab Juli 1997" beantragt.
dd) Der Senat kann die Bewertung treffen, dass das hier angefochtene SG-Urteil keine das Revisionsgericht bindenden Feststellungen zur Bekanntgabe des ablehnenden Bescheids der Beklagten enthält, ohne zuvor beim 5. Senat des BSG anzufragen, ob er an der seinem Urteil vom 8.2.2012 (B 5 R 76/11 R) zugrunde liegenden Rechtsauffassung festhalte (vgl § 41 Abs 2, Abs 3 S 1 SGG).
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Der 5. Senat hat in diesem Urteil ausgeführt (RdNr 12 f): |
"Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Zahlung von Regelaltersrente bereits ab 1.7.1997 nicht zu. |
Dies ergibt sich allerdings nur auf der Grundlage der für das Revisionsgericht verbindlichen Feststellungen des SG (vgl § 163 SGG). Danach hat die Klägerin den Ablehnungsbescheid vom 5.1.2004 nicht angefochten, sodass dieser bestandskräftig geworden ist und sich der geltend gemachte Anspruch nach § 44 SGB X richtet. Demgegenüber kommt auf der Grundlage der Verwaltungsakte der Beklagten durchaus in Betracht, dass der Bescheid vom 5.1.2004 der Klägerin nicht ordnungsgemäß bekannt gegeben worden sein könnte. Allerdings hat sich die Beklagte der vom Senat angeregten Prüfung einer damit in Erwägung zu ziehenden Erstentscheidung über den Rentenantrag der Klägerin verweigert." |
Anders als die Beklagte meint, weicht der erkennende Senat mit seiner Entscheidung nicht im Sinne des § 41 Abs 2 SGG von dem genannten Urteil des 5. Senats ab. Selbst wenn Umfang und Inhalt der Feststellungen zum Sachverhalt in dem dort zugrunde liegenden SG-Urteil (Urteil des SG Düsseldorf vom 19.4.2011 - S 15 R 1465/10 - Juris) und in dem hier angefochtenen Urteil im Wesentlichen übereinstimmen sollten, ist keine Rechtsprechungsabweichung zu besorgen. Denn eine Divergenz im vorgenannten Sinne liegt nur vor, wenn eine Abweichung in einer Rechtsfrage revisiblen Rechts beabsichtigt ist und dies in einem divergierenden (abstrakten) Rechtssatz zum Ausdruck kommt (BSG ≪GrS≫ BSGE 58, 183, 186 f = SozR 1500 § 42 Nr 10 S 14). Wenn sich hingegen - wie hier - lediglich im Einzelfall aufgrund der jeweils konkreten Sachverhalte (vgl BSG ≪GrS≫ aaO) unterschiedliche (Subsumtions-)Ergebnisse bei der Anwendung eines als solchen nicht in Frage gestellten Rechtssatzes ergeben, ist kein Verfahren nach § 41 SGG durchzuführen.
Die oben wiedergegebenen Ausführungen des 5. Senats enthalten bereits keinen generellen Rechtssatz zur Auslegung oder Anwendung revisiblen Rechts - hier: des § 163 SGG. Es handelt sich vielmehr um die Mitteilung des Ergebnisses eines Subsumtionsschlusses, nämlich dass nach Meinung des 5. Senats das SG Düsseldorf in dem Urteil S 15 R 1465/10 die Revisionsinstanz bindende Feststellungen - "vgl § 163 SGG" - getroffen habe, und damit um eine ganz wesentlich von den jeweils konkreten Umständen des Einzelfalls (insbesondere von der Gewichtigkeit der nach jeweiliger Aktenlage bestehenden Zweifel an einer Bekanntgabe des Bescheids - s oben unter cc) geprägte Aussage. Eine Divergenz käme lediglich dann in Betracht, wenn der Entscheidung des 5. Senats ein Rechtssatz des Inhalts entnommen werden könnte, dass die Feststellung der Vorinstanz, ein Bescheid sei nicht angefochten worden, stets und zwingend (unabhängig vom jeweils konkret zugrunde liegenden Sachverhalt) auch die bindende Feststellung einer wirksamen Bekanntgabe dieses Bescheids enthalte, oder dass das Revisionsgericht entgegen dem Wortlaut von § 163 SGG auch an rechtliche Schlussfolgerungen der Vorinstanz gebunden sei. Beides ist hier jedoch ersichtlich nicht der Fall.
3. Ohne ausreichende Feststellungen dazu, ob der Bescheid vom 28.6.2004 der Klägerin bekanntgegeben wurde, kann der Senat nicht entscheiden, ob zu Lasten der Klägerin die Vier-Jahres-Grenze des § 44 Abs 4 SGB X für rückwirkende Rentenzahlungen anzuwenden ist. Das Urteil des SG mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen ist deshalb aufzuheben und die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Tatsacheninstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 S 2 SGG).
Eine Zurückverweisung des Rechtsstreits ist nicht etwa deshalb entbehrlich, weil sich die Entscheidung des SG unabhängig von einer Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X aus anderen Gründen als zutreffend darstellt (§ 170 Abs 1 S 2 SGG). Insbesondere ist die Klage auf Zahlung von Altersrente für den Zeitraum von Oktober 1997 bis Dezember 2004 nicht bereits aufgrund Verjährung (§ 45 SGB I) abzuweisen. Es ist schon nicht festgestellt, dass die Beklagte die Einrede der Verjährung erhoben hätte (vgl BSGE 79, 177, 179 = SozR 3-1200 § 45 Nr 6 S 21). Im Übrigen war die Verjährung aufgrund des schriftlichen Antrags der Klägerin auf die Rentenleistung vom Oktober 2002 gemäß § 45 Abs 3 SGB I (idF der ab 1.1.2002 geltenden Fassung von Art 5 Nr 3 des Gesetzes vom 21.6.2002, BGBl I 2167) gehemmt; die Hemmung endete frühestens sechs Monate nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag. Zusätzlicher "mahnungsähnlicher Handlungen" gegenüber einer längere Zeit untätig gebliebenen Behörde bedurfte es nicht (vgl BSG SozR 3-1200 § 45 Nr 1 S 3 f sowie - in Abgrenzung hiervon - zum Recht der abschnittsweise zu bewilligenden Arbeitslosenhilfe BSG SozR 3-1200 § 45 Nr 9; zu einer ähnlichen Konstellation s auch Senatsurteil vom 19.4.2011 - SozR 4-6480 Art 27 Nr 1 RdNr 35, 38).
Der Senat macht nach pflichtgemäßem Ermessen von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache angesichts des Lebensalters der Klägerin zur beschleunigten abschließenden Erledigung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 4 S 1 SGG).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 3532075 |
AnwBl 2013, 184 |
SGb 2012, 716 |
Breith. 2013, 456 |
NJOZ 2014, 549 |