Verfahrensgang
OLG Köln (Urteil vom 07.10.1997; Aktenzeichen 24 U 69/97) |
Tenor
Das Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom 7. Oktober 1997 – 24 U 69/97 – verletzt Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist erledigt.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Zurückweisung verspäteter Beweisanträge in einem Zivilprozeß.
I.
Der Kläger des Ausgangsverfahrens, ein Steuerberater, begehrte teils aus eigenem, teils aus abgetretenem Recht vom Beschwerdeführer in dessen Eigenschaft als Mitglied einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts die Zahlung von Steuerberaterhonoraren in Höhe von 26.105,35 DM nebst Zinsen. Gegen den vom Amtsgericht Euskirchen am 29. Dezember 1995 erlassenen Mahnbescheid hat der Beschwerdeführer Widerspruch eingelegt. Dabei ist streitig, ob der Widerspruch nur wegen der Zinsen und Kosten oder auch gegen die Hauptforderung eingelegt worden ist. Der Beschwerdeführer hat gegen den vom Amtsgericht Euskirchen wegen der Hauptforderung erlassenen, ihm am 12. Februar 1996 zugestellten Vollstreckungsbescheid Einspruch eingelegt. Wann dieser beim Amtsgericht Euskirchen eingegangen ist, ist aus den Akten nicht ersichtlich, da sich das Einspruchsschreiben nicht bei den Akten befindet. Aus dem Abgabevermerk vom 29. Februar 1996 läßt sich nur entnehmen, daß der Einspruch an diesem Tage dem Rechtspfleger beim Amtsgericht Euskirchen vorgelegen hat. Nach Abgabe des Verfahrens an das Landgericht Bonn ist gegen den Beschwerdeführer zunächst ein Versäumnisurteil ergangen, wogegen er Einspruch eingelegt hat. Nachfolgend wies das Landgericht Bonn die Klage mit Urteil vom 28. Februar 1997 ab. Zur Begründung führte es aus, der Beschwerdeführer habe fristgerecht Einspruch gegen das Versäumnisurteil eingelegt. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Zahlung der Steuerberaterhonorare, ein Steuerberatungsverhältnis habe weder zu dem Beschwerdeführer noch zu der Gesellschaft bürgerlichen Rechts bestanden. Gegen dieses Urteil legte der Kläger Berufung ein, bei deren Begründung er die prozessuale Rechtslage eingehend erörterte und insbesondere auf die Beweislast des Beschwerdeführers für die Rechtzeitigkeit des Einspruchs gegen den Vollstreckungsbescheid hinwies. Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer hat für seine bereits im Verfahren vor dem Landgericht vorgetragene Behauptung, er habe das Einspruchsschreiben persönlich bereits am 23. Februar 1996 beim Amtsgericht Euskirchen abgegeben, erst in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht Köln am 16. September 1997 Beweis durch Benennung einer Zeugin sowie durch das Angebot der Vorlage seines Fahrtenbuchs angeboten.
Das Oberlandesgericht änderte mit Urteil vom 7. Oktober 1997 das Urteil des Landgerichts Bonn dahin ab, daß der Einspruch gegen den Vollstreckungsbescheid des Amtsgerichts Euskirchen vom 1. Februar 1996 als unzulässig verworfen wurde, soweit er sich gegen die Verurteilung zur Zahlung der Hauptsumme von 26.105,35 DM richtete. Zur Begründung führte es aus, der Beschwerdeführer habe nicht den ihm obliegenden Nachweis geführt, daß er gegen den Vollstreckungsbescheid rechtzeitig Einspruch eingelegt habe. Dieser Einspruch hätte gemäß §§ 700 Abs. 1, 339 Abs. 1 ZPO spätestens am 26. Februar 1996 beim Amtsgericht Euskirchen eingegangen sein müssen. Es lasse sich nicht ausschließen, daß das Einspruchsschreiben dort erst am 27. oder 28. Februar 1996 und damit verspätet eingegangen sei. Für seine Behauptung, er habe das Einspruchsschreiben persönlich am 23. Februar 1996 beim Amtsgericht Euskirchen abgegeben, habe der Beschwerdeführer zwar Beweis angeboten, diese Beweisangebote seien jedoch gemäß §§ 523, 296, 282 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen. Eine Vernehmung der – im Verhandlungstermin vor dem Oberlandesgericht – nicht präsenten Zeugin hätte zu einer Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits geführt. Die verspäteten Beweisangebote beruhten auf einer grob nachlässigen Prozeßführung. Der Vortrag des Klägers in seiner Berufungsbegründung zur prozessualen Rechtslage hätte dem Beschwerdeführer bei Beachtung auch nur geringster Sorgfalt Anlaß geben müssen, die Zeugin bereits in der Berufungserwiderung zu benennen. Das Berufungsgericht hätte sie dann durch eine vorbereitende Maßnahme zum Verhandlungstermin geladen.
II.
1. Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen das Urteil des Oberlandesgerichts. Er rügt die Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren und effektiven Rechtsschutz sowie auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 103 Abs. 1 GG). Das Berufungsgericht habe zum einen versäumt, vor der mündlichen Verhandlung darauf hinzuweisen, daß es von der Rechtsauffassung des Landgerichts zur Frage der Beweislast für die Rechtzeitigkeit des Einspruchs gegen den Vollstreckungsbescheid abweichen wolle. Die aufgrund des unterlassenen Hinweises erst in der Berufungsverhandlung erfolgten Beweisangebote habe es zurückgewiesen ohne zu berücksichtigen, daß die fehlerhafte Aktenführung des Amtsgerichts Euskirchen dem Beschwerdeführer nicht zur Last gelegt werden könne. Die Gerichtsakte enthalte weder das Einspruchsschreiben vom 23. Februar 1996 noch lasse sich aus ihr der Zeitpunkt des Eingangs dieses Schreibens bei Gericht entnehmen. Lediglich aus der Tatsache des Vorliegens einer Abgabeverfügung des Rechtspflegers vom 29. Februar 1996 könne geschlossen werden, daß das Einspruchsschreiben überhaupt beim Amtsgericht Euskirchen jedenfalls spätestens am 29. Februar 1996 eingegangen sei. Dadurch, daß das Einspruchsschreiben bei Gericht verloren gegangen sei, könne er die Rechtzeitigkeit der Einspruchserhebung durch den vom Amtsgericht auf dem Schreiben aufzubringenden Eingangsstempel nicht beweisen.
2. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an (§ 93b BVerfGG), weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist. Die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG liegen vor. Das Urteil des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG).
1. Nach Art. 103 Abs. 1 GG haben die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ein Recht darauf, sich vor Erlaß der Entscheidung zu dem zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern. Daraus folgt die Verpflichtung des Gerichts, Anträge und Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Erhebliche Beweisanträge muß das Gericht berücksichtigen (vgl. u.a. BVerfGE 60, 247 ≪249≫; 60, 250 ≪252≫; 69, 145 ≪148≫). Durch den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist der Gesetzgeber nicht gehindert, durch Präklusionsvorschriften auf eine Prozeßbeschleunigung hinzuwirken, sofern die betroffene Partei ausreichend Gelegenheit hatte, sich zu allen für sie wichtigen Punkten zur Sache zu äußern, dies aber aus von ihr zu vertretenen Gründen versäumt hat (vgl. u.a. BVerfGE 69, 145 ≪149≫). Bei der Beurteilung der Frage, ob die Anwendung von Präklusionsvorschiften durch das Gericht den vorstehend genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, müssen die Grundsätze rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung in die Prüfung einbezogen werden (vgl. BVerfGE 75, 183 ≪190≫).
2. Aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip wird als “allgemeines Prozeßgrundrecht” der Anspruch auf ein faires Verfahren abgeleitet (BVerfGE 57, 250 ≪275≫; 78, 123 ≪126≫). Der Richter muß das Verfahren so gestalten, wie die Parteien des Zivilprozesses es von ihm erwarten dürfen: Er darf sich nicht widersprüchlich verhalten (BVerfGE 69, 381 ≪387≫), insbesondere aber darf er aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile für die Beteiligten ableiten (BVerfGE 51, 188 ≪192≫; 60, 1 ≪6≫; 75, 183 ≪190≫) und er ist allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (BVerfGE 38, 105 ≪111 f.≫; 40, 95 ≪98 f.≫; 46, 202 ≪210≫). Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Fristversäumung vorliegt, ist zu beachten, daß der Anspruch auf ein faires Verfahren es verbietet, die Verantwortung für eine Säumnis auf den Bürger abzuwälzen, deren Ursache allein in der Sphäre des Gerichts liegt (vgl. BVerfGE 69, 381 ≪386≫). Allerdings kann das Gericht in diesem Zusammenhang auch berücksichtigen, daß eine Prozeßpartei mögliche und ihr zumutbare Anstrengungen unterlassen hat, von sich aus zum Wegfall des Hindernisses beizutragen, das der Wahrung der Frist gegenübersteht. Denn wer der Wahrnehmung seiner Rechte mit vermeidbarer Gleichgültigkeit gegenübersteht, kann den Schutz der Rechtsschutzgarantien nicht mit Erfolg einfordern (vgl. BVerfGE 42, 120 ≪126 f.≫).
3. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf dem Bürger das Versagen organisatorischer und betrieblicher Vorkehrungen, auf die er keinen Einfluß hat, nicht zur Last gelegt werden (zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, vgl. BVerfGE 41, 23 ≪26≫; BVerfGE 53, 25 ≪29≫ [Verzögerung der Postlaufzeit]; BVerfGE 62, 216 ≪221≫ [behördeninterner Abholdienst]). Das Gericht hat bei seiner Überzeugungsbildung, sofern die Erklärung des Antragstellers zum Zeitpunkt der Abgabe des Schriftstücks nicht von vornherein unglaubhaft ist, den Umstand in Rechnung zu stellen, daß es dem Antragsteller aus Gründen, die in der Sphäre einer Behörde liegen, auf deren Tätigkeit er keinen Einfluß hat, unmöglich ist, eine Tatsache glaubhaft zu machen, die bei fehlendem behördlichen Versagen unschwer aufzuklären wäre (vgl. Beschluß der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Februar 1995 – 2 BvR 1950/94 – NJW 1995, S. 2545; Beschluß der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 1997 – 2 BvR 842/96 – NJW 1997, S. 1770). Nichts anderes gilt, wenn im Zivilprozeß bei Gericht ein mit einem Eingangsstempel zu versehendes Schriftstück verloren geht, mit dem eine Frist gewahrt werden soll.
4. Danach hält das angegriffene Urteil verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht stand. Das Oberlandesgericht hat bei seiner Entscheidung Bedeutung und Tragweite des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs und auf ein faires Verfahren verkannt. Das Verfahrensrecht dient der Herbeiführung gesetzmäßiger und unter diesem Blickpunkt richtiger, aber darüber hinaus auch im Rahmen dieser Richtigkeit gerechter Entscheidungen (vgl. BVerfGE 69, 126 ≪140≫). Das Oberlandesgericht hat im Rahmen der nach §§ 523, 296 Abs. 2, 282 Abs. 1 ZPO getroffenen Ermessensentscheidung über die Zurückweisung der Beweisanträge den Umstand nicht berücksichtigt, daß das Verschwinden des Einspruchsschreibens aus den Akten des Amtsgerichts Euskirchen für den Beschwerdeführer erhebliche Nachteile in der Beweisführung mit sich gebracht hat. So war es ihm nicht möglich, mittels des auf dem Einspruchsschreiben vom Gericht anzubringenden Eingangsstempels den Nachweis der rechtzeitigen Einspruchserhebung zu führen. Der Grundsatz fairer Verfahrensführung verwehrte es dem Oberlandesgericht, die Verantwortung dafür auf den Beschwerdeführer abzuwälzen. Zwar entband diesen das Verschwinden des Einspruchsschreibens nicht von seiner Verpflichtung, im Rahmen des ihm Möglichen anderweitig Beweis anzutreten oder jedenfalls glaubhaft zu machen, rechtzeitig Einspruch eingelegt zu haben. Insoweit befand sich der Beschwerdeführer jedoch in einem Irrtum über die Beweislast, welcher für das Berufungsgericht deutlich erkennbar war. In seiner Berufungserwiderung mit Schriftsatz vom 24. Juli 1997 hat der Beschwerdeführer nämlich ausgeführt, daß es nicht zu seinen Lasten gehen könne, “wenn aufgrund offenkundig fehlerhafter Aktenführung das Eingangsdatum des Einspruchs nicht mehr festzustellen ist”. Damit hat der Beschwerdeführer deutlich zum Ausdruck gebracht, daß er sich nicht für beweispflichtig hält. Der Grundsatz der fairen Prozeßführung gebot dem Oberlandesgericht in Anbetracht der besonderen Umstände hier die Erteilung eines Hinweises auf die Beweislast. Dem steht nicht die Tatsache entgegen, daß der Beschwerdeführer anwaltlich vertreten war und der Zivilprozeß grundsätzlich unter der Parteiherrschaft und unter dem Beibringungsgrundsatz steht. Das Abhandenkommen des Einspruchsschreibens aus den Gerichtsakten begründete für das Oberlandesgericht eine gesteigerte Prozeßförderungs- und Fürsorgepflicht. Hätte das Oberlandesgericht gemäß § 139 Abs. 1 ZPO einen Hinweis auf die Beweislast rechtzeitig, d.h. vor der mündlichen Verhandlung erteilt, hätte eine Verfahrensverzögerung durch eine entsprechende Terminvorbereitung (Ladung der vom Beschwerdeführer benannten Zeugin) zudem vermieden werden können.
5. Die angegriffene Entscheidung beruht auch auf dem Verfassungsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, daß das Oberlandesgericht die Beweisanträge nicht als verspätet zurückgewiesen hätte, wenn es den verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien hinreichend Rechnung getragen hätte.
Das angegriffene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Mit dieser Entscheidung erledigt sich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Haas, Steiner
Fundstellen
Haufe-Index 1276177 |
NJW 1998, 2044 |
NVwZ 1998, 837 |
ZIP 1998, 881 |
SGb 1998, 531 |