Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslegung des Tatbestands der sexuellen Nötigung in der Begehungsalternative des Ausnutzens einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist (§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB).
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind beantwortet (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG); denn die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪24 ff.≫).
Die Rüge des Beschwerdeführers, die Auslegung des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB durch die angefochtenen Entscheidungen, wonach sich die Nötigung in der Vornahme der sexuellen Handlung gegen den Willen des Opfers erschöpfe, wenn sich dieses in einer schutzlosen Lage befinde und der Täter dies zur Tat ausnutze, verstoße gegen das Bestimmtheitsgebot, ist unbegründet.
1. Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Vorschrift verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen (vgl. BVerfGE 47, 109 ≪120≫; 71, 108 ≪114≫; 73, 206 ≪234≫; 92, 1 ≪12≫; 105, 135 ≪152 f.≫). Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten mit Strafe bedroht ist. Für die Rechtsprechung folgt aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit ein Verbot analoger Strafbegründung. Ausgeschlossen ist danach jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist sich dieser als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation (vgl. BVerfGE 64, 389 ≪393 f.≫; 71, 108 ≪114 ff.≫; 92, 1 ≪12≫). Im Übrigen ist es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, seine Auffassung von der zutreffenden oder überzeugenden Auslegung des einfachen Rechts an die Stelle derjenigen der Strafgerichte zu setzen (vgl. Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Dezember 2000 – 2 BvR 1290/99 –, NJW 2001, S. 1848 ≪1849 f.≫).
2. Die durch die angefochtenen Entscheidungen vorgenommene Auslegung der Vorschrift des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB, wonach sich die Nötigung in der Vornahme der sexuellen Handlung gegen den Willen des Opfers erschöpfe, wenn sich dieses in einer schutzlosen Lage befinde und der Täter dies zur Tat ausnutze, verstößt nicht gegen das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG.
Die hier in Rede stehende Begehungsalternative des Ausnutzens einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist (§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB), hat der Gesetzgeber mit dem 33. StrÄndG neu in die umgestaltete Vorschrift des § 177 Abs. 1 StGB aufgenommen. Dadurch bezweckte er die Schließung von Strafbarkeitslücken, die nach früherem Recht auftreten konnten, wenn das Opfer starr vor Schrecken oder aus Angst vor der Anwendung von Gewalt durch den Täter dessen sexuelle Handlungen über sich ergehen lässt, ohne dass Gewalt ausgeübt oder zumindest konkludent mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben gedroht wird. Es sollen auch Fälle erfasst werden, in denen das Opfer nur deshalb auf Widerstand verzichtet, weil es sich in einer hilflosen Lage befindet und Widerstand gegen den überlegenen Täter aussichtslos erscheint (vgl. BTDrucks 13/7324 S. 6). Der Gesetzgeber hat die Ausnutzung einer schutzlosen Lage zur Beugung des entgegenstehenden Willens des Opfers als selbständige Tatvariante neben Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 angesehen, welche eine zusätzliche Nötigungshandlung nicht voraussetzt. Dies ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien, in denen das Ausnutzen einer hilflosen Lage als “Tathandlung” und das “Erreichen” einer sexuellen Handlung unter Ausnutzung einer hilflosen Lage als Begehungsalternative neben dem “Erzwingen” der sexuellen Handlung mit Gewalt oder Drohung bezeichnet wird (BTDrucks 13/7663 S. 4/5; BTDrucks 13/9064 S. 13). Diese Zielsetzung lässt die Auslegung des Nötigungsbegriffs in den angefochtenen Entscheidungen in § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB zu.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers verliert der Tatbestand des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB dadurch auch nicht jegliche Konturen.
Die Auslegung, nach der der Nötigungsbegriff in § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB eine die Voraussetzungen des § 240 Abs. 1 StGB erfüllende Nötigungshandlung nicht verlangt (vgl. BGHSt 44, 228 ≪230≫; BGHSt 45, 253 ≪257 f.≫; BGH, NStZ 2002, S. 199 ≪200≫; BGH, NStZ-RR 2003, S. 42 ≪44≫; Frommel, in: Nomos Kommentar, StGB, § 177, Rn. 20 ff., 48; Laufhütte/Roggenbuck, in: Leipziger Kommentar, StGB, Nachtrag zu § 177, Rn. 2; a.A. Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, 26. Aufl., § 177, Rn. 8 ff.; Tröndle/Fischer, 51. Aufl., StGB, § 177, Rn. 17 f.; Fischer, NStZ 2000, S. 142 f.; ders. ZStW 112 (2000), S. 75 ≪87 ff.≫; kritisch auch Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 24. Aufl., § 177, Rn. 6a), überschreitet nicht den möglichen Wortsinn des Nötigungsbegriffs.
Nötigen bedeutet nach herrschender Meinung seinem Wortsinn nach, einem anderen ein von ihm nicht gewolltes Verhalten aufzuzwingen, ihn gegen seinen Willen zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen zu bestimmen (vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 51. Aufl., § 240 Rn. 4 m.w.N.). § 240 Abs. 1 StGB stellt das Nötigen nur bei Einsatz bestimmter, umschriebener Nötigungshandlungen unter Strafe. So definiert § 240 Abs. 1 StGB die Nötigung als mittels Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel erfolgender Willenszwang. Danach macht erst die tatbestandliche Verknüpfung mit den Tatmitteln Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel in § 240 Abs. 1 StGB das Nötigen zur strafbaren Nötigung. Dies lässt den Schluss zu, dass der Begriff des Nötigens im Kontext anderer Vorschriften in seinem Bedeutungsgehalt nicht mit einer Nötigung im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB gleichzusetzen, sondern ein weiterreichender Sinngehalt zu Grunde zu legen ist. Diese Ansicht wird zudem durch die Gesetzesfassung des § 121 Abs. 1 Nr. 1 StGB bestätigt (vgl. auch BGHSt 45, 253 ≪258 f.≫). In dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber durch einen auf § 240 Abs. 1 StGB hinweisenden Klammerzusatz ausdrücklich klargestellt, dass für die Gefangenenmeuterei nach § 121 Abs. 1 Nr. 1, Alt. 1 StGB eine die Voraussetzungen der Nötigung im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB erfüllende Handlung erforderlich ist (vgl. BTDrucks 7/550 S. 220).
Ebenso wenig gebietet es das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG, die Begehungsalternative des Ausnutzens einer schutzlosen Lage als zweiaktiges Delikt anzusehen mit der Folge, dass der Täter neben der sexuellen Handlung unter Ausnutzung der schutzlosen Lage gegen den Willen des Opfers eine darüber hinausgehende – auch von § 240 Abs. 1 StGB nicht notwendig erfasste – gesonderte Nötigungshandlung vornehmen müsse (so aber Graul, JR 2001, S. 117 ff.; kritisch auch Horn/Wolters, in: Systematischer Kommentar, StGB, § 177, Rn. 14a; a.A. BGHSt 45, 253 ≪257 f.≫). Der Wortlaut des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB stellt die Begehungsalternative des Nötigens unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage gleichrangig neben die Begehungsalternativen des Nötigens mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben, ohne eine gesonderte Nötigungshandlung zu benennen. Da in den Begehungsalternativen des § 177 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB sowie in anderen Tatbeständen eine Verknüpfung des Nötigungsbegriffs mit Zwangshandlungen, etwa Gewalt oder Drohung (§§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1, 108 Abs. 1, 1. und 2. Alt., 121 Abs. 1 Nr. 1, 239b, 240 Abs. 1, 253 Abs. 1 StGB) erfolgt, überschreitet die Auslegung, dass der Nötigungsbegriff als solcher eine gesonderte Nötigungshandlung nicht schon beinhaltet, noch nicht den möglichen Wortsinn des Nötigungsbegriffs. Das dem Nötigungsbegriff immanente “Aufzwingen”, also die Bestimmung des Opfers etwa zu einer Duldung gegen seinen Willen, kann in der sexuellen Handlung gegen den Willen des Opfers unter Ausnutzung einer Lage, in der Widerstand aussichtslos erscheint, gesehen werden.
Der auf den allgemeinen Wortsinn abstellenden weiten Auslegung des Nötigungsbegriffs durch die angefochtenen Entscheidungen steht schließlich die Gesetzessystematik nicht entgegen. Durch die den angefochtenen Entscheidungen zugrunde liegende Auslegung des Nötigungsbegriffs wird die Vorschrift des § 179 StGB (sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen) nicht hinfällig. Denn im Unterschied zu § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB erfasst § 179 StGB diejenigen Fälle, in denen eine Handlung gegen den Willen des Opfers nicht vorliegt (vgl. hierzu BTDrucks 13/7663 S. 4, 5; vgl. auch BTDrucks 13/8267 S. 4, 10 und BTDrucks 13/9064 S. 13). In dem Fehlen der Handlung gegen den Willen des Opfers findet auch die Unterschiedlichkeit der Strafandrohungen – Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bei § 177 Abs. 1 StGB gegenüber einem Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe bei § 179 Abs. 1 StGB – ihre Rechtfertigung (vgl. hierzu BGHSt 45, 253 ≪261≫).
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Osterloh, Mellinghoff
Fundstellen
Haufe-Index 1338552 |
NJW 2004, 3768 |
NStZ 2005, 30 |
NPA 2005, 0 |
StV 2005, 262 |
LL 2005, 183 |
NK 2005, 75 |
www.judicialis.de 2004 |