Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage an den Großen Senat. Einlegung der Sprungrevision. Form. Einwilligung vor Erlass des Urteils zu Protokoll des Gerichts erster Instanz

 

Orientierungssatz

Ist dem Erfordernis des § 161 Abs 1 S 2 SGG genügt, wenn der Revisionskläger innerhalb der Revisionsfrist eine beglaubigte Abschrift des Protokolls der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht vorgelegt, in der die Beteiligten vor Verkündung des Urteils übereinstimmend erklärt haben, sie seien mit der Einlegung der Sprungrevision einverstanden?

 

Normenkette

SGG § 161 Abs. 1 S. 2; BGB § 126 Abs. 1

 

Tenor

Ist dem Erfordernis des § 161 Abs. 1 Satz 2 SGG genügt, wenn der Revisionskläger innerhalb der Revisionsfrist eine beglaubigte Abschrift des Protokolls der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht vorlegt, in der die Beteiligten vor Verkündung des Urteils übereinstimmend erklärt haben, sie seien mit der Einlegung der Sprungrevision einverstanden?

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der Anrufung des Großen Senats liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Klage ist auf Vorverlegung des Beginns von Hinterbliebenenrenten aus der Invalidenversicherung (JV.) gerichtet. Die Berufung war somit nach § 146 Sozialgerichtsgesetz (SGG) a.F. ausgeschlossen. Sie ist aber vom Sozialgericht (SG.) zugelassen worden. Es konnte demnach Sprungrevision eingelegt werden (§ 161 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 150 Nr. 1 SGG).

Die in erster Instanz unterlegene beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA.) hat innerhalb der durch § 164 Abs. 1 Satz 1 SGG bestimmten Frist Sprungrevision eingelegt. Sie hat ihrer Revisionsschrift eine beglaubigte Abschrift der Niederschrift über die letzte mündliche Verhandlung vor dem SG. beigefügt, die folgende - vor Verkündung des Urteils abgegebene - Erklärung enthält:

"Beide Parteien erklären, daß sie mit der Einlegung der Sprungrevision einverstanden sind. v.u.g."

Einige Monate nach Ablauf der Revisionseinlegungsfrist hat die Revisionsklägerin, als von den Revisionsbeklagten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Sprungrevision geäußert worden waren, dem Revisionsgericht das schriftliche Einverständnis des Prozeßbevollmächtigten der Revisionsbeklagten mit der Einlegung der Sprungrevision vorgelegt.

II.

Der Senat ist der Auffassung, daß die zu Protokoll des Gerichts erster Instanz erklärte Einwilligung in die Sprungrevision der "schriftlichen Erklärung" (§ 161 Abs. 1 Satz 2 SGG) gleichzusetzen ist. Er hält deshalb die Sprungrevision im vorliegenden Streitfall für zulässig.

Dieser Auffassung steht die Entscheidung des 9. Senats vom 12. April 1956 (BSG. 3, 43) entgegen. Zwar unterscheidet sich der dem 3. Senat zur Entscheidung vorliegende Fall nicht unerheblich von dem Sachverhalt, den der 9. Senat zu beurteilen hatte; In dem Fall des 9. Senats war die beglaubigte Protokollabschrift erst nach Ablauf der Revisionsfrist vorgelegt worden; auch der 3. Senat würde bei einer solchen Sachlage die Sprungrevision für unzulässig halten. Der 9. Senat hat jedoch durch Leitsatz und Art der Begründung zum Ausdruck gebracht, daß seine Entscheidung gerade auf dem Gedanken beruhe, die "schriftliche" Erklärung könne schlechthin nicht durch die vom SG. beurkundete Erklärung ersetzt werden. Er hat überdies auf Anfrage des 3. Senats bestätigt, daß diese Auffassung als tragende Begründung seiner Entscheidung anzusehen ist.

Deshalb hat der 3. Senat den Großen Senat nach § 42 SGG angerufen.

III.

Der 3. Senat begründet seine Auffassung wie folgt:

1. Der 3. Senat stimmt mit dem 9. Senat darin überein, daß die Einwilligungserklärung des Rechtsmittelgegners eine Prozeßhandlung ist (BSG. 3, 43 [44]; vgl. auch Wieczorek, ZPO Anm. A I c 3 zu § 566 a und Anm. B II c zu § 38). Wie bei allen Prozeßhandlungen schließt deshalb auch hier die besondere Blickrichtung zum Prozeß in der Regel aus, daß sie als rechtsgeschäftliche Willenserklärung behandelt wird. Deshalb entfällt die Anwendung der Vorschriften des bürgerlichen Rechts über Anfechtbarkeit wegen Willensmängeln oder über Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen die guten Sitten oder über Unzulässigkeit wegen Verstoßes gegen das Schikaneverbot (so die in BSG. 3, 44 zitierte Entscheidung des RG. in RGZ. 162, 65 [68], die mit dieser Konkretisierung den vorangestellten Satz verdeutlicht, daß Prozeßhandlungen in Voraussetzungen, Formgeboten, Zweck, Inhalt und Wirksamkeit nur dem Prozeßrecht und nicht dem Privatrecht unterliegen).

Ist demnach davon auszugehen, daß Prozeßhandlungen eigenständig nach den Normen des Verfahrensrechts zu beurteilen sind, so schließt das dennoch nicht aus, daß Normen, die in anderen Gesetzen als dem speziellen Prozeßordnungsgesetz enthalten sind, über ihren besonderen Anwendungsbereich hinaus aber allgemeine Bedeutung haben, für Prozeßhandlungen relevant sein können. Die hier zur Erörterung stehende Prozeßhandlung der Einwilligungserklärung ist selbst Beleg dafür. Was unter "schriftlicher" Erklärung zu verstehen ist, kann weder aus § 161 noch aus anderen Vorschriften des SGG entnommen werden. Der Ausdruck ist vieldeutig. Mit Recht hat daher der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG.) (BSG. 1, 243 [244 f.] zur Auslegung des prozeßrechtlichen Begriffs der "Schriftlichkeit" auf einen allgemeinen Rechtsgedanken zurückgegriffen, der in § 126 Abs. 1 BGB seine Ausprägung gefunden hat; Schriftform bedeutet, daß "die Urkunde von dem Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift oder mittels gerichtlich oder notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichnet" ist.

Ist aber § 126 Abs. 1 BGB Ausdruck eines über das bürgerliche Recht hinausgreifenden Rechtsgedankens, so liegt die Vermutung nahe, daß der den Abs. 1 nur ergänzende Abs. 3 der gleichen Vorschrift, wonach die schriftliche Form durch die gerichtliche oder notarielle Beurkundung ersetzt wird, gleichfalls allgemeine Geltung hat. Dieser Vorschrift liegt offenbar die Auffassung zugrunde, daß die gerichtliche oder notarielle Beurkundung "förmlicher" als die Schriftform ist, noch größere Garantien dafür bietet, daß die Erklärung von demjenigen stammt, den die Urkunde als Erklärenden ausweist, und deshalb als die stärkere Form der Beweissicherung die schwächere in sich schließt. Dieser Grundgedanke gilt nicht nur für das bürgerliche Recht.

Seine Übertragung auf das Verfahrensrecht würde sich demnach nur dann verbieten, wenn dadurch anerkannte Verfahrensgrundsätze gefährdet würden. Es ist aber nicht ersichtlich, welches von den das Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit beherrschenden Prinzipien dadurch beeinträchtigt würde, daß die Erklärung der Einwilligung in die Sprungrevision nicht "schriftlich", sondern als gerichtlich beurkundete Erklärung - in beglaubigter Abschrift - vorgelegt wird. Schon aus dem Wortlaut des § 161 Abs. 1 SGG und dem Verhältnis des Satzes 1 zu Satz 2 daselbst geht hervor, daß es in erster Linie um die "Einwilligung" des Rechtsmittelgegners geht; sie ist das essentiale, ihre Form - "Schriftlichkeit" - das accidentale dieser Prozeßhandlung. Die Regelung will sicherstellen, daß der Rechtsmittelinteressent und im weiteren Verfolg das Revisionsgericht bis zum Ablauf der Revisionsfrist (BSG. v. 13.12.1956 in SozR. SGG § 161 Bl. Da 3 Nr. 6) Gewißheit über die Erklärung der Einwilligung haben. Im Rahmen dieses Prozeßzwecks läßt das für die Sozialgerichtsbarkeit geltende Verfahrensrecht jede vertretbare Erleichterung zu. Anders als im Zivilprozeß unterliegt die Einwilligungserklärung nicht dem Vertretungszwang des § 166 SGG (BSG. 3, 13 [14 f.]). Sie kann sogar telegrafisch erklärt werden (BSG. vom 27.2.1957 in SozR. SGG § 161 Bl. Da 3 Nr. 7), was schlechterdings - man denke nur an die Möglichkeit der telephonischen Telegrammaufgabe durch einen Anonymus - nichts mehr mit "Schriftlichkeit" zu tun hat und ehrlicherweise nur mit dem "praktischen Bedürfnis" (a.a.O. Bl. Da 3 Rücks.) gerechtfertigt werden kann. Insoweit könnte man von - nach Auffassung des Senats durchaus vertretbaren und aus dem Wesen des sozialgerichtlichen Verfahrens heraus begründeten - Lockerungen der Formenstrenge sprechen. Hierunter fällt aber nicht die Möglichkeit, den Nachweis der Einwilligungserklärung durch Vorlage einer beglaubigten Abschrift der gerichtlich beurkundeten Erklärung au führen. Dadurch wird nicht die "Strenge" der Schriftform gelockert. Es wird im Gegenteil ein Mehr an Förmlichkeit erbracht, das den mit der Einwilligungserklärung verfolgten Prozeßzweck in der stärksten, überhaupt denkbaren Form zu fördern geeignet ist. Diese Möglichkeit nicht zuzulassen, hieße nach Auffassung des Senats einer formalen Gesetzesauslegung das Wort reden, die weder mit dem Sinn und Zweck des sozialgerichtlichen Verfahrens noch mit der vom BSG. in seiner Rechtsprechung zur Einwilligungserklärung verfolgten Grundtendenz in Einklang zu bringen wäre.

Demgegenüber kann nicht - im Sinne eines argumentum e contrario - darauf verwiesen werden, daß das SGG verschiedentlich ausdrücklich statt der Einreichung eines Schriftsatzes die Erklärung "zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle" (§ 90 Abs. 1: Klageerhebung; § 151 Abs. 1 und 2: Berufungseinlegung) zuläßt. Diese Rechtswohltat betrifft nur mittelbar die Frage der Form. In erster Linie verfolgen die genannten Vorschriften den Zweck, für solche bestimmenden Schriftsätze, bei denen für den im Rechtsverkehr ungewandten Rechtsuchenden ein besonderes Bedürfnis nach sachgemäßer Abfassung seines Anliegens besteht, staatliche Hilfe in Gestalt der Mitwirkung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle - nicht des Richters - zur Verfügung zu stellen. Das berührt aber nicht die Frage, ob und mit welcher Wirkung das Gericht Erklärungen der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung protokollieren kann oder muß. Eher könnte man die Frage aufwerfen, ob es überhaupt zulässig ist, solche Erklärungen der Beteiligten in das gerichtliche Protokoll aufzunehmen, die nicht notwendig in der mündlichen Verhandlung abgegeben zu werden brauchen, es sei denn, daß das Gesetz (vgl. § 101 SGG für Vergleich und Anerkenntnis) ihre Aufnahme in das Gerichtsprotokoll für zulässig erklärt. Doch gehören anerkanntermaßen Prozeßhandlungen wie der Rechtsmittelverzicht zu den "wesentlichen Vorgängen der Verhandlung" (§ 122 Abs. 1 Satz 2 SGG), die protokolliert werden müssen, obwohl das Gesetz insoweit nichts vorschreibt (vgl. § 514 ZPO). Das Wesen der Erklärung der Einwilligung in die Sprungrevision ist aber gerade der Verzicht auf das Rechtsmittel - der Berufung - (§ 161 Abs. 2 SGG), so daß keine Bedenken bestehen, die Aufnahme der Einwilligungserklärung in das gerichtliche Protokoll zumindest für zulässig zu halten.

Schließlich kann die Wirksamkeit der Einwilligungserklärung auch nicht deshalb in Frage gestellt werden, weil sie vor Erlaß des Urteils abgegeben wurde, und zwar wechselseitig von beiden Beteiligten. Zwar steht keineswegs von vornherein fest, daß beide Beteiligten in die Lage kommen werden, Sprungrevision einzulegen: Offen ist zu diesem Zeitpunkt, wer von den Beteiligten durch das Urteil beschwert werden wird und ob das SG. die Berufung zulassen wird oder ein wesentlicher Mangel des Verfahrens des SG. gerügt werden kann (§ 161 Abs. 1 Satz 1 i. Verb. mit § 150 Nr. 1 und 2 SGG). Die Einwilligungserklärung kann demnach durch den Erlaß des Urteils gegenstandslos werden. Trotzdem wird die Einwilligungserklärung vor Erlaß des Urteils - insbesondere in der wechselseitigen Form, in der sich Kläger und Beklagter noch in der Ungewißheit über den Inhalt des erstinstanzlichen Urteils gegenseitig die Chance einer schnelleren letztinstanzlichen Entscheidung einräumen - als zulässig anzusehen sein, weil sie einem praktischen Bedürfnis entspricht und mit keinem Prozeßgrundsatz in Widerspruch steht. Für sie gilt das gleiche wie für den Rechtsmittelverzicht, den sie ja - in beschränktem Umfange - darstellt (s.o. S. 7). Nach durchaus herrschender Meinung ist der Rechtsmittelverzicht vor Erlaß des Urteils zulässig, wobei als für die hier zu entscheidende Frage unerheblich offen bleiben kann, ob der Verzicht in diesem Falle nur durch Vertrag erfolgen kann (vgl. RGZ. 102, 217 [220 ff.]; 104, 133 [135]; Stein-Jonas-Schönke-Pohle ZPO 18. Aufl. Anm. I zu § 514; Baumbach-Lauterbach, ZPO 25. Aufl. Anm. 1 zu § 514. Rosenberg, Lehrb. d. Dtsch. Zivilprozeßr. 7. Aufl. S. 640; a.A. Wieczorek ZPO Anm. B II e 1 zu § 514).

Hält man es demnach für zulässig, daß die Einwilligung in die Sprungrevision vor Erlaß des Urteils zu Protokoll des SG. erklärt wird, so bleibt letztlich zu fragen, wie der Revisionskläger seiner Pflicht genügen kann, die beurkundete Erklärung "der Revisionsschrift beizufügen" (§ 161 Abs. 1 Satz 2 SGG) oder sie zumindest vor Ablauf der Revisionsfrist dem BSG. vorzulegen (SozR. SGG § 161 Bl. Da 3 Nr. 6). Die Vorlage des Sitzungsprotokolls selbst als Teils der Gerichtsakten scheidet praktisch aus. Die Einreichung einer einfachen Abschrift des Sitzungsprotokolls bietet nicht genügend Sicherheit (vgl. BSG. vom 12.12.1958 in SozR. SGG § 161 Bl. Da 5 Nr. 12). Indessen wird es in Anlehnung an die für den Urkundenbeweis getroffene Regelung für ausreichend zu erachten sein, daß das Sitzungsprotokoll "in einer beglaubigten Abschrift, die hinsichtlich der Beglaubigung die Erfordernisse einer öffentlichen Urkunde an sich trägt" (§ 435 Satz 1 ZPO), vorgelegt wird. Damit ist dem Bedürfnis nach Gewißheit darüber, daß der Rechtsmittelgegner seine Einwilligung in die Sprungrevision erklärt hat, in mehr als ausreichendem Maße Rechnung getragen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2767840

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