Verfahrensgang
OLG Zweibrücken (Beschluss vom 23.12.1997; Aktenzeichen 1 BL 75-76/97) |
Tenor
Der Beschluß des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 23. Dezember 1997 – 1 BL 75-76/97 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben, soweit der Beschwerdeführer betroffen ist. Die Sache wird im Umfang ihrer Aufhebung an einen anderen Senat des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken zurückverwiesen.
Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer die im Verfassungsbeschwerde-Verfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft (§§ 121, 122 StPO).
A.
I.
1. Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 14. März 1997 aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Frankenthal (Pfalz) ununterbrochen in Untersuchungshaft. Ihm werden mehrere Straftaten des Betrugs (§ 263 StGB) zur Last gelegt.
2. Mit Schriftsatz vom 15. Dezember 1997 nahm der Verteidiger des Beschwerdeführers im Verfahren der zweiten besonderen Haftprüfung gemäß § 121, 122 StPO ausführlich Stellung. Darin suchte er mit umfangreichen Ausführungen die Annahme des Haftgrundes der Fluchtgefahr zu entkräften. Weiterhin rügte er Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen; eine weitere Fortdauer der Untersuchungshaft sei auch unverhältnismäßig.
Das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken ordnete mit Beschluß vom 23. Dezember 1997 die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Zur Begründung führte der Senat aus, es bestehe weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr, der vorläufig mit weniger einschneidenden Maßnahmen als dem Vollzug der Untersuchungshaft nicht ausgeräumt werden könne. Der außerordentliche Umfang der erforderlichen Ermittlungen habe eine Anklage noch nicht zugelassen (§ 121 Abs. 1 StPO). Das Verfahren sei bisher jedoch in dem gebotenen Maße gefördert worden.
II.
Mit seiner rechtzeitig eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch den Beschluß des Pfälzischen Oberlandesgerichtes vom 23. Dezember 1997. Die Abwägung zwischen dem Strafverfolgungsinteresse des Staates und dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten sei nicht vorgenommen worden. Soweit der Senat ausgeführt habe, daß “der außerordentliche Umfang der erforderlichen Ermittlungen eine Anklage noch nicht zugelassen habe”, habe er damit lediglich den Gesetzeswortlaut des § 121 Abs. 1 StPO wiedergegeben. Die Voraussetzungen einer Rechtfertigung der Fortdauer der Untersuchungshaft seien nicht erwähnt worden. Es werde auch nicht gesagt, aus welchen Gründen ein außerordentlicher Umfang der erforderlichen Ermittlungen gegeben sein solle. Zur Frage der Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft seien Ausführungen überhaupt nicht gemacht worden. Trotz entsprechender Rüge sei unzutreffend und ohne Begründung behauptet worden, daß das Verfahren bisher in dem “gebotenen Maße” gefördert worden sei.
III.
Das Justizministerium des Landes Rheinland-Pfalz hat sich zur Verfassungsbeschwerde geäußert.
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist auch offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 BVerfGG.
I.
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG garantiert die Freiheit der Person. In diesem Freiheitsgrundrecht ist das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot angesiedelt (vgl. BVerfGE 46, 194 ≪195≫ m.w.N.). Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb in ständiger Rechtsprechung betont, daß der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten ist (vgl. BVerfGE 19, 342 ≪347≫; 20, 45 ≪49 f.≫) und sich sein Gewicht gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößern kann (vgl. BVerfGE 36, 264 ≪270≫) und regelmäßig vergrößern wird (vgl. BVerfGE 53, 152 ≪158 f.≫). Das bedeutet, daß ein Eingriff in die Freiheit nur hinzunehmen ist, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als durch die vorläufige Inhaftierung des Verdächtigen (vgl. BVerfGE 19, 342 ≪347 f.≫; 20, 45 ≪49≫). Auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe setzt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer Grenzen. Dem trägt § 121 Abs. 1 StPO insoweit Rechnung, als der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zugelassen haben und die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO läßt nur in begrenztem Umfang eine Fortdauer der Untersuchungshaft zu und ist eng auszulegen (vgl. BVerfGE 20, 45 ≪50≫; 36, 264 ≪270 f.≫). Welche besondere Bedeutung der Gesetzgeber der Entscheidung über die Erstreckung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus beimißt, ergibt sich auch daraus, daß er diese Entscheidung den Oberlandesgerichten übertragen hat.
II.
Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebenden Anforderungen an eine nach § 121 Abs. 1 StPO zu treffende Entscheidung wird der angegriffene Beschluß des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 23. Dezember 1997 nicht gerecht.
Die durch das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gebotene Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des noch nicht angeklagten Beschwerdeführers mit den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen wurde nicht vorgenommen. Darüber hinaus fehlt es an der Substantiierung des in § 121 Abs. 1 StPO geforderten wichtigen Grundes. Weiterhin enthält sich der Beschluß jeglicher Dar- und Feststellung, daß der angenommene wichtige Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO auch die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigt. Zudem ist die Frage der Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft (§ 120 Abs. 1 StPO) nicht erörtert worden, vielmehr will der Senat diesem Gesichtspunkt erst im weiteren Verlauf besondere Bedeutung beimessen.
Da die Verfassungsbeschwerde schon aus diesem Grund offensichtlich begründet ist, bedarf es nicht der Entscheidung, ob der Beschluß auch im übrigen verfassungsrechtlich zu beanstanden ist.
III.
Der angegriffene Beschluß des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken war gemäß §§ 93c Abs. 2, 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, soweit er den Beschwerdeführer betraf, und die Sache an einen anderen Senat des Oberlandesgerichts zurückzuverweisen. Das Oberlandesgericht wird nunmehr unverzüglich unter Beachtung der dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen erneut darüber zu entscheiden haben, ob die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO für eine Aufrechterhaltung des Vollzugs der Untersuchungshaft erfüllt sind. Anderenfalls wird es den Haftbefehl aufzuheben oder jedenfalls außer Vollzug zu setzen haben.
IV.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers im Verfassungsbeschwerde-Verfahren beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Graßhof, Kirchhof
Fundstellen
Haufe-Index 1276287 |
StV 1998, 557 |