Verfahrensgang
OLG Dresden (Beschluss vom 28.10.2010; Aktenzeichen 1 ARs 40/10) |
Tenor
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 28. Oktober 2010 – 1 ARs 40/10 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 16.000 EUR (in Worten: sechzehntausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Der Beschwerdeführer, ein Rechtsanwalt, wendet sich gegen einen Beschluss, mit dem das Oberlandesgericht ihm die Bewilligung eines Vorschusses auf die zu erwartende Pauschgebühr für seine Tätigkeit als Pflichtverteidiger in einem Strafverfahren vor dem Amtsgericht versagt hat.
1. a) Einem als Pflichtverteidiger bestellten Rechtsanwalt ist gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz ≪RVG≫) für das ganze Verfahren oder für einzelne Verfahrensabschnitte auf Antrag eine Pauschgebühr zu bewilligen, die über die Gebühren nach dem Vergütungsverzeichnis (RVG-VV) hinausgeht, wenn die in den Teilen 4 bis 6 der Anlage 1 zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz bestimmten Gebühren wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit nicht zumutbar sind. Auf Antrag ist außerdem ein angemessener Vorschuss zu bewilligen, wenn dem Pflichtverteidiger insbesondere wegen der langen Dauer des Verfahrens und der Höhe der zu erwartenden Pauschgebühr nicht zugemutet werden kann, die Festsetzung der Pauschgebühr abzuwarten (§ 51 Abs. 1 Satz 5 RVG).
b) Der Beschwerdeführer war in zwei umfangreichen Strafverfahren als Pflichtverteidiger tätig.
aa) Am 8. April 2009 ordnete das Landgericht den Beschwerdeführer in einem Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung einem von mehreren Angeklagten als Pflichtverteidiger bei. Sein Mandant befand sich in Untersuchungshaft und war der deutschen Sprache nur eingeschränkt mächtig. Der Beschwerdeführer nahm Akteneinsicht in die Ermittlungsakte und die Beiakten; diese waren ihm auf Datenträgern übermittelt worden und mussten zunächst in das PDF-Format konvertiert werden, was etwa vier Stunden dauerte. Um die Ermittlungsakte, die nach der Konvertierung 7.732 Seiten umfasste, durchzuarbeiten, benötigte der Beschwerdeführer überschlägig etwa 129 Stunden. Während des Ermittlungsverfahrens stellte er außerdem eigene Ermittlungen zum Verbleib entlastender Unterlagen an und hielt mehrere telefonische und persönliche Besprechungen mit seinem Mandanten und dessen Ehefrau sowie mit den Verteidigern anderer Mitbeschuldigter ab. Außerdem beantragte er Telefon- und Besuchserlaubnisse und eine Haftprüfung, nahm an Haftprüfungsterminen teil, führte das Haftbeschwerdeverfahren durch und besuchte seinen Mandanten mindestens viermal in der Justizvollzugsanstalt. Aufgrund der Ermittlungsakte, die inzwischen aus vier Postkisten mit Aktenbänden und aus drei Umzugskisten mit Telekommunikationsüberwachungsprotokollen – insgesamt 55 Leitzordnern, Akten, Beiakten und Heften mit einem Gesamtumfang von 16.587 Seiten – bestand, hat die Staatsanwaltschaft im Dezember 2009 eine 124 Seiten umfassende Anklage zum Landgericht erhoben. Der Beschwerdeführer ließ, nachdem er nochmals die Akte eingesehen hatte, insgesamt 16.587 Kopien herstellen. Der Beschwerdeführer benötigte nach eigenen Angaben etwa 216 Stunden, um die Akte durchzuarbeiten. Während des Eröffnungsverfahrens arbeitete er die Anklageschrift durch, korrespondierte mit Verteidigern der Mitangeklagten und hielt mehrere Besprechungen mit seinem Mandanten.
Neben einer Auslagen- und Dokumentenpauschale von 2.427,66 EUR erhielt er einen Vorschuss auf seine für das Ermittlungsverfahren gesetzlich vorgesehene Pflichtverteidigervergütung in Höhe von 952,72 EUR. Sein Antrag auf Bewilligung einer Pauschvergütung in Höhe von 5.000 EUR für das vorbereitende Verfahren und auf Bewilligung eines Vorschusses auf die Pauschvergütung in Höhe von 8.000 EUR ist bislang noch nicht beschieden worden.
bb) Am 11. Mai 2010 hat zudem das Amtsgericht den Beschwerdeführer in einem weiteren Strafverfahren einem von mehreren Angeklagten als Pflichtverteidiger beigeordnet, nachdem gegen sie eine 28 Seiten umfassende Anklage wegen gemeinschaftlicher Begehung der Straftat des Vorenthaltens und der Veruntreuung von Arbeitsentgelt zugestellt worden war. Der Beschwerdeführer nahm daraufhin Akteneinsicht in die Ermittlungsakte nebst Beiakten, die aus acht Umzugskartons mit 65 Leitzordnern besteht, und ließ hiervon 25.142 Kopien fertigen. Hierfür erhielt er eine Dokumentenpauschale von 4.059,92 EUR. Für die Lektüre der Akten benötigte der Beschwerdeführer nach eigenen Angaben überschlägig etwa 410 Stunden. Weitere Arbeitszeit fiel an, als er die Anklageschrift durcharbeitete und Besprechungen mit dem Angeklagten durchführte. Am 30. August 2010 hat er die Bewilligung eines Vorschusses auf die zu erwartende Pauschvergütung für das Verfahren in Höhe von 16.000 EUR beantragt. Die Bezirksrevisorin ist der Ansicht, ihm sei allenfalls ein Vorschuss in Höhe von 396 EUR zu bewilligen. Ein Hauptverhandlungstermin ist in dem Verfahren noch nicht bestimmt worden.
cc) Der große Umfang der beiden Pflichtverteidigermandate brachte es mit sich, dass der Beschwerdeführer nach eigenen Angaben nur etwas mehr als die Hälfte der von ihm erbrachten wöchentlichen durchschnittlichen Arbeitszeit von 50 Stunden aufwenden konnte, um andere Mandate zu bearbeiten und um seinen Kanzleibetrieb aufrecht zu erhalten. In seiner übrigen Arbeitszeit und darüber hinaus auch in seiner Freizeit, an Wochenenden und an Feiertagen bearbeitete er die Pflichtverteidigermandate.
dd) Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Kanzlei des Beschwerdeführers entwickelten sich wie folgt: Von Januar bis August 2010 erwirtschaftete er einen Umsatz von 101.593 EUR, das Betriebsergebnis betrug 30.400 EUR. Seine Einnahmen und sein Betriebsergebnis in den Vorjahren waren höher: Im gleichen Zeitraum im Jahr 2009 hatte er einen Umsatz von 124.579 EUR und ein Betriebsergebnis von 58.411 EUR erwirtschaftet, im gesamten Jahr 2009 einen Umsatz von 187.405 EUR und ein Betriebsergebnis von 106.330 EUR. Im Jahr 2008 erzielte der Beschwerdeführer einen Gesamtumsatz von 182.130 EUR und ein Betriebsergebnis von 77.134 EUR; von Januar bis August 2008 betrugen der Umsatz 126.598 EUR und das Betriebsergebnis 55.490 EUR. Von Januar bis August 2007 erzielte er einen Umsatz von 102.732 EUR und ein Betriebsergebnis von 34.739 EUR. Im gesamten Jahr 2007 erzielte er einen Umsatz von 161.772 EUR und ein Betriebsergebnis von 56.178 EUR. Der Umsatz im Jahr 2006, seinem ersten Betriebsjahr, betrug 198.637 EUR, das Betriebsergebnis 94.855 EUR. Von Januar bis August 2006 erwirtschaftete der Beschwerdeführer einen Umsatz von 137.672 EUR und ein Betriebsergebnis von 73.633 EUR.
Dem Beschwerdeführer gelang es nicht, die finanziellen Einbußen zu überbrücken. Eine entsprechende Darlehensanfrage bei einer Bank wurde mit Blick auf die derzeit rückläufige Entwicklung der wirtschaftlichen Situation seiner Kanzlei abschlägig beschieden. Eine weitere Darlehensanfrage blieb ebenfalls erfolglos, obwohl eine andere Bank ihm – gegen Einräumung umfassender, die Kreditsumme um mehr als 100% übersteigender Sicherheiten – die Übernahme einer Bürgschaft in Aussicht gestellt hatte. Der Beschwerdeführer konnte fällige Steuern zunächst nur verspätet und zuletzt gar nicht mehr zahlen. Bei Einlegung der Verfassungsbeschwerde im November 2010 belief sich die Höhe der ausstehenden Steuerschulden einschließlich Säumniszuschlägen und sonstiger Nebenkosten auf nahezu 10.000 EUR. Das Finanzamt hat wegen der Steuerschulden bereits seine Ansprüche auf Zahlung der Pauschvergütung in den beiden Strafverfahren gepfändet. Der Beschwerdeführer musste außerdem inzwischen das Angestelltenverhältnis mit seiner Ehefrau aus betriebsbedingten Gründen kündigen.
c) Durch Beschluss vom 28. Oktober 2010 hat das Oberlandesgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung eines Vorschusses auf die zu erwartende Pauschvergütung für seine Pflichtverteidigung im Verfahren vor dem Amtsgericht zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dem Antrag könne zur Zeit nicht entsprochen werden. Zwar sei der Aktenumfang mit weit über 24.000 Blatt außerordentlich umfangreich. Jedoch sei zu einer besonderen Schwierigkeit der Sache nicht ausreichend vorgetragen. Allerdings sei grundsätzlich die Gewährung einer Pauschgebühr bereits wegen des besonderen Umfangs des Verfahrens möglich. Bislang habe außer der Zustellung der Anklage und der Beiordnung des Beschwerdeführers nichts Verfahrensförderndes geschehen können; insbesondere seien noch keine Hauptverhandlungstermine bestimmt oder abgesprochen worden. Es gebe keinerlei Hinweise darauf, wie viele Hauptverhandlungstermine zur Urteilsfindung notwendig werden könnten. Der Umfang einer etwaigen Pauschvergütung für die erste Instanz lasse sich zur Zeit in keiner Weise abschätzen. Nachdem das Verfahren bisher nicht weiter habe gefördert werden können, habe der Beschwerdeführer, der nach eigenem Vortrag regelmäßig mindestens 50 Stunden pro Woche arbeite, ausreichend Zeit gehabt, auch andere Mandate zu übernehmen und zu bearbeiten. Damit sei es ihm zumutbar, die Festsetzung der Pauschgebühr abzuwarten. Mit weiterem Verfahrensfortgang sei sein tatsächlicher Aufwand besser zu überblicken. Ein Ausscheiden des Beschwerdeführers als Pflichtverteidiger, das eine Abrechnung erforderlich erscheinen ließe, stehe nicht in Rede.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG. Der Beschluss verletze ihn in seiner Berufsfreiheit, weil seine Tätigkeit als Pflichtverteidiger, die er aufgrund hoheitlicher Indienstnahme erbringe, nicht angemessen vergütet werde. Die Annahme des Oberlandesgerichts, er hätte die als Pflichtverteidiger zu erbringenden Leistungen neben seiner sonstigen beruflichen Tätigkeit erbringen können, gehe fehl. Er persönlich und seine Kanzleikräfte seien erheblich durch die Pflichtverteidigermandate beansprucht worden. Die hierdurch eingeschränkte Möglichkeit, andere Mandate zu übernehmen und weitere Einkünfte zu erzielen, habe zu erheblichen finanziellen Einbußen geführt und sich auch nachhaltig auf die existenziellen Lebensgrundlagen seiner gesamten Familie einschließlich seiner drei minderjährigen Kinder ausgewirkt. Falls die zu erwartende Pauschvergütung nicht festgesetzt und zur Auszahlung gebracht werde, sei er in seiner Existenz bedroht und müsse sogar mit einem Widerruf seiner Zulassung zur Rechtsanwaltschaft rechnen, weil ihm in diesem Falle Vermögensverfall drohe. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen, dass der Stundensatz von etwa 40 EUR, den er angesetzt habe, nicht einmal ansatzweise kostendeckend sei.
3. Das Sächsische Staatsministerium hat von der Möglichkeit, eine Stellungnahme abzugeben, keinen Gebrauch gemacht. Sowohl die Bundesrechtsanwaltskammer als auch der Deutsche Anwaltverein e.V. halten die Verfassungsbeschwerde für begründet.
4. Die Akte des Verfahrens vor dem Amtsgericht lag vor.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b in Verbindung mit § 93b Satz 1 BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihr gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG statt. Ihre Annahme ist zur Durchsetzung der Berufsfreiheit des Beschwerdeführers (Art. 12 Abs. 1 GG) angezeigt.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Der Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seiner Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG.
a) Auslegung und Anwendung der Bestimmungen des einfachen Rechts durch die Fachgerichte können vom Bundesverfassungsgericht – abgesehen von Verstößen gegen das Willkürverbot – nur darauf überprüft werden, ob sie Auslegungsfehler enthalten, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der betroffenen Grundrechte, insbesondere vom Umfang ihres Schutzbereichs, beruhen (stRspr; vgl. BVerfGE 18, 85 ≪92 f.≫).
b) Das Oberlandesgericht hat bei seiner Auslegung des § 51 Abs. 1 Satz 5 RVG Bedeutung und Tragweite der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) des Beschwerdeführers verkannt. Es enthält ihm die von Verfassungs wegen gebotene Vergütung für seine Tätigkeit als Pflichtverteidiger vor und schränkt dadurch seine Berufsausübungsfreiheit unverhältnismäßig ein.
aa) Die Bestellung eines Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger ist eine besondere Form der Indienstnahme Privater zu öffentlichen Zwecken. In Strafsachen besonderen Umfangs, die die Arbeitskraft des Pflichtverteidigers für längere Zeit ausschließlich oder fast ausschließlich in Anspruch nehmen, ohne dass er sich dieser Belastung entziehen könnte, gewinnt die Höhe des Entgelts für den betroffenen Rechtsanwalt existenzielle Bedeutung. Das Grundrecht auf freie Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG) gebietet in besonders umfangreichen oder besonders schwierigen Verfahren, der Inanspruchnahme des Pflichtverteidigers Rechnung zu tragen und ihn entsprechend zu vergüten (vgl. BVerfGE 47, 285 ≪321 f.≫; 68, 237 ≪255≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. August 2005 – 2 BvR 896/05 –, NJW 2005, S. 3699). Die Grenze der Zumutbarkeit muss gewahrt bleiben, wenn der Anspruch des Pflichtverteidigers auf Auslagenerstattung im Interesse des Gemeinwohls an einer Einschränkung des Kostenrisikos begrenzt wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2008 – 2 BvR 1173/08 –, juris, Rn. 9).
Art. 12 Abs. 1 GG gebietet weiter, dem Pflichtverteidiger einen (angemessenen) Vorschuss zu zahlen, wenn das Strafverfahren lange dauert, die höhere Pauschgebühr mit Sicherheit zu erwarten ist und es für den Verteidiger unzumutbar ist, die Festsetzung der endgültigen Pauschgebühr abzuwarten (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. August 2005 – 2 BvR 896/05 –, a.a.O.).
bb) Die Bewilligung eines Vorschusses auf die Pauschgebühr für den Beschwerdeführer ist – gemessen an diesen Kriterien – verfassungsrechtlich geboten. Das Strafverfahren wird voraussichtlich lange Zeit dauern, die höhere Pauschgebühr ist mit Sicherheit zu erwarten, und dem Beschwerdeführer ist nicht zuzumuten, die Festsetzung der endgültigen Pauschgebühr abzuwarten.
(1) Es ist davon auszugehen, dass das Verfahren lange dauern wird. Nach dem Beschwerdevorbringen ist noch kein Hauptverhandlungstermin bestimmt worden. Die Zahl der Verhandlungstage ist ebenfalls ungewiss.
Diese Ungewissheiten dürfen sich entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts nicht zuungunsten des Beschwerdeführers auswirken. Denn es kann nicht zu seinen Lasten gehen, wenn das Verfahren über einen nicht unerheblichen Zeitraum – hier seit Zustellung der Anklage im Mai 2010 – keinen Fortgang nimmt und der weitere Verfahrensablauf nicht im Einzelnen prognostizierbar ist. Der Staat darf sich – wie zu Art. 19 Abs. 4 GG anerkannt ist – nicht zu Lasten des Beschwerdeführers auf Umstände berufen, die – wie die unterlassene Förderung des Verfahrens – im staatlichen Verantwortungsbereich liegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Dezember 2010 – 1 BvR 404/10 –, juris, Rn. 11; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Oktober 2003 – 1 BvR 901/03 –, NVwZ 2004, S. 334 ≪335≫; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. September 2009 – 1 BvR 1304/09 –, juris, Rn. 14).
(2) Es ist mit Sicherheit zu erwarten, dass der Beschwerdeführer eine Pauschvergütung erhalten wird.
Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG ist einem Pflichtverteidiger eine Pauschvergütung zu bewilligen, wenn ihm die gesetzlichen Gebühren wegen des besonderen Umfangs oder – alternativ – der besonderen Schwierigkeit des Verfahrens nicht zumutbar sind.
Würde der Beschwerdeführer die gesetzlichen Gebühren bekommen, erhielte er für seine bisherige Tätigkeit von etwa 410 Stunden für das Verfahren vor dem Amtsgericht lediglich eine Grundgebühr in Höhe von 132 EUR (Nr. 4100 RVG-VV) und eine Verfahrensgebühr in Höhe von 112 EUR (Nr. 4106 RVG-VV), insgesamt 244 EUR. Da die Grundgebühr und die Verfahrensgebühr des beigeordneten Rechtsanwalts als Festgebühren ausgestaltet sind, kann die besonders umfangreiche Tätigkeit des Beschwerdeführers nicht durch eine Erhöhung der gesetzlichen Gebühren berücksichtigt werden. Darüber hinaus könnte er noch für jeden Verhandlungstag eine Terminsgebühr in Höhe von 184 EUR beanspruchen (Nr. 4108 RVG-VV).
Dies ist ihm nicht zumutbar, da diese Vergütung in keinem Verhältnis zu seinen bis jetzt erbrachten umfangreichen Leistungen steht.
Für die Beantwortung der Frage, ob dem Beschwerdeführer zuzumuten ist, seine bislang erbrachten Leistungen nach den gesetzlichen Gebühren zu vergüten, kommt es nicht darauf an, wie viele Verhandlungstage zu erwarten sind und wie viele Terminsgebühren zu jeweils 184 EUR (Nr. 4108 RVG-VV) der Beschwerdeführer verdienen wird. Die Terminsgebühr soll nur die – noch zu erbringende – Tätigkeit des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung vergüten, nicht aber seine bereits erbrachten Leistungen außerhalb der Hauptverhandlung. Der Beschwerdeführer verlangt aber lediglich einen Vorschuss auf seine Pauschvergütung für die bereits erbrachten Leistungen; er verlangt keinen Vorschuss auf die Terminsgebühr.
Da die Prognose schon jetzt möglich ist, dass die gesetzlichen Gebühren die bisherige Tätigkeit des Beschwerdeführers in unzumutbarer Weise vergüten würden und er deshalb eine Pauschvergütung erhalten wird, kommt es entgegen der Argumentation des Oberlandesgerichts auch nicht darauf an, ob die Höhe der zu erwartenden Pauschgebühr zu einem späteren Zeitpunkt einfacher zu prognostizieren sein wird, weil sich dann die zu erwartende Höhe der Pauschvergütung insgesamt – einschließlich der Terminsgebühren – besser überblicken lasse. Bereits jetzt ist eine Schätzung möglich, weil der Umfang der bereits erbrachten Leistungen schon feststeht und als Schätzungsgrundlage dienen kann.
(3) Dem Beschwerdeführer ist nicht zuzumuten, abzuwarten, bis die Pauschvergütung nach Abschluss des Verfahrens festgesetzt wird.
Ob sich die Unzumutbarkeit allein schon daraus ergibt, dass der Beschwerdeführer zur ordnungsgemäßen Wahrnehmung seines Pflichtmandats in dem Verfahren vor dem Amtsgericht gezwungen war, umfangreiche Vorleistungen (ca. 410 Arbeitsstunden) zu erbringen, kann dahinstehen. Die Unzumutbarkeit ergibt sich jedenfalls daraus, dass die Zahlung eines angemessenen Vorschusses auf die Pauschvergütung erforderlich ist, um die durch die Übernahme des Pflichtverteidigermandats verursachte Existenzgefährdung abzuwenden; denn der Beschwerdeführer kann diese nicht in absehbarer Zeit aus eigener Kraft abwenden, ohne dass ihm dies vorzuwerfen wäre.
(a) Der Beschwerdeführer hat durch die ausgesprochen große Arbeitsbelastung aufgrund des Pflichtverteidigermandats erhebliche finanzielle Einbußen erlitten. Er hat detailliert dargelegt, dass sich seine Umsätze und sein Betriebsergebnis im Vergleich zu entprechenden Zeiträumen in den Vorjahren deutlich verringert haben, seit er das Pflichtverteidigermandat übernommen hatte. Seine Ausführungen genügen den Anforderungen an die für diese Prüfung erforderliche konkrete Gegenüberstellung der Einnahmen und Ausgaben seines Kanzleibetriebs (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Januar 2007 – 2 BvR 2592/06 –, NJW 2007, S. 1445).
Diese Verschlechterung der finanziellen Situation ist – was das Oberlandesgericht nicht berücksichtigt hat – für den Beschwerdeführer existenzgefährdend. Ihm drohen, wenn er den beantragten Vorschuss auf die Pauschvergütung nicht erhält, nicht nur gravierende finanzielle Nachteile, sondern auch der Widerruf der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft wegen Vermögensverfalls (§ 14 Abs. 2 Nr. 7 der Bundesrechtsanwaltsordnung ≪BRAO≫). Darüber hinaus sind seine Lebensgrundlagen und die seiner Familie gefährdet, wenn er den Vorschuss nicht erhält.
(b) Der Beschwerdeführer konnte diese finanziellen Einbußen nicht aus eigener Kraft abmildern. Zwei Kreditanfragen blieben erfolglos, die zweite sogar, obwohl eine andere Bank ihm die Übernahme einer Bürgschaft in Aussicht gestellt hatte.
Er konnte seine finanzielle Situation auch nicht mittels eines Vorschusses auf seine Pauschvergütung in dem umfangreichen Verfahren vor dem Landgericht verbessern, in dem er ebenfalls als Pflichtverteidiger beigeordnet ist. Auch insoweit hat der Beschwerdeführer noch keinen Vorschuss auf seine Pauschvergütung erhalten; sein Antrag ist noch nicht beschieden worden. Er hat lediglich eine Dokumentenpauschale und einen Vorschuss auf die gesetzliche Vergütung erhalten.
(c) Dem Beschwerdeführer ist nicht vorzuwerfen, dass er in eine existenzgefährdende Lage geraten ist. Anhaltspunkte dafür, dass die geringeren Einnahmen auch durch ein schlechtes Kanzleimanagement bedingt sind, liegen nicht vor. Seine Einnahmen haben sich nur deshalb verringert, weil er in der Zeit, als er die Pflichtverteidigermandate bearbeiten musste, weniger Mandate übernehmen und führen konnte als zuvor. Dagegen hatte er nach wie vor Ausgaben, da er weiterhin seinen Kanzleibetrieb aufrechterhalten musste.
(d) Nicht zu folgen ist der Ansicht des Oberlandesgerichts, der Beschwerdeführer könne sich jetzt, wenn das Verfahren ohnehin nicht betrieben werde, um neue Mandate bemühen und dadurch wieder Einnahmen erzielen.
Zwar kann der Beschwerdeführer dies in der Tat. Darauf kommt es indessen nicht an. Entscheidend ist, dass der Beschwerdeführer in der Zeit, in der er die Pflichtverteidigermandate bearbeiten musste, weniger Mandate als sonst bearbeiten und dadurch auch nur weniger Einnahmen erzielen konnte. Der Vorschuss ist ein Ausgleich dafür, dass der Pflichtverteidiger, während er das Pflichtverteidigermandat bearbeiten muss, keine oder nur unbedeutende Umsätze erzielen kann. Die Zeit, in der er die Pflichtverteidigermandate bearbeitete und deshalb weniger Mandate als sonst übernehmen und bearbeiten konnte, ist nicht nachholbar.
(e) Die Unzumutbarkeit, die Festsetzung der Pauschvergütung nach Abschluss des Verfahrens abzuwarten, ergibt sich des Weiteren daraus, dass ungewiss ist, wann das Verfahren vor dem Amtsgericht endet und wann die Pauschvergütung festgesetzt wird, der Beschwerdeführer sich aber jetzt schon in einer unverschuldeten existenzgefährdenden Lage befindet.
(f) Nach allem erscheint die Verweigerung eines Vorschusses auf eine zu erwartende Pauschgebühr für das Verfahren vor dem Amtsgericht im Lichte des Art. 12 Abs. 1 GG nicht mehr vertretbar. Der aus der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) folgende Grundsatz der angemessenen Vergütung der hoheitlich in Anspruch genommenen Privatperson gebietet es, dass der Staat durch die Zahlung eines Vorschusses auf die Pauschvergütung eine drohende Existenzgefährdung eines Pflichtverteidigers abwendet und ihn nicht auf eigene Anstrengungen verweist, wenn die Existenzgefährdung allein durch seine hohe Arbeitsbelastung als Pflichtverteidiger verursacht worden war. Der Staat darf den hoheitlich in Anspruch genommenen Pflichtverteidiger nicht sehenden Auges in eine existenzgefährdende Situation bringen, indem er ihm den Vorschuss auf die mit Sicherheit zu erwartende Pauschvergütung vorenthält und ihn auf eigene Anstrengungen zur Beseitigung der Existenzgefährdung verweist.
2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 28. Oktober 2010 ist gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, ohne dass es noch auf die weiter erhobenen Rügen ankommt. Die Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
4. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 16.000 EUR festgesetzt (§ 37 Abs. 2 RVG).
Unterschriften
Gaier, Paulus, Britz
Fundstellen
Haufe-Index 2765042 |
NJW 2011, 28 |
NJW 2011, 3079 |
JurBüro 2011, 585 |
ZAP 2011, 720 |
AnwBl 2011, 701 |
PStR 2011, 299 |
NJW-Spezial 2011, 505 |
RENOpraxis 2011, 177 |
RVGreport 2011, 378 |
StRR 2011, 327 |