Entscheidungsstichwort (Thema)

Zum Verfahren nach dem Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches OLG (Zwischenurteil vom 11.11.1998; Aktenzeichen 15 UF 126/98)

AG Kiel (Zwischenurteil vom 12.06.1998; Aktenzeichen 58 F 182/97)

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein Verfahren nach dem Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKiEntÜ, BGBl II 1990, S. 206).

I.

…1. Der Beschwerdeführer ist französischer Staatsangehöriger und seit dem 23. April 1988 mit einer Deutschen, der Gegnerin des Ausgangsverfahrens, verheiratet. Aus der in Frankreich geschlossenen Ehe sind zwei in Frankreich am 24. September 1988 und am 10. Februar 1991 geborene Söhne hervorgegangen. Beide Kinder haben sowohl die deutsche als auch die französische Staatsangehörigkeit. Die Familie hat ununterbrochen bis 10. März 1997 unter der Anschrift des Beschwerdeführers in Frankreich gelebt. Am 10. März L997 verließ die Kindesmutter die eheliche Wohnung mit den Kindern und zog zunächst nach Toulouse, wo sie einen Scheidungsantrag stellte und am 11. März 1997 eine Verfügung erwirkte, nach der ihr und den Kindern der vom Vater getrennte Aufenthalt in Toulouse vorläufig erlaubt wurde.

…Die Kindesmutter verzog wenig später von Toulouse nach Kiel, wo sie am 27. März 1997 einen Beschluß erwirkte, der ihr das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder übertrug. Seit Herbst 1997 wohnt sie mit den Kindern in Niedersachsen. Am 7. Juli 1997 stellte der Beschwerdeführer beim Amtsgericht – Familiengericht – einen Antrag auf sofortige Rückführung der Kinder nach Art. 12 HKiEntÜ. Dieser Antrag wurde mit Beschluß vom 12. Juni 1998 zurückgewiesen. Die vom Beschwerdeführer eingelegte sofortige Beschwerde wurde am 11. November 1998 ebenfalls zurückgewiesen. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen diese ablehnenden Entscheidungen.

…2. Das Oberlandesgericht geht davon aus, daß die Mutter durch den Umzug mit den Kindern von Toulouse nach Deutschland gegen das Sorgerecht des Beschwerdeführers verstoßen hat. Einer Rückführung der Kinder stehe aber die Regelung des Art. 13 HKiEntÜ entgegen. Nach Art. 13 Abs. 2 HKiEntÜ könne das Gericht von der Anordnung der Rückgabe des Kindes absehen, wenn festgestellt wird, daß sich das Kind der Rückgabe widersetze und daß es ein Alter und eine Reife erreicht habe, angesichts deren es angebracht erscheine, seine Meinung zu berücksichtigen. Dazu müsse das Kind an freien Stücken und nicht erkennbar durch den entführenden Elternteil beeinflußt mit Nachdruck die Rückkehr in den Staat des gewöhnlichen Aufenthaltes ablehnen und sich dagegen in ungewöhnlichem Maße sträuben. Zudem müsse festgestellt werden, daß das Kind angesichts seines Alters und seiner Reife dies aufgrund einer verantwortungsbewußten Entscheidung tue.

…Nach der Überzeugung der liegen diese Voraussetzungen vor. Der Senat habe sich hiervon durch Anhörung der Kinder überzeugt. Der ältere Sohn habe die Rückkehr nach Frankreich bei der Anhörung vor dem Senat ebenso abgelehnt, wie zuvor schon wiederholt im erstinstanzlichen Verfahren. Beide Kinder hätten ihre Entscheidung, in Deutschland leben zu wollen, deutlich verbalisiert, anhand konkreter Begebenheiten aus dem früheren Familienleben begründet und ohne erkennbare Beeinflussung durch ihre Mutter getroffen.

…Wegen des engen Verhältnisses zwischen beiden Kindern sei für den jüngeren Sohn jeder Falls von einem Fall des Art. 13 Abs. 1 Buchstabe b HKiEntÜ auszugehen, weil ihn eine Trennung der Geschwister psychisch schwer belasten könnte.

…3. Das Amtsgericht hatte mit ähnlicher Begründung die Rückführung der Kinder ebenfalls abgelehnt.

…Im Verfahren vor dem Amtsgericht fand am 6. August 1997 eine mündliche Verhandlung über den Rückführungsantrag des Beschwerdeführers statt. In dieser Verhandlung entstand Unklarheit darüber, ob die Verfügung des Gerichts in Toulouse auf den in Toulouse angegebenen Wohnsitz beschränkt war. Das Amtsgericht verlangte deshalb vom Beschwerdeführer eine Bescheinigung über die Widerrechtlichkeit der Entführung nach Art. 15 HKiEntÜ. Der Beschwerdeführer hat eine entsprechende Bescheinigung mit Datum vom 8. Januar 1998 zunächst mit Schriftsatz vom 19. Februar 1998 im französischen Original, anschließend mit Schriftsatz vom 2. März 1998 in deutscher Übersetzung vorgelegt. Im Schriftsatz vom 19. Februar 1998 wurde eine ergänzende Stellungnahme des Gerichts in Toulouse angekündigt, die mit Schriftsatz vom 19. Mai 1998 vorgelegt wurde. Am 12. Juni 1998 entschied das Amtsgericht gegen eine Rückgabe der Kinder.

II.

…Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 6 Abs. 2, Art. 3 Abs. 2 und Art. 103 Abs. 1 GG.

…1. Indem die angegriffenen Entscheidungen die Rückführung der Kinder ablehnten, verletzten sie das Elternrecht des Beschwerdeführers. Ein elterlich gleichrangiges Zusammenleben und eine Erziehung der Kinder in Ausübung der umfassenden Verantwortung für ihre Lebens- und Entwicklungsbedingungen sei dem Beschwerdeführer nunmehr verwehrt.

…Eine Einschränkung des Elterngrundrechts des Beschwerdeführers sei auch nicht durch Ausübung des staatlichen Wächteramts in Form der ergangenen Entscheidungen angezeigt. Da nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die sofortige Rückführung der Kinder in das Herkunftsland zur Herbeiführung etwaiger richterlicher Entscheidungen dortiger Gerichte geboten sei und dem Kindeswohl am ehesten entspreche, stimmten vorliegend das Elterninteresse des Beschwerdeführers und die Anforderungen des Kindeswohls eine sofortige Rückführung überein.

…Die Anwendung des Art. 13 Abs. 2 HKiEntÜ durch das Oberlandesgericht sei mit Sinn und Zweck der Vorschrift nicht vereinbar und führe deshalb zu einer Verletzung der Grundrechte des Beschwerdeführers. Schon im Hinblick auf das Alter der beiden Kinder komme eine Ausnahme nach Art. 13 Abs. 2 HKiEntÜ nicht in Betracht. Die Denkschrift zum Abkommen gehe von einem Alter von 15 Jahren, Autoren in der Literatur von 14 und 16 Jahren als Anhaltspunkten aus.

…2. In der überlangen Verfahrensdauer liege ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot des HKiEntÜ und damit auch gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Sowohl das Amtsgericht wie das Oberlandesgericht hätten verkannt, daß das HKiEntÜ ein entformalisiertes Schnellverfahren mit Pauschalierung des Kindeswohls darstelle, mit dem verhindert werden soll. daß rechtswidrige Entscheidungen durch Zeitablauf perpetuiert werden.

III.

…Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ihr weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt noch die Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 BVerfGG).

…1. Die hier aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen des Haager Kindesentführungsübereinkommens sind seit der Entscheidung des Zweiten Senats der Bundesverfassungsgerichts vom 29. Oktober 1998 (EuGRZ 1998, S. 612) geklärt.

…2. Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt.

…a) Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts sind Sache der Fachgerichte. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet nur die Verletzung von Verfassungsrecht. Die zur Überprüfung der Anwendung des einfachen Rechts durch die Fachgerichte entwickelten Maßstäbe gelten in entsprechender Weise für das Völkervertragsrecht (vgl. BVerfGE 94, 315 ≪328≫; vgl. auch BVerfGE 58, 1 ≪34≫; 59, 63 ≪89≫).

…b) Nach diesem Maßstab verletzt die Entscheidung des Oberlandesgerichts das Elternrecht des Beschwerdeführers aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht.

…aa) Der Schutz des Kindes vor Entführung steht im Schnittpunkt verschiedener Grundrechtspositionen sowohl des Kindes als auch beider Elternteile aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 GG sowie aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG (vgl. BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, Beschluß vom 18. Juli 1997 - 2 BvR 1126/97 -, FamRZ 1997, S. 1269).

…bb) Das Wohl des Kindes bildet den Richtpunkt für den staatlichen Schutzauftrag nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG. Bei einer Interessenkollision zwischen Eltern und Kind ist das Kindeswohl der bestimmende Maßstab (vgl. BVerfGE 37, 217 ≪252≫; 56, 363 ≪383≫; 68, 176 ≪188≫; 75, 201 ≪218≫). Das Haager Kindesentführungsübereinkommen gewährleistet die Beachtung des Kindeswohls im Zusammenspiel von Rückführung als Regelfall und Ausnahmen nach Art. 13 und Art. 20 HKiEntÜ (BVerfG, Beschluß des Zweiten Senats vom 29. Oktober 1998 - BvR 1206/98 -, EuGRZ 1998, S. 612 ≪615≫).

…Neben Art. 13 Abs. 1 Buchstabe b HKiEntÜ, der die Rückführung des Kindes dann ausschließt, wenn sie mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperliche oder seelischen Schadens für das Kind verbunden wäre oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage brächte, sichert Art. 13 Abs. 2 HKiEntÜ das Kindeswohl, indem die Vorschrift es ermöglicht, von der Rückführung abzusehen, wenn festgestellt wird, daß sich das Kind der Rückgabe widersetzt und daß es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesicht deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen.

…Wegen des verfassungsrechtlichen Vorrangs das Kindeswohls bei einer Kollision zwischen Eltern und Kindesinteressen ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß eine Rückführung des Kindes unterbleibt, wenn die Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 2 HKiEntÜ vorliegen, weil die Berücksichtigung des Willens des Kindes in diesen Fällen den Kindeswohl dient.

…cc) Auch die Anwendung von Art. 13 Abs. 2 HKiEntÜ im konkreten Fall durch das Oberlandesgericht ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Die Vorschrift enthält keine starre Altersgrenze im Sinne eines Mindestalters für die Berücksichtigung des Willens des Kindes. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers geht das Abkommen auch nicht von einem Alter von etwa 15 Jahren aus. Aus der Denkschrift zum Abkommen ergibt sich vielmehr, daß die Entscheidung über das Alter den zuständigen nationalen Behörden überlassen werden sollte (vgl. BTDrucks 11/5314, S. 42, Rn. 30).

…Angesichts der Tatsache, daß das Abkommen nur auf Kinder anwendbar ist, die das 16. Lebens Jahr noch nicht vollendet haben (Art. 4 HKiEntÜ), erschiene es eine unangemessene Beschränkung von Art. 13 Abs. 2 HKiEntÜ, wenn man die Vorschrift erst ab einem Alter von 15 Jahren berücksichtigen würde. Mit seiner Entscheidung bewegt sich das Oberlandesgericht im Rahmen der sonstigen Rechtsprechung deutscher Gerichte zu Art. 13 Abs. 2 HKiEntÜ (vgl. die Nachweise bei Bach, Das Haager Kindesentführungsübereinkommen in der Praxis, FamRZ 1997, S. 1051 ≪1057, En 86≫). Darüber hinaus hat Sich das Oberlandesgericht insoweit auf den persönlichen Eindruck, den es bei der Anhörung der Kinder gewonnen hat, gestützt und deren Aussagen im einzelnen gewürdigt. Verfassungsverstöße sind hierin nicht zu erkennen.

…c) Trotz der ungewöhnlich langen Verfahrensdauer wird der Beschwerdeführer nicht in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Dieses bildet den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab. Die Bezeichnung eines anderen Grundrechts ist unschädlich, weil die genaue Bezeichnung des als verletzt gerügten Grundrechts nach § 92 BVerfGG nicht unbedingt erforderlich ist. Mit der Rüge der überlangen Verfahrensdauer hat der Beschwerdeführer der Sache nach einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG gerügt (vgl. BVerfGE 84, 366 ≪369≫).

…aa) Art. 19 Abs. 4 GG eröffnet den Rechtsweg gegen jede behauptete Verletzung subjektiver Rechte durch ein Verhalten der öffentlichen Gewalt, garantiert gerichtlichen Rechtsschutz mithin sowohl dann, wenn jemand geltend macht, durch die öffentliche Gewalt mittels einer belastenden Maßnahme in seinen Rechten verletzt zu sein – „Anfechtungssachen” –, als auch bei der Unterlassung oder Ablehnung einer beantragten Amtshandlung – „Vornahmesachen” – (vgl. BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, Beschluß vom 16. August 1994 - 2 BvR 2171/93 -, Umdruck, S. 3 f.). Wirksamer Rechtsschutz bedeutet Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Die Angemessenheit der Dauer des Verfahrens ist nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen (vgl. BVerfGE 55, 349 ≪369≫).

…bb) Bei Verfahren nach dem HKiEntÜ ergibt sich die besondere Eilbedürftigkeit sowohl aus der Bestimmung des Art. 11 HKiEntÜ als auch aus der Natur des Rückführungsverfahrens. Eine erhebliche Verzögerung der Rückführungsentscheidung führt zu einer Integration der Kinder am neuen Aufenthaltsort. Mit fortschreitender Zeit läßt sich eine Rückführung immer weniger mit dem Kindeswohl vereinbaren. Das HKiEntÜ ist deshalb auf größtmögliche Beschleunigung des Rückführungsverfahrens ausgerichtet. Art. 11 Abs. 1 HKiEntÜ verlangt, daß über einen Rückführungsantrag mit der „gebotenen Eilt” entschieden wird. Nach Art. 2 HKiEntÜ wenden die Vertrags Staaten „ihre schnellstmöglichen Verfahren an”. Aus Art. 11 Abs. 2 HKiEntÜ, der nach Ablauf von sechs Wochen dem Antragsteller die Möglichkeit gibt, über die Gründe der Verzögerung informiert zu werden, läßt sich schließen, daß das Abkommen im Regel fall eine erstinstanzliche Entscheidung innerhalb von sechs Wochen für wünschenswert hält (vgl. BTDrucks 11/5314, S. 54, Rn. 105).

…cc) Im vorliegenden Verfahren ist die Verfahrensdauer von etwa elf Monaten bis zur erstinstanzlichen Entscheidung mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar, weil die Verzögerung ihre Ursache nicht im Verantwortungsbereich des Amtsgerichts hat. Das Amtsgericht hat das Verfahren zügig betrieben und für den 6. August 1997 die mündliche Verhandlung anberaumt. In dieser Verhandlung verlangte es wegen der Zweifel am Umfang des der Mutter in Toulouse übertragenen Aufenthaltsbestimmungsrechts eine Widerrechtlichkeitsbescheinigung. Art. 15 HKiEntÜ sieht ausdrücklich die Möglichkeit vor, daß die Rückführung der Kinder von der Vorlage einer solchen Bescheinigung abhängig gemacht wird. Ein entsprechendes Schreiben konnte erst Mitte Mai 1998 vollständig vorgelegt werden. Das Amtsgericht hat die Sache dann zeitnah, nämlich etwa einen Monat später, entschieden. Angesichts der Tatsache, daß von den elf Monaten zwischen Antragstellung und Entscheidung in der ersten Instanz neun Monate der verzögerten Vorlage der Widerrechtlichkeitsbescheinigung zuzuschreiben sind, kann die Dauer des amtsgerichtlichen Verfahrens keinen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG begründen.

…3. Im übrigen wird von einer Begründung abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Limbach, Kirchhof, Jentsch

 

Fundstellen

Haufe-Index 543527

NJW 1999, 3622

FamRZ 1999, 1053

IPRax 2000, 224

ZfJ 2000, 69

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