Verfahrensgang
OLG Köln (Beschluss vom 02.05.1997; Aktenzeichen 16 Wx 122/97) |
LG Köln (Beschluss vom 03.04.1997; Aktenzeichen 1 T 112/97) |
AG Köln (Beschluss vom 30.01.1997; Aktenzeichen 503 Gs 3644/96) |
AG Köln (Beschluss vom 03.11.1996; Aktenzeichen 503 Gs 3644/96) |
Tenor
Der Beschluß des Oberlandesgerichts Köln vom 2. Mai 1997 – 16 Wx 122/97 – und der Beschluß des Landgerichts Köln vom 3. April 1997 – 1 T 112/97 – verletzen Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Köln zurückverwiesen.
Die weitergehende Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Beschlüsse in einem Freiheitsentziehungsverfahren.
I.
Dem Beschwerdeführer wurde von Polizeibeamten ein Platzverweis erteilt, dem er nicht nachkam. Daraufhin wurde er in Gewahrsam genommen und dem Amtsrichter vorgeführt. Dieser ordnete unter Hinweis auf die §§ 34, 35 PolG NW die Fortdauer der Freiheitsentziehung bis 19.00 Uhr desselben Tages an. Den Beschluß des Amtsgerichts hob das Landgericht auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers auf und verwies die Sache an das Amtsgericht zurück, da der Beschluß keinen Sachverhalt wiedergebe, der irgendeine gesetzliche Voraussetzung erfüllen könne. Daraufhin stellte das Amtsgericht durch Beschluß mit nunmehr erweiterter Begründung erneut fest, daß die Ingewahrsamnahme am 3. November 1996 bis 19.00 Uhr zulässig gewesen sei.
Gegen diesen Beschluß legte der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde ein. Zu deren Begründung trug er vor, er habe sich auf städtischem Grund befunden und lediglich durch das Zeigen von Schildern sein Recht auf Meinungsäußerung wahrgenommen. Diese sofortige Beschwerde und die später erhobene sofortige weitere Beschwerde blieben ohne Erfolg, weil Landgericht und Oberlandesgericht die Ansicht vertraten, daß nach der Haftentlassung kein Rechtsschutzbedürfnis für ein Rechtsmittel mehr bestehe.
Mit der Verfassungsbeschwerde, die sich gegen die genannten Gerichtsbeschlüsse – mit Ausnahme des aufhebenden Beschlusses des Landgerichts – und gegen die Freiheitsentziehung durch die Polizei wendet, rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung der Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 5 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 und 103 Abs. 1 GG. Er macht unter anderem geltend: Für die Freiheitsentziehung habe es keine Rechtsgrundlage gegeben. Sie beruhe auf falschen tatsächlichen Grundlagen. Landgericht und Oberlandesgericht hätten ein Feststellungsinteresse zu Unrecht verneint, da mit weiteren Inhaftierungen in Zukunft zu rechnen sei.
Dem Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen ist Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden. Es hat von einer Stellungnahme abgesehen.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an (§ 93b BVerfGG), soweit sie sich gegen die im Rubrum zu a) und b) genannten Beschlüsse richtet; insoweit gibt sie der Verfassungsbeschwerde statt.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, soweit sie sich gegen die Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts richtet. In diesem Umfang ist sie auch offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die für diese Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG.
1. a) Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluß vom 30. April 1997 (BVerfGE 96, 27 ≪38 ff.≫) seine frühere Rechtsprechung, wonach Art. 19 Abs. 4 GG bei erledigten Grundrechtseingriffen in der Regel eine nachträgliche gerichtliche Prüfung durch die Fachgerichte nicht verlange, aufgegeben (vgl. auch Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Juni 1997 – 2 BvR 941/91 – EuGRZ 1997, 372 ff., vom 26. Juni 1997 – 2 BvR 126/91 – EuGRZ 1997, 374 ff. und vom 12. September 1997 – 2 BvR 176/96 – RdL 1997, 320 f.). Die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes verbietet es den Rechtsmittelgerichten, ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel ineffektiv zu machen und für den Beschwerdeführer “leerlaufen” lassen. Hiervon muß sich das Rechtsmittelgericht bei der Antwort auf die Frage leiten lassen, ob im jeweiligen Einzelfall für ein nach der Prozeßordnung statthaftes Rechtsmittel ein Rechtsschutzinteresse besteht. Mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, ist es zwar grundsätzlich vereinbar, wenn die Gerichte ein Rechtsschutzinteresse nur solange als gegeben ansehen, als ein gerichtliches Verfahren dazu dienen kann, eine gegenwärtige Beschwer auszuräumen, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff zu beseitigen. Darüber hinaus ist ein Rechtsschutzinteresse aber auch in Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe gegeben, in denen die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozeßordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann. Effektiver Grundrechtsschutz gebietet es in diesen Fällen, daß der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung des schwerwiegenden – wenn auch tatsächlich nicht mehr fortwirkenden – Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen. Die Funktionenteilung zwischen der Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit läßt es nicht zu, daß ein Beschwerdeführer, der von einem seiner Natur nach alsbald erledigten Eingriff schwerwiegend im Schutzbereich eines individuellen Grundrechts betroffen ist, erst und nur im Wege der Verfassungsbeschwerde effektiven Grundrechtsschutz einfordern kann. Tiefgreifende Grundrechtseingriffe kommen vor allem bei Anordnungen in Betracht, die das Grundgesetz – wie in den Fällen des Art. 13 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 2 und 3 – vorbeugend dem Richter vorbehalten hat.
b) Zu der genannten Fallgruppe gehört auch die Freiheitsentziehung nach § 35 Abs. 1 Nr. 3 PolG NW. Auch in derartigen Fällen ist die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung über ein Rechtsmittel in der von der Prozeßordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann. Freiheitsentziehungen zur Durchsetzung eines Platzverweises können ihrer Natur nach in der Regel nur ganz kurzfristig sein. Solche Freiheitsentziehungen stellen auch einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff dar, so daß im Einzelfall ein Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der beanstandeten Maßnahme bestehen kann.
2. Nach dem dargestellten Maßstab ist die Verfassungsbeschwerde begründet, soweit sie zur Entscheidung angenommen ist.
Landgericht und Oberlandesgericht haben in den angegriffenen Beschlüssen die Beschwerde des Beschwerdeführers unter Hinweis auf die Beendigung der Freiheitsentziehung für unbegründet gehalten. Auch mit seiner zusätzlichen Bemerkung, ein rechtliches Interesse an einer nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit des angefochtenen Beschlusses sei weder dargetan noch ersichtlich, trägt das Landgericht dem dargestellten verfassungsrechtlichen Maßstab nicht Rechnung. Landgericht und Oberlandesgericht haben damit den Anspruch des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.
3. Die Entscheidungen beruhen auf dem dargelegten Fehler. Es ist nach dem Vortrag des Beschwerdeführers nicht auszuschließen, daß sich die Freiheitsentziehung bei näherer Prüfung im Beschwerdeverfahren als rechtswidrig erweist. Die angegriffenen Beschlüsse sind daher aufzuheben, die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen.
4. Soweit die Verfassungsbeschwerde sich gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts und die Maßnahme der Polizei richtet, kann sie nicht zur Entscheidung angenommen werden. Insoweit ist sie nach dem Grundsatz der Subsidiarität unzulässig, da – wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt – eine Nachprüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung durch die Fachgerichte noch möglich ist.
5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Da der Beschwerdeführer sein mit der Verfassungsbeschwerde verfolgtes Rechtsschutzziel im wesentlichen erreicht hat, ist eine Auslagenerstattung in vollem Umfang angemessen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Sommer, Broß, Osterloh
Fundstellen